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Ausgabe:

1902

Spalte:

27-28

Autor/Hrsg.:

Wuttke, Adolf

Titel/Untertitel:

Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart 1902

Rezensent:

Kühn, Bernhard

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Wuttke, Prof. Dr. Adolf, Der deutsche Volksaberglaube der
Gegenwart. 3. Bearbeitung von Elard Hugo Meyer.
Berlin 1900, Wiegand & Grieben. (XVI, 536 S.
gr. 8.). M. 12.—

Es ift ein fehr ehrenvolles Zeugnifs, das bei dem
Erfcheinen diefer dritten Bearbeitung feines Werkes dem
Sammlerfleifs und der wiffenfchaftlichen Tüchtigkeit eines
deutfchen Gelehrten ausgeftellt wird, wenn von feiner
Arbeit, die fich auf einem fo fchwierigen Gebiete bewegt
hat, trotz aller Fortfehritte des naturwiffenfehaftlichen
und gefchichtlichen Forfchens nach vierzig Jahren noch
gerühmt werden kann, dafs fie nach wie vor die reichfte
Schatzkammer von Vorräthen diefer Art darftelle. Es
hat noch nie einen Forfcher gegeben, der nicht irgendwie
einmal wäre überholt worden, und auch Wuttke
mufs es fich gefallen laffen, dafs der neue Herausgeber
zu etlichen Einzelheiten fein Fragezeichen fetzt, etliche
Behauptungen etwas befchränkt, ja zu einem nicht un-
wefentlichen Stücke des unheimlichen Gefammtgebietes
eine gegenfätzliche Stellung einnimmt. Das Letztere ift
der Fall bei der Beurtheilung der Einflüfse, die auf die
Entwickelung des Hexenglaubens und des Hexenprocefses
eingewirkt haben. Meyer fchiebt hier der Kirche einen
weit gröfseren Theil der Schuld zu, als Wuttke es gethan
hatte. Aber was will das Alles befagen gegenüber der
rückhaltlofen Anerkennung, die dem Werke als einer Ge-
fammtleiftung von unfehätzbarem Verdienfte gezollt wird!
Wie grofs diefes Verdienft ift, und wie fauer es hat
erworben werden müffen, davon liefse fich eine Vor-
ftellung nur durch eine erfchöpfende Bezeichnung feines
ganzen Inhaltes gewinnen, woran angefichts der grofsen
Fülle desfelben hier nicht gedacht werden kann. Die
Fachmänner und die Gelehrten, die verwandte Gebiete
bearbeiten, kennen auch das Buch längft als ein ganz
unentbehrliches Hülfsmittel und fchätzen vor allem auch
das von Wuttke felbft mit peinlicher Genauigkeit herge-
ftellte Regifter, diefe mit grofser Selbftverleugnung vollzogene
mühfelige Arbeit, die aber doch nur der Gelehrte
felbft für feine Berufsgenoffen fo leiften konnte. Nicht
minder werthvoll ift für fie das Literaturverzeichnifs, das
Meyer vervollftändigt hat. Ihnen alfo brauchen wir weder
zu fagen, dafs dies Werk gefchrieben worden, noch anzukündigen
, dafs es nun in neuer Geftalt wieder zu haben
ift. Aber wir möchten an unferm befcheidenen Theile
gern mithelfen, dem werthvollen Buche den fehr wün-
fchenswerthen Weg zu bahnen in die Kirchen- und Pfarrbibliotheken
und in die Hand vieler Theologen, die
vielleicht recht belefene Leute find, aber doch von dem
Vorhandenfein eines folchen Werkes noch gar nichts
wiffen. Sie werden nach vollendetem Studium desfelben
nicht blofs ein ganz anderes Verftändnis bekommen für
manchen Brauch des chriftlichen Volkes, dem fie zu
dienen haben, fondern fich auch ein ganz anderes Urtheil
bilden über deffen religiöfes Denken und Thun, zu
gröfserer Schärfe oder zu gröfserer Milde. Für folche
Lefer wollen wir in aller Kürze ausfprechen, was fie in
dem Buche finden. Um deutfchen Volksaberglauben
handelt es fich, alfo um folche abergläubifche Vorftell-
ungen, die nicht einzelnen verwirrten Köpfen, fondern
ihren Grundideen nach und in irgend welcher Form dem
ganzen deutfchen Volke eigentümlich find. So findet
fich in allen deutfchen Stämmen die abergläubifche Vor-
ftellung, dafs der Freitag als folcher auf das Gefchick
des Menfchen einen Einflufs hat, und es ändert fich an
der Gültigkeit diefer Thatfache nichts dadurch, dafs viele
Einzelne fich von der Macht diefer Vorftellung mehr
oder minder befreit haben, und dafs der eine Stamm ihn
für den gröfsten Glückstag und der andere für den
gröfsten Unglückstag der Woche hält. Diefer Volksaberglaube
wird dargeftellt, foweit er in der Gegenwart
noch herrfcht, d. h. von der Mitte des vorigen Jahrhunderts
an; denn das Werk ift hervorgegangen aus einem

