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Ausgabe:

1902 Nr. 16

Spalte:

455-457

Autor/Hrsg.:

Wimmer, R.

Titel/Untertitel:

Gewissensfragen. Religiöse Briefe aus der Gegenwart für die Gegenwart 1902

Rezensent:

Lobstein, Paul

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455 Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 16. 456

vorftellendes, als denkendes, als zuftändliches und als
urfächliches Bewufstfein betrachtet wird. Diefe Ausführungen
im Einzelnen find vielfach lehrreich durch
richtige Beobachtungen und befonnene Verwerthung des
Beobachteten. Insbefondere trifft dies zu auf die Ausführungen
über Gefühl, Stimmung und Gemüth. Nicht
ebenfo gelungen erfcheinen mir dagegen die Ausführungen
des Verf. über den Willen und was mit diefem zufammen-
hängt. Während in den früheren Abfchnitten pfycho-
logifchen Inhaltes die Beziehungen des Wahrnehmens,
Vorftellens, Denkens und Fühlens auch zu dem Gehirn
hervorgehoben werden, bleibt es in den Darlegungen über
den Willen und den von diefem nach der Meinung des
Verf. fcharf zu unterfcheidenden Trieb zu vermiffen, dafs
nicht auch hier die Frage nach dem Zufammenhange des
Willenslebens mit dem Gehirn oder zutreffender mit dem
gefammtenmotorifchen Apparat desMenfchen aufgeworfen
und erörtert wird. Denn wenn der Verf. gewifs mit Recht
darauf hinweift, dafs das menfchliche Gemüth fehr wohl
etwas mit dem Leibe zu thun habe (S. 138), fo gilt dies
nicht weniger auch von dem Willensleben in feiner Ge-
fammtheit. Unterläfst man es aber nicht, wie der Verf.,
diefen wichtigen Zufammenhängen nachzugehen und beachtet
man dabei insbefondere deren pfychogenetifche
Entwickelung, fo ergeben fich auch ganz andere Urtheile
als die, die der Verf. gegen die Annahme eines unbe-
wufsten Wollens vorbringt. Doch erweifen fich gerade
die Conftructionen, aus denen die Lehre des Verf. vom
urfächlichen Bewufstfein befteht, zu ihrem Nachtheil viel
ftärker von feinen ontologifchen Speculationen beeinflufst,
als die in weit höherem Grade empiriftifch gearteten Ausführungen
in den früheren Capiteln des pfychologifchen
Theiles feines Buches. Auf die fowohl in der vorcarte-
fianifchen als auch wieder in der modernen Pfychologie
theils immer auch berückfichtigte, theils mehr oder
weniger gründlich erörterte Frage nach dem Seelenleben
der Thiere und nach deren Seele geht der Verf. nirgends,
auch nicht nebenbei ein.

Bonn. 0. Ritfchl.

Wimmer, R., Gewissensfragen. Religiöfe Briefe aus der
Gegenwart für die Gegenwart. Tübingen 1902, j. C. B. 1
Mohr. (108 S. gr. 8.) Geb. M. 2.— j

Diefe neue Gabe des um die religiöfe Erbauung und
Aufklärung zahllofer Lefer hoch verdienten Verfaffers
ftellt fich feinen früheren Veröffentlichungen würdig zur
Seite. In vierzig Briefen ,aus der Gegenwart für die
Gegenwart' behandelt W. in zwanglofer Weife eine reiche
Mannigfaltigkeit von religiöfen Fragen, die fich meiflens
um die gerade in unferer Zeit mit befonderer Kraft und |
Klarheit hervortretenden Intereffen bewegen. Es wechfeln !
die Einzelprobleme (z. B. kirchliche Lehre vom Worte
Gottes, Willensfreiheit, Perfönlichkeit Gottes) mit allgemeinen
ab (Theodicee, Wunder, Naturwiffenfchaft in
ihrem Verhältnifse zur Religion, Glauben und Wiffen,
Bedingungen unferer wahren Zugehörigkeit zur Kirche,
find wir noch Chriflen?) Alle diefe Probleme find für
den Verf. nicht Gegenftände rein theoretifcher Reflexionen
und Speculationen, fondern ,Gewiffensfragen
', an welche er mit heiligem Ernfte herantritt und j
die er auch dem Gemüthe feiner Lefer in ihrer ganzen
Bedeutung nahe zu bringen weifs. Die Grundbedingung,
die er von dem ihn mit wachfendem Vertrauen und J
dankbarer Gelehrigkeit befragenden Freunde verlangt
ift die volle Aufrichtigkeit gegen fich felber. ,Wie du
es machen follfi, um etwas zu glauben, das dich nicht
überzeugt? Das kann ich mir ebenfo wenig denken, wie |
du; denn es ift eine Unmöglichkeit. Du kannft dir I
höchftens vorlügen, dafs du es glaubft; in Wahrheit !
bringft du es mit keiner Macht der Welt fertig. Du
follft es aber auch nicht. Du follft auch nicht im ent-

