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Ausgabe:

1902 Nr. 16

Spalte:

443-445

Autor/Hrsg.:

Houtin, Albert

Titel/Untertitel:

La question biblique chez les catholiques de France au XIX siécle 1902

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 16.

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nicht unintereffante Schriftenreihe aufmerkfam machen
zu dürfen.

Einer Kritik darüber bin ich überhoben. Ueber
Buhl's und Jacobfen's Schriften, weil fie zumeift j
längft Anerkanntes enthalten, über Nielfen's und Horn- '
mel's, weil die Theologifche Literaturzeitung nicht der
Ort dafür ift. Dafs "pif-flOS, ftatt ehrbar und bieder auf
griechifches palxrQiov zurückzugehen, nach Hommel
ein höchft intereffantes Naturwunder ift, ein Mifchling,
beftehend aus affyrifchem pisannn (— jtifroq, Tonne u. dgl.!)
und aramäifchem ynn = 2, möchte ich aber meinen
Lefern nicht vorenthalten. Die Wiffenfchaft von der
Etymologie ift bisweilen langweilig. Da ift es hübfch,
wenn fie auch 'mal was zum Lachen giebt.

Marburg. Jenfen.

Houtin, Albert, La question biblique chez les catholiques
de France au XIX9 siede. Paris 1902, A. Picard et fils.
(IV, 324 S. gr. 8.) Fr. 4.-

Eine höchft intereffante, durch meifterhafte Be-
herrfchung des Gegenftandes, lichtvolle Gruppirung des j
Stoffes und formvollendete Darfteilung gleich ausge- I
zeichnete Schrift. Der aus der katholifchen Kirche
hervorgegangene, aber dem Zwange römifcher Bevor- I
mundung entwachfene Verfaffer, der mit den katholifchen j
Zuftänden, der geiftigen Arbeit und der einfchlägigen
Literatur vollkommen vertraut ift, läfst uns einen tiefen
und umfaffenden Blick in den Entwickelungsgang des in j
der katholifchen Kirche Frankreichs gepflegten Schriftftu-
diumsthun. Seine überall aus den erftenQuellenfchöpfende, |
mit zahlreichen und oft fehr langen Auszügen aus wichtigen
Urkunden ausgeftattete Erzählung fchreitet in vornehmer
Ruhe fort und trägt auf allen Seiten den Stempel
echt hiftorifchen Sinnesund unbeftechlicher Wahrheitsliebe.
Die in einem bibliographischen Nachtrag (S. 281—318) auf- 1
gezählten, oft mit einigen Zügen kurz und bündig cha-
rakterifirten 235 Schriften, theils gröfsere Werke, theils j
einzelne Auffätze und Abhandlungen, die der Verf. in
feinem Buche forgfältig verwerthet hat, legen von der !
Belefenheit und Gewiffenhaftigkeit des gründlichen und
allenthalben Umfchau haltenden Forfchers ein glänzendes
Zeugnifs ab. Den Lefern des evangelifchen Deutfchlands j
mufs diefe Einführung in eine uns fern liegende und
fchwer zugängliche Literatur, diefe Enthüllungen über |
den Betrieb der Bibelwiffenfchaften im Nachbarlande
doppelt willkommen fein. Es ift kein erfreuliches Bild,
das der Verf. in feiner fo reichlich dokumentirten Schrift
entwirft, aber wie intereffant, wie charakteriftifch zur
Schilderung des inneren Wefens und der auch bei uns
hervortretenden Eigenthümlichkeiten derrömifchen Kirche!
Es ift der Kampf aller freieren um das Verftändnifs des
Schriftwortes oft fchüchtern genug fleh bemühenden
Regungen mit dem unbeugfamen, bald brutal und inquiti-
torifch auftretenden, bald mit fubtilen Inlinuationen und
Verdächtigungen operirenden Geilte des auf die Tradition
fleh zurückziehenden und in ihrem Namen
fprechenden Romanismus. Mit einer auch den Laien
feffelnden Anfchaulichkeit hat der Verf. die verfchiedenen
Etappen diefer fcheinbar oft neu und verheifsungsvoll anfetzenden
, aber mit tragifcher Eintönigkeit zu demfelben
fclrgebnifse immer wieder gelangenden Gefchichte erzählt,
indem er die in verfchiedenen Kreifen umftrittenen Probleme,
oder die hervorragendenPerfönlichkeiten fowohlderKirche
als des gegnerifchen Lagers vorführt. Bewegt fleh auch
der Kampf um Gegenftände, die unter uns kaum geeignet
Rheinen, die Kreife der wiffenfehaftlich gebildeten Theologen
in grofse Aufregung zu bringen, fo ift es doch aufser-
ordentheh lehrreich, wahrzunehmen, wie diefe mehr
peripherifchen Probleme, Schöpfungsgeschichte, Sintflutsüberlieferung
, mofaifche Abfaffung des Pentateuchs, Sofort
zur Verhandlung principieller Fragen führen und

