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Ausgabe:

1902 Nr. 13

Spalte:

387-389

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Otto

Titel/Untertitel:

Die Causalbetrachtung in den Geisteswissenschaften 1902

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 13.

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philofophifchen Ueberlegung hervorgehenden Poftulaten
und mit den individuell religiöfen Stimmungen zum Begriffe
einer univerfalen Religion zufammengefafst werden. Der
Schwerpunkt der Religionswiffenfchaft liegt alfo meines
Erachtens noch mehr auf dem Gebiete der Erforfchung
der pofitiven Religion und ihrer Gefchichte, wobei fich dann
auch die abfchliefsende Bedeutung des Chriftenthums als
ein verwickelteres Problem darfteilen wird, als das bei
Eucken erfcheint. Aber diefe letzteren Probleme gehören
ja auch mehr in das Gebiet des an der Gefchichte der
pofitiven Religionen gefchulten Theologen, während der
in der Bildung der allgemeinen, die Wirklichkeit vereinheitlichenden
Begriffe gefchulte Philofoph wefentlich
die Punkte aufzeigt, von denen aus die Religion in ihrer
centralen und ewigen Bedeutung fich darfteilt. So werthvoll
daher auch die Anregungen Eucken's für die Religionswiffenfchaft
und Theologie felbft find, fo liegt doch der
Schwerpunkt in dem Aufweis der aus einer Gefammt-
betrachtung fich ergebenden Nothwendigkeit, zwifchen
der blofsen Seelennatur und dem über ihr und gegen fie
fich erhebenden Geiftesleben zu unterfcheiden, das als
eine eigene, neue fubftantielle Macht aus dem blofsen klein-
menfchlichen Seelenleben hervorgeht, und das den allein
dauernden und wahrhaft werthvollen Inhalt des Lebens als
in der That der Freiheit und der Hingebung des Subjectes
an das Objectiv-Werthvolle entftehend zeigt. In diefen
geometrifchen Ort der Gefammtbetrachtung hat Eucken
die Religion hineingezeichnet und damit den wärmften
Dank aller verdient, denen an einem höheren Inhalte des
Geifteslebens liegt. Ueber die genauere Fixirung der
Religion und des Chriftenthums innerhalb des fo bezeichneten
Ortes möchten aber damit die Unterfuchungen mehr eröffnet
als befchloffen fein. Möchten von der fo eröffneten,
unendlich fruchtbaren, wahrhaften und zuverfichtlichen
Betrachtungsweife die Theologen zu lernen vermögen!
Dafs die Sächfifche kirchliche Conferenz den Muth gehabt
hat, von einem Philofophen einen folchen Vortrag halten
zu laffen, erweckt hierfür erfreuliche Ausfichten.

Heidelberg. Troeltfch.

Ritsehl, Prof. D. Otto, Die Causalbetrachtung in den
Geisteswissenschaften. Bonn 1901, A. Marcus und E.
Weber. (V, 138 S. 8.) M. 2.—

Diefe Abhandlung hat den Vorzug, fich mit einem
wirklichen Problem zu befchäftigen gegenüber den zahl-
lofen, die zwanzig Mal bereits aufgehobene Steine zum
einundzwanzigften Mal umdrehen oder fich mit blofsen
conventionellen oder felbftgemachten Scheinproblemen
befchäftigen. Die Intereffen und Aufgaben der Ge-
fchichtsphilofophie beginnen fich von dem zu fach-
mäfsiger Routine gelangten Betrieb der hiftorifchen Ein-
zeldarftellung immer deutlicher abzuheben. In der Hi-
ftorifirung von Ethik, Religionswiffenfchaft, Rechtswiffen-
fchaft, Staatswiffenfchaft, Aefthetik und Philofophie wird
das Problem der Ideale und Ziele im Verhältnifs zur
hiftorifchen Mannigfaltigkeit und hiftorifchen Bedingtheit
aller wirklichen Bildungen immer brennender. Der jüngfte
Streit über die hiftorifche Methode, an fich ein trauriges
Denkmal moderner philofophifcher Unbildung, hat gezeigt
, wie die hierauf fich beziehenden Frageftellungen
doch auch fchon in der Einzelbehandlung des hiftorifchen
Materiales latent eine bedeutfame Wirkung ausüben,
gegen die der blofse routinirte Fachbetrieb mit feinen
bewährten Methoden um fo weniger fchützt, als er felbft
urfprünglich von gewiffen Gefammtanfchauungen über
das Wefen des Menfchen und feiner Ziele ausgegangen
ift. So flehen heute der alte theologifche Supranaturalismus
mit feiner fingulären Conftruction religiöfer und ethifcher
Normen, die Refte der Hegel'fchen idealiftifch-teleologi-
fchen Entwickelungslehre, die pofitiviftifche Sociologie
und die fachmäfsige, mit ausgebildeten Methoden ar-

j beitende und aphoriftifche Gefammtbetrachtungen ein-
ftreuende Spezial-Hiftorie als die um das Intereffe
werbenden Hauptideen da, deren Bedeutung für die
Auffäffung von Leben und Wirklichkeit bedeutfam genug
ift und immer mehr hervortritt, feit die fcheinbar von
diefen Problemen fich fernhaltende technifche Hiftorie
eine Hauptquelle unbegrenzter Skepfis geworden ift.