fernteften daran denken oder den Verfuch machen, etwas
wider das Gewiffen zu thun. Das ift ja die Sünde aller
Sünden. . . Beffer ein Gottesleugner, der es aus Ueber-
zeugung ift, als einer, der Gott bekennt, ohne dafs fein
Herz davon weifs. Jener kann eher zu ihm kommen,
als diefer; denn der Sinn, mit dem er ihn wahrnehmen
kann, ift noch nicht ertötet. . . Ein aufrichtiger Wider-
facher des Chriftenthums ift beffer als einer, der fich mit
fchlechtem Gewiffen dazu bekennt. . . Ich haffe die Unwahrheit
in jeder Geftalt . . . ich verlange deshalb auch,
dafs jede Art von Unnatur aus dem religiöfen Leben verbannt
werde. . . Sei wahr gegen dich felbft; wolle nicht
fein, was du nicht bift und in Wahrheit nicht fein kannft'
(S. II. 12. 32—33. 98. 103). Da die Religion als prak-
tifche Angelegenheit des inneren Lebens den ganzen
Menfchen in Anfpruch nimmt, kommt es vor allem darauf
an, perfönlich zur Wahrheit Stellung zu nehmen. ,Siehe,
wie ernft und folgenfchwer die Entfcheidung ift, vor
welche du geftellt bift. Du follft dich für oder wider
das Leben entfcheiden. Willft du es bejahen oder verneinen
? Das ift die Frage, eine Frage nicht an den Ver-
ftand, fondern an den Willen, und die Antwort mufs eine
That fein' (S. 41). Mit diefem unerbittlichen Wahrheitsfinne
und dem der heiligen Sache gewidmeten Ernfte verbindet
W. ein eingehendes und theilnehmendes Ver-
ftändnifs, das allen ihm entgegenftehenden Anfchauungen
und Richtungen zunächft das Wahrheitsmoment und die
berechtigte Seite abzugewinnen weifs, fo dafs feine Polemik
niemals verletzend ausfällt, fondern fich zu einer aus der
Achtung und Liebe zum Nächften flammenden Irenik
geftaltet. ,Du mufst alle religiöfen Vorftellungen beur-
theilen, die dir entgegentreten, auch diejenigen, die dir
als Aberglaube erfcheinen. Frage nach dem Sinne, nach
der Wahrheit, die ihnen zu Grunde liegt, ob es wirklich
religiöfes Leben ift, was lieh darin äufsert. Und du
wirft über vieles ein anderes und milderes Urtheil gewinnen
. Mancher, über deffen Glaubensbekenntnifs du
lächelft oder gar zürnft, hat vielleicht mehr wahre Frömmigkeit
und verfteht fich deshalb beffer auf die Wahrheit
, als ein Anderer, der deine Anflehten theilt und fie
mit denfelben Worten ausfpricht, wie du' (S. 84—85).
Vielleicht würde diefe mit herzgewinnender Wärme geführte
Apologie noch überzeugender fein, wenn der Verf.
klarer und fefter feinen Lefer auf den Grund des von
ihm mit fo beredten und eindringlichen Worten gefeierten
Glaubens hinweife. Wie treffend weifs er. von dem Wefen
des Glaubens zu reden (S. 7 u- 8)1 Und mit welch con-
genialem Sinne zeigt er in dem Geifte Chrifti das einzige
Merkmal der wahren Zugehörigkeit zur Kirche und die
echte Signatur des Gotteskindes (S. 21. 35. 36)! Wenn
er aber bemerkt: ,Der Weg [zum Sieg im Kampf des
Glaubens] ift Reinigung und Vertiefung des religiöfen
und fittlichen Lebens. . . Der Glaube hat feinen einzigen
und durchfchlagenden Beweis in der Sinnesart und dem
Leben der Gläubigen' (S. 38), — wenn er verfichert:
,Solch Vertrauen läfst fich durch Erlebnifse nicht er-
fchüttern; denn es fleht auf eigenen Füfsen' (S. 80) —
fo wird man es an diefen Ausfagen vermiffen, dafs der
Verf. feinen Lefer nicht entfehiedener unter den Eindruck
der Perfon Chrifti ftellt, um in diefer Erfcheinug
die vollkommene Offenbarung der auf uns gerichteten
Gottesliebe aufzuweifen. Oder follte die Furcht vor
einer mifsverftändlichen Deutung des chriftologifchen
Dogmas den um Wahrheit und Klarheit ftets fich bemühenden
Gewiffensberather vor diefem Hinweis auf den
Glaubensgrund des evangelifchen Chriften abgehalten
haben? DiefeFurcht wäre gewifs bei einem Verf. unbegründet
, welcher Religion und Theologie, Glaube und Dogma
mit vollkommener Deutlichkeit zu unterfcheiden weifs
und vor allen Verirrungen des Intellectualismus durch
die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit des in feinen
Briefen pulfirenden religiöfen Lebens bewahrt ift. Diefen
,Briefen' aber können wir den gefegneten Erfolg in