fchliefslich alle in den Kampf um die Autorität der
Tradition einmünden. Bei aller Objectivität des den
Ernft und die Würde der Gefchichte ftets wahrenden
Verf.s geftaltet fleh die Darfteilung oft zu einer Satire
der Einen, zu einer Märtyrergefchichte der Anderen. In
erfterer Beziehung ift auf Cap. XII (S. 179—199) hinzuweifen
, deffen Inhaltsangabe klar genug den Charakter
des behandelten Problems zu erkennen giebt: Variations
sur un grand miracle biblique, ,£e vrai miracle le deluge
universcl. Le deluge un peu restreint: Deluc, Cuvier,
Wallon, Dar ras, le pere Brucker — Le deluge plus
restreint: d'Omalius, Motais, Charles Robert — Le deluge
tres restreint: MM Suess et de Girard — Un peu plus
de deluge: M. de Kirwan. — Pas de deluge du tout:
MM de Lapparent et Loisy — Du deluge selon les classes.
Einen anderen Eindruck gewinnt man, wenn man dieLeidens-
gefchichte eines F.Lenormant, H.Lafferre, M. Loisy
kennen lernt. Wie haben fleh die Aermften gekrümmt
und gewunden, um der Autorität des heiligen Stuhles den
gebührenden Gehorfam zu zollen und doch die innere
Wahrhaftigkeit und die Gefundheit der Seele zu retten!
Die Darftellung der mehr geahnten als gefchilderten
Kämpfe wirkt hier um fo ergreifender, als der Verf. in
fchlichtem und rein fachlichem Tone die Thatfachen
reden läfst, die Schriften anführt und die Entscheidungen
der zuständigen höchsten Inftanz mittheilt. Dadurch gewinnen
folche Einzelheiten eine allgemeine Bedeutung
und liefern zur Illustration des Katholicismus unfehätz-
bare Beiträge. Aber auch fonft enthält das Buch zahlreiche
Stellen, die weit über das behandelte Problem
hinaus ein allgemeines Intereffe in Anfpruch nehmen
können. Ich führe einige Beifpiele an: die Angaben
über das von Quinet angezeigte, durch Littre überfetzte
erfte Leben Jefu von Straufs (S. 35 sq.), über die Wirkungen
von Renan's philologifchen und hiftorifchen Arbeiten
(S. 4Ösq., 76sq., 146), über die Bestimmungen des Vati-
canifchen Concils betreffend die biblifche Frage (S. 86sq.),
über den Inhalt und befonders die vielfach abweichenden
Deutungen der Encyklica Providentissimus (S. 158 sq.), über
die 1897 getroffene Entfcheidung der Stelle 1. Joh. 57
von den ,drei Zeugen im Himmel' (S. 215—231), über
den vierten internationalen wiffenfehaftlichen Katholiken-
congrefs (S. 243 sq.). — Doch bleibt felbftverftändlich der
Katholicismus Frankreichs der Mittelpunkt der Darstellung
. Das Licht, das die Mittheilungen des Verf.s
über den geiftigen Durchfchnittszuftand des Klerus verbreitet
, ift kein günftiges. Abgefehen von einigen rühmlichen
Ausnahmen, kann kaum von einer wiffenfehaftlichen
Kenntnifs der heiligen Schrift die Rede fein. Vor
allem fehlt es an einem eingehenden und umfaffenden
Unterricht auf den kirchlichen Seminarien und den durch
dieBifchöfe felbft zum blofsen Scheinleben herabgedrückten
Fakultäten (S. 22—23. 24—28. 64—65. 67—69, 79—80. 93.
96—97. 276 und fonft). Zwar fleht fleh die Kirche zuweilen
gezwungen, Concefflonen zu machen und fleh
dem Spruche der Weltwiffenfchaft zu beugen, aber
diefer Rückzug wird ihr nur durch die unwiderstehliche
Macht äufserer und innerer Verhältnisse aufgenöthigt:
hat doch die Kurie erft im Jahre 1835 die Bücher, die
fleh des Kopernikanifchen Syftems annahmen, aus dem
Index gestrichen, und wehrt fleh die katholifche Apologetik
in einem Kampfe auf Tod und Leben gegen den
naturwiffenfehaftlichen und gefchichtsphilofophifchen Evolutionismus
, dem nur fporadifch einzelne Sprecher des
Katholicismus, wie Brunetiere, eine dem katholifchen
Traditionsprincipe verwandte Seite abzugewinnen verfluchen
. Die zahlreichen Naivetäten diefer Apologetik
(z. B. S. 26—27, 57—58 u. f. w.), mag man mit Still-
fchweigen übergehen; nicht feiten haben wir unter uns
ähnliche Verfuche wahrgenommen; die Etudes philoso-
phiques sur le Ckristianisme von Nicolas, welche, in den
Jahren 1892—1895 erfchienen, über zwanzig Auflagen
erlebt haben, find von unferen Apologeten fehr fleifsig