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Ausgabe:

1902 Nr. 18

Spalte:

502-504

Autor/Hrsg.:

Wolfart, Karl

Titel/Untertitel:

Die Augsburger Reformation in den Jahren 1533/34 1902

Rezensent:

Köhler, Walther

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SOi

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 18.

502

orden nahegelegt, die wichtigften, noch ungedruckten
Documente, auch die des päpftlichen Archivs, der
Oeffentlichkeit zu übergeben. Für die Dominikaner an
der Univerlität Freiburg im Uechtland läge Bern nahe
genug; auch dürfte es dem Orden in Rom nicht an geeigneten
Männern fehlen, um zum Zwecke der vollen
Reftitution ihrer unglücklichen Ordensbrüder die römi-
fchen Archive genau zu durchforfchen.

Freilich wird auch dann noch vieles dunkel bleiben,
da der Procefs von den geiftlichen Richtern in fehr oberflächlicher
Weife geführt wurde. Augenfcheine, genaue
Feflftellung der einzelnen Vorgänge, Befchreibung der
einzelnen Oertlichkeiten, Auskunft über das Verbleiben
jener fonderbaren Schwebemafchine, welche Jetzer's
Phantafie vielleicht im Anfchlufs an die Himmtlfahrts-
mafchine fich zurecht gedacht hatte, Angaben über das
Gitter, welches die Mariencapelle vom Chor trennte,
wird man von diefen Acten nicht erwarten dürfen. Und
doch hängt z. B. an der Frage, ob das Gitter bis zum
Gewölbe reichte, alfo ein Ueberfteigen unmöglich machte,
die FYage, ob Jetzer bei feinem gröfsten Wunder, dem
angeblichen Fluge durch die Luft, einen Gehilfen hatte,
der ihm einen Nachfchlüffel verfchaffte. Einen Gehilfen
mufs er doch jedenfalls gehabt haben, um die Lichter
anzuzünden, wenn auch nicht um die Heiligen zu fpielen,
was ihm vielleicht durch Wechfel der Stimme felbft
möglich war.

Paulus denkt an den getauften Juden Lazarus als
Helfershelfer, aber diefer war, wie Steck nachweift, nur
kurze Zeit im Klofter. Steck felbft denkt an jene
Schweftern, bei denen fich Jetzer nach feiner Flucht verbarg
, und nimmt einen kleinen Roman zu Hilfe. Aber
dafür find doch nicht genug Anhaltspunkte vorhanden.
Mögen auch die Zuftände im Klofter nicht gerade ideal
gewefen fein, fo ift doch nicht anzunehmen, dafs unbekannte
weibliche Wefen vom Bruder Pförtner ohne
Weiteies, und zwar eine Zeit lang Nacht für Nacht,
eingeladen worden wären, nur um Jetzer aufzufuchen.
Noch undenkbarer ift, dafs ein folcher Verkehr nicht
ernfiiich zur Sprache gekommen wäre, als Jetzer's Betrug
mit der gekrönten Madonna entdeckt wurde, und vollends,
als es den vier Brüdern ans Leben ging.

Die Annahme Steck's, dafs Jetzer durch Autofug-
geftion fich in ekftatifche Zuftände verfetzt habe, dürfte
nicht nöthig fein. Wenn Jetzer einmal als Betrüger
anerkannt wird, dann wird auch fein Zuftand auf dem
Altare u. f. w. einfache Simulation fein. Wünfchens-
werth wäre eine gründliche Beleuchtung des mangelhaften
Gerichtsverfahrens der geiftlichen Richter durch
einen Juriften. Man würde hier die gleichzeitigen Klagen
über das ,krumme' geiftliche Recht beffer verftehen lei nen.
Ift doch die Elimination des dritten geiftlichen Richters
und die Befeitigung des Vertheidigers fchlechterdings
unverftändlich. Wieviel gerade letztere den vier Mönchen
fchadete, beweifen die Artikel, welche der Vertheidiger
zu Gunften der Mönche aufgeftellt hatte und Steck S. 41 ff.
veröffentlicht hat. Noch wünfchensvverther wäre eine eingehende
Unterfuchung des geiftigen Nährbodens, auf dem
der Betrug mit all feinen fonderbaren Erfcheinungtn und
dem wüften Aberglauben, der hier aufgerührt wurde, möglich
war. Was Steck hier bietet, ift dankenswert!). Man
darf wohl fagen: in Bern ift jene geiftige Welt, die auch
heute noch von Zeit zu Zeit in greller Beleuchtung auf
dem Boden ftrcng katholifchen Volkslebens heraustritt,
gerichtet worden. Mit Recht wehrt fich Steck aber dagegen
, dafs Paulus die Berner Obrigkeit für das Urtheil
verantwortlich macht, das doch vom geiftlichen Gericht
gefprochen wurde. Auch die päpftliche Politik darf hier
nicht angefprochen werden. Das Papftthum hatte ftets
die volle Unabhängigkeit vom Staate gefordert. 1509
galt es, diefe Unabhängigkeit zu beweifen. Ein anderes
Problem ift die Frage, ob denn das Mittelalter bei feinem
Abfchlufse die Kraft verloren hatte, in den Geiftern den

