Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1902 Nr. 17

Spalte:

478-479

Autor/Hrsg.:

Freytag, Hermann

Titel/Untertitel:

Wie Danzig evangelisch wurde 1902

Rezensent:

Köhler, Walther

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

477

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 17.

478

Text herzuftellen Tüchten. Da diefe Aufgabe der Sub-
jectivität des einzelnen unterliegt, zeigen natürlich J. j. 3
und J. j. 5 eine grofse Zahl verfchiedener Lesarten: wo
der eine Corrector die hebräifche Faffung für nöthig
hielt, glaubte der andere die Lesart der Vulgata beibehalten
zu können und umgekehrt. Beide Handfchriften,
deren Textwerth weit über dem von J. j. 4 fteht, legen
ein beredtes Zeugnifs für die hohe wiffenfchaftliche Bedeutung
ab, die dem fpanifchen Judenthume des Mittelalters
beiwohnt.

In noch höherem Maafse ift das bei derjenigen Bibel-
überfetzung der Fall, welcher die vierte Unterfuchung
(S. 63—78) gewidmet ift. Ihr Entftehen verdankt diefe
einem Grofsmeifter des Ritterordens von Calatrava, Luis
de Guzman, der im Jahre 1422 den jüdifchen Gelehrten
Mofe Arragel, einen Lehnsträger des Ordens, erfuchte,
einen revidirten, aus den beften Lesarten hervorgegangenen
Bibeltext zu liefern. Nach einer kurzen, uns
erhaltenen Correfpondenz, in die uns Berger einen Einblick
gewährt, machte fich Mofe ans Werk, wobei er
gleichzeitig chriftliche und jüdifche Literatur benutzte
und Gelehrte beider Bekenntnifse zu Rathe zog. Mehrjährige
Arbeit brachte eine wiffenfchaftliche Leiftung zu
Stande, von der Berger mit Recht fagt (Vorrede S. 2):
Jamals on ria vu Vesprit chretien et la science juive plus
noblement associes ni plus respcctueux l'un de l'autre.
Auch das prächtige Gewand, das fchon bei J. j. 3 rüh-
menswerth war, entfpricht ganz dem inneren Werthe
diefer Bibel. Sie wurde fpäter den Nachkommen des
Grofsmeifters Luis de Guzman, den Herzögen von Olivares,
zur Nutzniefsung überlaffen und kam fchliefslich an die
Herzöge von Alba; daher die verfchiedenen Namen:
Grofsmeifter-, Olivares- oder Alba-Bibel. Ihre Faffung
ift nun, wie Berger nachweift, nichts fundamental Neues,
fondern eine meilterhafte Bearbeitung der Textdurchficht,
die uns in J. j. 3 und J. j. 5 vorliegt; vielfach ift Mofe
auch auf J. j. 4 zurückgegangen, wo der ja nur leicht
mit hebräifchen Lesarten verbrämte Vulgatatext noch
mehr zu Tage liegt. Die Arbeit des Gelehrten war alfo
wefentlich eklektifcher Art, und darauf wies ihn ja auch
der ihm gewordene Auftrag hin. Dafs wir genau die
Pfade verfolgen können, die er dabei gewandelt, ift
Berger's Forfcherverdienft.

Textlich verwandt mit Mofe Arragel's Bearbeitung ift
nun diejenige wichtige Bibelausgabe, welche im fünften
Abfchnitte noch kurz befprochen wird (S. 78—84). Nach
der Vertreibung der Juden aus der pyrenäifchen Halbinfel
trugen die in der Sprache der fpanifchen Heimath gefchrie-
benen heiligen Bücher dazu bei, den Zufammenhang
zwifchen den zerftreut wohnenden Judengemeinden und
dem alten Vaterlande aufrecht zu erhalten. Dafs derartige
Bibeldrucke — in hebräifchen oder auch lateini-
fchen Lettern — 1547 in Conftantinopel, 1553 in Ferrara
erfchienen und letztere Ausgabe immer wieder aufgelegt
wurde, zeigt, wie fehr die Vertriebenen die gemeinfame
Erinnerung an die verlorene Heimath pflegten. Am
meiften hat diefen nationalen Zufammenhalt die Ferrara-
Bibel gefördert; ihr wendet fleh Berger's Unterfuchung
zu: ihr Text ift eigentlich nichts anderes als eine Neubearbeitung
der uns in J. j. 3 vorliegenden Faffung; daneben
find ab und zu auch andere Handfchriften, fo
J. j. 5, herangezogen. Intereffant ift, dafs die Ferrara-
Bibel fpäter fogar noch proteftantifchen Texten zu Grunde
gelegen hat.