Vortrage Wuttke's auf dem Hamburger Kirchentage im
Jahre 1858 und ift 1860 zuerft erfchienen. Demnach wird
der Aberglaube altvergangener Zeiten nur infoweit be-
rückfichtigt, als das zum Verftändnifse des jetzt nachweislich
noch vorhandenen nöthig ift. Der erfte Theil
des Werkes handelt von Vorausfetznngen, Bedingungen
und Mitteln diefes Aberglaubens. Zur Voraussetzung
hat diefer den Aberglauben aller Zeiten, foweit derfelbe
das deutfehe Volk hat beeinfluffen können, alfo vor allem
den Aberglauben der heidnifchen Vorfahren, wie er aus
der Furcht vor Naturgewalten, Gottheiten, böfen Geiftern
und böfen Menfchen hervorgegangen ift und in zahllofen
Formen bis in die Gegenwart nachwirkt. Bedingung
diefes Aberglaubens ift die von der Natur felbft gegebene
oder durch die finnlich-geiftige Perfönlichkeit des
Menfchen gefchaffene Unterfcheidung zwifchen verfchie-
denen Zeiten, Orten, Zahlen und Dingen aller Art, die
durch den finnlichen Eindruck oder durch die Erinnerung
an früher Gefchehenes ihre befondere erfchreckende oder
lockende Bedeutung erlangen. Die fo von anderen ihres

j Gleichen unterfchiedenen Erfcheinungen verwendet nun
der Aberglaube als Mittel feiner Bethätigung, fei es dafs
das menfehliche Denken und Fühlen fich ihnen allein
gegenüberftellt und allerlei Thun und Treiben an diefe
Beziehung anknüpft, fei es dafs er fich noch befondere
Mittelsperfonen fucht, die als erklärte Zauberer oder
Hexen oder als Inhaber einer befonderen Gewalt über
diefe Erfcheinungen die Vermittelung zwifchen ihm und
dem abergläubifchem Menfchen übernehmen. So weift
Wuttke nach, was man im 19. Jahrhundert nicht für
möglich halten follte, dafs die Evangelifchen in Heffen
und in Preufsen zu allerhand zauberifchen Zwecken die
Hilfe katholifcher Geiftlicher in Anfpruch nehmen, weil
fie ihnen in diefer Beziehung Kräfte zutrauen, die den
evangelifchen abgehen. Wie nun die Anwendung diefer

] Mittel fich im Einzelnen vollzieht, das behandelt der
zweite Theil des Werkes, der begreiflicherweife den
gröfseren Umfang hat bei der Maffe des Stoffes, die
fich hier herandrängt. Wird doch Alles und Jedes berücksichtigt
, wie der Aberglaube die Zukunft zu erforfchen
und den Gang der zukünftigen Dinge zu beeinfluffen
fucht durch geheimnifsvolle Einwirkung auf andere
Menfchen und durch Gewinnung oder Bekämpfung unheimlicher
Mächte, wie er das thut mit wunderlichen
Mafsregeln im Leben des Einzelnen und der Gemeinfchaft

j bei allerlei Anläfsen des häuslichen und des Berufslebens.
Hier nimmt die Darfteilung gelegentlich allerdings die
Form der blofsen Zufammenftellung und Aufzählung an,
aber fie forgt doch überall wieder dafür, bemerkens-

I werthe und oft höchft überrafchende Zufammenhänge
nachzuweifen und vor allen Dingen auch, wo es nur
möglich ift, das naive poetifche Schaffen der Volksfeele
zu erkennen. Auf folche Weife breitet fich über die oft
fo greulichen und abgefchmackten Erfcheinungen im
Volksleben etwas wie ein verklärender Lichtfchein aus,
in deffen Schimmer das erfchreckte und zürnende Gemüth

! des Lefers fich einigermafsen fänftigt und wieder zur
Ruhe kommt.

Dresden. Dr. phil. B. Kühn.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape, Zehlendorf bei Berlin.
jDcutfcbe Hiteratur.

Koldewey, R., Die Pflatlerftcine v. Aiburfchabu in Babylon. Mit i
Karte u. 4 Doppeltaf. (Wiffenfchaftliche Veröffentlichungen der
deutfchen Orient-Gefellfchaft. 2. Hft.) Leipzig 1902, Hinrichs. (10 S.
Fol.) 4 —; f. Mitglieder der deutfchen Orientgefellfchaft 3 —

Müller, J. H., Religionsgefchichtliche Bilder. I. Fetifchismus u. Seelenverehrung
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Schlenker. (31 S. gr. 8.) —40

Reiner, ]., Der Buddhismus. Für gebildete Laien gefchildcrt. Leipzig
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