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Ausgabe:

1902 Nr. 15

Spalte:

430-434

Autor/Hrsg.:

Rickert, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 1902

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 15. 430

Hier ein Beifpiel, wie L. fchildert: ,Der im Gegenfatze
zu feinem fchwächlichen, fchwermüthigen und enthalt-
famen Vater lebens- und thatenfrohe Jofeph I., voll Jupiter-
ftolz und Jupitergalanterie, eine der verheifsungsvollften
Perfönlichkeiten des Herrfcherhaufes, wurde zwar wegen
feiner Selbftftändigkeit der franzofenfreundlichen Kurie
cregenüber mit dem Banne bedroht, konnte aber, obwohl
mit einer früheren Proteftantin vermählt, im Zuge der
Gefetzgebung fogar die häuslichen Andachtsübungen der
Akatholiken zum Criminalverbrechen ftempeln laffen. Als
indeffen die Jefuiten über den für die fchlefifchen Pro-
teftanten günftigen Alt - Ranftädter Vertrag fich be-
fchwerten,&erfchreckte er fie mit der Abfertigung: ,Ihr

fandte, fondern ausgefucht tüchtige Leute, für welche
noch ein fchwäbifcher Scheufler von Lawalde fehlt.

Nabern. G. Boffert.

Rickert, Prof. Dr. Heinrich, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung. Eine logifche Einleitung
in die hiftorifchen Wiffenfchaften. Tübingen 1902,
J. C. B. Mohr. (X, 743 S. gr. 8.)

M. 15.—; geb. M. 17.50

,Aus der Ueberzeugung, dafs der Mangel an Ver-
ftändnis für das Wefen der hiftorifchen Wiffenfchaften
föntet' Heber ein Tedeum fingen, dafs mich Kad (XII. j zu den folgenfchwerften Uebelltänden in der Philofophie
von Schweden) nicht erfucht hat, ich felbft folle lu- unferer Zeit gehört' (S. 7), ift das umfangreiche, fcharf-
therifch werden, denn ich weifs wahrhaftig nicht, was finnige und gründliche Werk des Verf.s hervorgegangen,
ich gethan hätte'. Es ftellt fich dar als eine in das Gebiet der Logik und

Selbftverftändlich verfchliefst L. fich nie gegenüber | Erkenntnifstheorie einfchlagende Monographie, deren
den Fehlern der Evangelifchen, die oft genug durch ihre . eigentliches Abfehen darauf gerichtet ift, die ,logifchen
Uneinigkeit und Vertrauensfeligkeit ihrer Sache fchadeten, • Utopien' einer naturwiffenfchaftlichen Univerfalmethode
aber man kann die Ausbrüche der ,Bekehrungswuth', die zu zerftören. In diefem Intereffe fucht der Verf. die
ausgefuchten Quälereien, die geradezu unbegreiflichen Reli- , Grenzen der naturwiffenfchaftlichen Begriffsbildung zu dem
gionsfrevel ,verwilderter Junker und därnonifcher Pfaffen' Zwecke feftzuftellen, ,um eine Einficht in das Wefen der
(S. 163) nicht ohne die tieffte Bewegung lefen. Vielleicht : hiftorifchen Wiffenfchaften zu gewinnen' (S. 149). Dabei
das Schändlichfte ift doch das gewaltfame Einfchieben bringt er mit ftrenger Confequenz den lediglich formalifti-
der Hoftie in den Mund von Bauern, denen man mit fchenStandpunkt des Logikers zurGeltung. Der gcfammten
einem Pflock den Mund geöffnet hatte (S. 164). Das be- ! bisherigen Logik aber macht er den Vorwurf, dafs fie
weift, wie die Religion der Bekehrer zum reinen Mecha- ! ,von wenigen Ausnahmen abgefehen, bis heute im
nism'us herabgefunken war, der felbft das Heiligfte, was j Wefentlichen eine Logik der naturwiffenfchaftlichen For-
die Kirche kannte, nicht fchont, fondern zum Marterwerk- , fchung geblieben ift' (S. 25). Diefer Einfeitigkeit abzu-
zeug herabwürdigt. Die Gefchichte des heutigen nach I helfen und nun auch der den Gefchichts- oder Cultur-
allen Seiten auseinander ftrebenden Oefterreich ift dem wiffenfchaften eigenthümlichen Begriffsbildung theo-
kein Räthfel mehr, der die Gefchichte des Proteftantis- retifch gerecht zu werden, ift das Ziel, dem der Verf. in
mus in diefem Reiche kennt. feinen Darlegungen nachftrebt.