Damit fchliefst Berger feine Unterfuchungen über die
fpanifchen Bibelüberfetzungen ab; wie fehr dadurch
unfere Kenntnifs von dem gegenfeitigen Verhältnifse
der einzelnen Handfchriften gewonnen hat, läfst hoffentlich
diefe Inhaltsangabe erkennen. — In einem Nachtrag
(S. 85 — 98) giebt er uns noch eine Note sur les Bibles
Portugaises, bei welcher ihm eine hervorragende Kennerin
portugiefifcher Literatur, FrauC. Michaelis de Vasconcellos,
behilflich gewefen ift. Nehmen die portugiefifchen Bibelüberfetzungen
den fpanifchen gegenüber fchon einen ver-
fchwindend kleinen Umfang ein, fo ift uns obendrein noch
recht wenig von ihnen erhalten; aber felbft auf kümmerlichen
Trümmern weifs Berger's Scharffinn Neues wieder
aufzubauen. Er geht dabei von dem Cataloge der Bibliothek
des 1433—38 regierenden Königs D. Duarte aus, wo
einige portugiefifche Faffungen der ganzen Bibel und von
Theilen derfelben aufgezählt werden, und der Verfuch,
einige der dort genannten Ueberfetzungen mit noch vorhandenen
oder neuerdings verloren gegangenen Ueberfetzungen
zu identificiren, mufs als gelungen betrachtet
werden.

Ein genaues Verzeichnifs der benutzten Literatur
und die Befchreibung der auf der fpanifchen Reife ein-
gefehenen Handfchriften (S. 99—109) fchliefst Berger's
treffliche Arbeit ab.

Peine. Oberlehrer Friesland.

Freytag, Pfr. Hermann, Wie Danzig evangelisch wurde.

Danzig 1902, Ev. Vereinsbuchhandlung. (V, 61 S.
gr. 8.) M. —.50; geb. M. 1.—

.Nicht wiffenfchaftliche Unterfuchungen follen hier
geboten werden, fondern die Ergebnifse folcher Unterfuchungen
in gemeinverfländlicher Form. Wer die quellen-
mäfsige Begründung des hier Gebotenen fucht, fei auf folgende
beiden Arbeiten verwiefen, an die fich die vorliegende
fehr eng, oft felbft dem Wortlaute nach, anlehnt: die Beziehungen
Danzigs zu Wittenberg in der Zeit der Reformation
(Ztfchr. des Weflpreufs. Gefchichtsvereins 1898)
und: Zwei Danziger Armenordnungen des 16. Jhs. (ebd.
1899)', — beide von dem Verf. Wir haben alfo eine populäre
Gemeindegefchichte vor uns, die liebevoll, wenn auch
etwas trocken gefchrieben, den Sinn für die grofsen Tage
der Vergangenheit unter den Evangelifchen Danzigs neu
beleben foll und wird, um der Bedeutung Danzigs willen
in Folge feines Connexes mit Wittenberg und um einiger
typifcher Züge willen aber auch auf allgemeines Intereffc
rechnen kann. Es leuchtet ohne Weiteres ein, dafs die
politifche Stellung Polens auf Fluth oder Ebbe der Reformationsbewegung
in Danzig von Einflufs war. Sobald
1525 Polen mit dem Hochmeifler Frieden fchlofs, erging
das Strafgericht über die bisher unter dem Zwange der
Politik geduldeten evangelifchen Tendenzen, bis fchliefslich
das fäcularifirte Preufsen Hilfe brachte. Und die pol-
nifchen Wahlftreitigkeiten nach dem Ausfterben der
Jagelionen benutzte die Stadt gefchickt, um gegen Zu-
fagung politifcher Unterflützung Religionsfreiheit fich
garantiren zu laffen — die endgültige Entfcheidung
erfolgte freilich erft 1577 nach fchwerem Kampfe gegen
Stephan Bathory. Unter den evangelifchen Predigern
ragen hervor Jak. Knothe, der zuerft den Cölibatszwang
brach, Alexander Schweinichen, Michael Meurer, der
an Stelle des urfprünglich gewünfehten Bugenhagen kam,
und Pankratius Klemme, ,der Mann, dem recht eigentlich
der Ehrentitel eines Reformators Danzigs gebührt' (S. 28
fowie nach deffen Tode Johannes Halbbrot. Sehr reich
war die fociale Fürforge in Armenordnung, Kinderhofpital,
das z. B. 1547 das Privileg erhielt derverleihung der
Rechte ehelicher Geburt an die aufgenommenen unehelichen
Kinder, und Armenfchule. Von den dogmatifchen
Streitigkeiten (Abendmahlsfrage) blieb die Stadt auch
nicht verfchont; die Frage, ob die reliquiae sacramenti —
vom Verf. S. 51 ungefchickt mit .Reliquien' wiedergegeben
— vollkommenes und rechtes Sacrament feien,
führt zur Aufhellung der gut lutherifchen, aber den
Genufs bez. die Austheilung zum Sacrament nothwendig
fetzenden fog. Danziger Notel ') bez. zur Abfplitterung
einer feparatiftifchen Gemeinfchaft, die — ohne Erfolg —
auch den Exorcismus wieder einzuführen fucht. Schliefs-

1) Vgl. über diefe jetzt die Königsberger DifT. von G. Köuu Die
Danziger Concordienformel über das h. Abendmahl etc. 1901.