Glauben an den Sieg der Wahrheit zu erhalten. Es ift geradezu
unbegreiflich, dafs die vier unglücklichen Dominikaner
keinen Verfuch machen, auch unter den F'olterqualen
ihre Unfchuld zu behaupten, oder die durch die Folter ab-
geprefsten Geftändnifse zu widerrufen und lieber zu fterben,
als mit einer Unwahrheit in die Ewigkeit zu gehen. Unzählige
Opfer der Inquifition, oft arme geringe Leute,
haben unter der Folter trotz aller Bearbeitung durch
die Richter am Bekenntnifse der Wahrheit feftgehalten,
andere find wohl zeitweilig unter den entfetzlichen
Schmerzen mürbe geworden und haben zugeftanden,
was man ihnen abprefste, aber wie viele arme Frauen,
die z. B. der Hexerei- befchuldigt waren, haben alsbald
alle ihre Geftändnifse widerrufen, als fie vom Aufzug
loskamen; und die vier oberften und gelehrten Mönche
des Predigerklofters zu Bern fchweigen! Hier liegt eine
Frage vor, die bis in den innerften Lebensnerv der
mittelalterlichen Kirche hineingreift.

Nabern. G. Boffert.

Wolfart, Ffr. Dr. Karl, Die Augsburger Reformation in den
Jahren 1533,34. (Studien zur Gefchichte der Theologie
und der Kirche, herausgegeben von N. Bonwetfch
und R. Seeberg. Band VII. Heft 2.) Leipzig 1901,
Dietericb. (V, 159 S. gr. 8.) M. 3.50

Gelegentlich der Bcfprechung von Roth's Augsburger
Reformationsgefchichte in diefer Zeitfchrift (Nr. 8) fprach
Boffert den Wunfeh aus nach einer Fortfetzung bis zum
Kalenderftreit und der Gegenreformation. Einen Theil
diefer Fortfetzung liefert nunmehr Wolfart's, aus Kolde's
Schule hervorgegangene, und, wie fogleich bemerkt werden
foll, treffliche und exaete Arbeit. Sie will den ,officiellen
Uebergang der Stadt zur Reformation' (f. S. 1) darftellen,
der am 22. Juli 1534 erfolgte.

Man wird zunächft erftaunt fein über diefen fpaten
Termin, wo doch die Volksmajorität fchon feit Längerem
evangelifch, wo 1524 bereits das erfte evangelifche
Abendmahl gefeiert war und evangelifche Prädikanten
im Wefentlichen unbehelligt wirken konnten? Dtr Hinweis
auf Bauernkrieg und Täuferthum löft das Problem
nicht; gewifs haben fie den P'ortgang der reformatorifchen
Bewegung gehemmt, aber diefer Retardirungsprocefs hätte
überwunden werden können, wie er anderweitig uberwunden
wurde, wenn nicht andere Gründe hinzugekommen
wären. Zunächft kam die politifche Tradition Augsburgs
in Rechnung, deren Kaifertreue mit Karl V. nicht leicht
brechen liefe, zumal ein folchangefehenes Patriciergefchlecht
wie das der Fugger — und trotz der Zünfte überwiegt der
Einflufs des Patriciates — ebenfalls traditionell, ihm per-
fönlich verbunden war. Sodann mufs man fich die ex-
ponirte geographifche Lage der Stadt gegenwärtig halten;
vortrefflich geeignet zum Centralplatz für Reichsverfamm-
lungen, mufste gerade diefe centrale, leicht erreichbare
Lage vorfichtig machen einer Bewegung gegenüber, die
als reichsfeindlich galt, und deren Unterftützung zweifellos
fchwere politifche Verwickelungen (man denke an die
bayrifcheNachbarfchaft!) bringen mufste. Zudem gehörte
Augsburg dem Schwäbifchen Bunde an, war alfo in ge-
wiffer Weife politifch gebunden, und endlich, wenn alle
diefe Hindernifse glücklich befeitigt worden wären, erwies
fich der Antagonismus zwifchen Lutheranern und Zwingli-
anern in der Stadt felbft bei der bekannten Ablehnung
des Zwinglianismus durch Sachfen erfchwerend für die
Befchaffung eines ftarktn, evangelifchen Rückhaltes, ohne
den überhaupt nichts zu machen war.

So wird es erklärlich, dafs die Stadt trotz allen
Drängens der Prädicanten und trotzdem auch im Rathe
felbft, allen voran der Altbürgermeifter Ulrich Rehlinger,
Stimmen für die Reformation laut werden, of fiel eil
hin und her lavirt; gegen den Augsburger Reichstags-
abfehied von 1530 wagt fie einen verclaufulirten Proteft,