! Unter diefen Umftänden verdient das Problem die fchärffte
Aufmerkfamkeit des Theologen, und es ift ein Verdienft
Ritfchl's, die Verhandlung diefes Themas in den Vordergrund
zu ftellen. Mit richtigem Griffe ift auch das Kaufa-
litätsproblem als hierfür befonders wichtig gepackt. Denn
feit die moderne Geifteswelt das Caufalitätsprincip als das
Centrum aller Weltbetrachtung proclamirt hat, es mit
der neuen naturwiffenfehaftlichen Begriffsbildung veran-
fchaulicht und in dem Sinne eines den ganzen Cosmos be-
herrfchenden Zufammenhanges logifcher Nothwendigkeit
zu beftimmen ftrebt, ift diefer überaus fchwierige und
wandelungsreiche Begriff gerade auch für das Problem
der Hiftorie maafsgebend geworden. Der Supranaturalift
begründet feine ganze Pofition aus dem Nachweis that-
fächlicherDurchbrechungen diefes Principes,der idealiftifch-
teleologifche Entwicklungstheorektiker identificirt Teleo-
logie und Caufalität und bringt durch diefe Einverleibung
des caufal nothwendigen Regreffes in den teleologifch-
nothwendigen Progrefs Berechenbarkeit des Gefchichtsver-
laufes und Conftruirbarkeit der letzten Ziele mit wiffen-

I fchaftlich - objectiver Sicherheit hervor, der Pofitivift
zeigt in der Sociologie die Naturgefetze des die unter-
menfchliche Welt nur complicirter fortfetzenden menfeh-
lichen Gemeinlebens und läfst alle Normen aus Anpaffung
an diefe fo feftgeftellten Verhältnifse hervorgehen. In
all diefen Theorien bringt gerade die Behandlung des
vieldeutigen Caufalitätsbegriffes die Schwierigkeiten hervor
, an denen ihre Durchführung fcheitert, indem fie
theils mit ihm felbft in Conflict gerathen, theils von ihm
aus das Verftändnifs des Wefentlichen in der Hiftorie
unmöglich machen. In diefer Situation wirkten nach dem
Vorgange Windelband's und Simmel's die bedeutenden
Werke Münfterberg's (Grundzüge der Pfychologie) und
Rickert's (Grenzen der naturwiffenfehaftlichen Begriffsbildung
) überaus erfrifchend und anregend, indem fie
einerfeits die Nothwendigkeit befferer Begründung der
methodifchen Principien der Gefchichtswiffenfcbaft und
eine neue Grundlegung der Gefchichtsphilofophie als
dringendes Intereffe erkannten, aber andererfeits auf die
Einmengung des Caufalitätsbegriffes und feiner Schwierigkeiten
in diefe Theorie verzichteten: Münfterberg, indem
er neben die objectivirenden, die naturwiffenfehaftlicheMethode
und damit das Caufalitätsprincip reftlos anwendenden
Wiffenfchaften die fübjectivirenden der Gefchichte
und der aus ihr hervorgehenden Normwiffenfchaften Hellt
und die letztere rein mit teleologifchen Begriffen unter
Beifeitefetzung aller Caufalitätsbetrachtung conftruiren
will; Rickert, indem er die naturwiffenfehaftliche Caufalitätsbetrachtung
auch für die Gefchichte fefthält, aber
nicht in ihr, fondern in der Betonung des Individuellen
und Einmaligen das Wefen der Gefchichte erkennt, von
hier aus als einem befonderen logifchen Princip ihre
Methoden conftruirt und aus den Begriffen des Individuellen
die hiftorifchen Allgemeinbegriffe erft fucht, fo-
wie auch von hier aus den Weg zu den Normbegriffen
erft bahnt. Ritfehl befchäftigt fich vor allem mit Münfterberg
's Theorie, während er das damals noch nicht
abgefchloffene Buch Rickert's nur gelegentlich berührt.
Er hat die Situation, aus der diefe Unterfuchungen
und ihre Bedeutung erwuchfen, nicht gefchildert, wohl
auch in ihrer Schwierigkeit nicht ganz fo empfunden;
auch fteht er wohl zu wenig in dem Horizont diefer
Neuformung der ,Wiffenfchaftslehre', um die Intereffen
und Motive der genannten Unterfuchungen ganz richtig
zu faffen. Deshalb ift feine Abhandlung fchwer recht
zu überfehen. Jedenfalls will er eine Ehrenrettung des