Es ift gewifs das befte Zeugnifs für das Buch, dafs j Der naturwiffenfchaftliche Begriff gilt dem Verf. im
es den Appetit noch mehr reizt. Was L. über die kleine Allgemeinen als das Mittel, ,mit dem der endliche Geift
Bukowina bietet, ift auf 13 Zeilen befchränkt. Mit Freuden j die unendliche Mannigfaltigkeit der Körperwelt zu überhört
man, dafs der Proteftantismus bis in diefe Gegend winden und damit die Wirklichkeit in feine Urteile aufgedrungen
war und von den moldauifchen Herrfchern zunehmen vermag' (S. 123). ,1m Begriff ftellt fich
wichtige Vorrechte erlangt hatte, ehe das Land 1777 das als fertig dar, was durch die Forfchung geleiftet ift'.
unter Oefterreich kam, aber unwillkürlich fragt man: So ift ,jede naturwiffenfchaftliche Arbeit fchfiefslich a f
Wie und wann find denn in jene ferne Gegenden Pro- Begriffsbildung gerichtet' (S. 23). Infofern ift aber das
teftanten gekommen? Die gewöhnlichen Handbücher Ziel, ,dem jede Naturwiffenfchaft zuftrebt', die ,Einficht
laffen hier völlig im Stich. i in den naturgefetzlichen Zufammenhang der Dinge' (S.79).

Gern hätte Ref. auch ein kurzes Wort über den Alfo find auch die naturwiffenfchaftlichen Gefetzesbegriffe
Communismus der Wiedertäufer in Mähren gehört, dem nur ,ein Mittel zur Vereinfachung der Mannigfaltigkeit'
Loferth eine Monographie gewidmet hat. Als charak- (S. 138). Das nun, ,was der naturwiffenfchaftlichen Be-
teriftifch für die fittliche Werthung der Waffen der Gegen- i griffsbildung die Grenze fetzt, über die fie niemals hin-
reformation hätte bei Inneröfterreich der Betrug mit dem j wegzukommen vermag, ift nichts anderes als die empiri-
kleinen Kathechismus Luther's, den die Jefuiten herftellten ■ fche Wirklichkeit felbft' (S. 239). Da wir nämlich nicht
(Th. R.-E. VII, 523, 37), Erwähnung verdient. Sodann fei j mit Vorftellungen, fondern mit Ürtheilen erkennen, giebt
noch auf den Karmeliter hingewiefen, von dem Ref. [ auch die naturwiffenfchaftliche Erkenntnifs nicht etwa ein
fchon 1895 in den Bl. f. württb. K. G. 10, 18 berichtet Abbild der Dinge, und ihre Wahrheit befteht nicht in
hatte, und deffen Name nun in der Befchreibung des j der Uebereinftimmung der Vorftellung mit ihrem Gegen-
Oberamts Rottenburg a. N. I, 388, 458 als Jakob Bern ! ftande (S. 245). Vielmehr kann die Naturerkenntnifs
nachgewiefen ift. Er hatte vor Sommer 1534 in Wien ,immer nur eine Bearbeitung und Umformung der Wirk-
und anderen Städten Oefterreichs evangelifch gepredigt, j lichkeit vornehmen', weil das Ganze der Welt fich uberwar
aber bald ausgewiefen worden. 1535 im Auguft haupt nicht abbilden läfst. Und da nun ,eincrfeits die
hatte auch Erh. Schnepf, als er Herzog Ulrich von j Wirklichkeit uns überall unendliche Mannigfaltigkeit zeigt,
Württemberg zur Belehnung nach Wien begleitete, dort , und andererfeits eine naturwiffenfchaftliche Theorie um
gepredigt, aber bald verbot man es ihm, Nuntiatur- fo höher fteht, je einfacher fie ift*, fo mufs eine folche
berichte I, 492. Neben Khuen, Homberger und anderen j auch ,um fo vollkommener' fein, ,je weniger Wirklichhätten
auch die tüchtigen Schwaben Dan. Hizler, der i keit ihre Begriffe enthalten' (S. 246).
fpätere Stiftspropft in Stuttgart, Thomas Spindler, der Ift fo der Naturwiffenfchaft die Tendenz zur Bildung

Brenzifche Schwiegerfohn, beide in Linz, Polykarp 1 möglichft allgemeiner Begriffe eigen, und hat fie denv
Leyfer, der Stieffohn Andreä's, in Gellersdorf, Wilh. | gemäfs überhaupt die Aufgabe, die Wirklichkeit mit
Zimmermann in Graz, den der Calvinismus aus Heidel- j Rücklicht auf das Allgemeine in Begriffen darzuftellen,
berg vertrieben hatte, und deffen Leiche die Jefuiten im die für jene Wirklichkeit gelten, fo läfst fie doch in der"
Grabe noch ftörten und in den Flufs warfen (vgl. Fifchlin, ] Bewältigung der gefammten Wirklichkeit infofern eine
Memoria tlieologorum Wirtb. I, II und Sappl.), eine Stelle Lücke, als das etwaige Intereffe am Befonderen als
verdient. Man darf der württb. Kirchenleitung im 16. folchem durch fie nicht befriedigt wird. Hier alfo liegen
und 17. Jahrh. das Lob nicht verfagen, dafs fie nicht auch ihre Grenzen. Des über diefe hinaus liegenden Beden
,Abhub' als Squatter-Theologen nach Oefterreich | fonderen nimmt fich dagegen die Gefchichtswiffenfchaft