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1902 Nr. 12

Spalte:

364

Titel/Untertitel:

Zum Briefe des Psenosiris 1902

Rezensent:

Deissmann, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 12.

364

einer vorzüglicheren Leinung den profanen Charakter
der Naturordnung zur Vorausfetzung; defshalb erweift
fich diefe durch die Sünde befleckte creatürliche Ordnung
als der Heiligung durch die Kirche bedürftig; die erforderte
Weihe findet durch die Erhebung der Ehe zum
Sakrament flatt. Wo ift hier ein Widerfpruch aufzutreiben
? — Nicht billiger ift folgende Bemerkung (S. 142):
,Der röm. Kat. befindet fich damit (mit Quacstio XII) in
der Gefellfchaft eines Tolftoi (Kreuzerfonate) und eines
Schopenhauer, und das ift felbft verftändlich: denn, wo
der Glaube aufhört, fängt der Peffimismus an'.
Solche Aeufserungen follte ein proteftantifcher Theologe
in feinem Kampfe gegen die römifche Kirche heutzutage
verfchmähen. Dagegen mufs es auffallen, wenn er von
der Apologie fagt ,diefelbe fcheine nicht abgeneigt,
das Princip der Ehelofigkeit über das Princip der Verehelichung
zu ftellen' (S. 144); fagt doch das Bekenntnifs
klar genug: ,Neque tarnen aequamus coniugio virginitatem ...
Virgi?iitas donnm est praestantius (nicht praestantior, wie
S. fchreibt) conjugio. Das Citat ift der Apologie entnommen
XI, 38, nicht der Auguftana, wie S. irrthümlich
angiebt.

Strafsburg i/E. P. Lobftein.

Bernstein, P., Der Materialismus im Kampfe und im Bunde
mit der Religion. In Stuttgart, Karlsruhe und Caffel
gehaltene Vorträge. Im Anfchlufs daran: DieLebens-
fchickfale des Verfaffers. Eine Weihnachtsgabe an
das evangelifche Volk. Dritte vermehrte und umgearbeitete
Auflage. Elberfeld 1902, Baedeker. (114S.
gr. 8.) M. 2.—

Diefe Vorträge erfcheinen in ,dritter vermehrter und
umgearbeiteter Auflage' als ,Weihnachtsgabe an das evangelifche
Volk'. Dererfte, wefentlich gegen den Rationalismus
gerichtete Vortrag preift die Menfchwerdung Gottes
als ,das gröfste Werden in Natur und Gefchichte'
(S. 5—18). ,Die Menfchwerdung Gottes zurErlöfung des
Menfchen ift nur Naturgefetz der unendlichen Liebe.' —
Der zweite, viel umfangreichere Vortrag behandelt den
Materialismus in feinem Kampfe gegen die Religion oder
den atheiftifchen Materialismus (S. 19—56). Wir begegnen
dem Materialismus auf drei Gebieten, dem der
Pfychologie, dem der Kosmologie, dem der Ethik. In feiner
Auseinanderfetzung mit der doppelten Geftalt des Materialismus
, dem der Naturforfcher und dem der Naturmen-
fchen, wirft der Verf. intereffante Streiflichter auf jene
drei Gebiete, indem er zunächft als Apologet auftritt
(S. 23—47) dann aber zum Angriffe übergeht und kräftig
Polemik treibt (S. 47—56). Diefe Ausführungen ftellen zuweilen
hohe Forderungen an die Faffungskraft eines
gröfseren, gemifchten Publicums; auch fetzen fie an
manchen Stellen eine genauere Vertrautheit mit der Gefchichte
der Philofophie voraus; fie find indeffen geeignet,
manche Vorurtheile und Mifsverftändnifse zu zerftreuen,
die immer wieder im Kreife der Gebildeten auftauchen.
Als befonders gelungen feien die Behandlung des bibli-
fchen Schöpfungsberichtes und die Beleuchtung des
Pantheismus hervorgehoben. — Der dritte Vortrag führt
den etwas dunklen Titel ,der Materialismus im Bunde
mit der Religion' (S. 57—85). ,In dem erften Vortrag
haben wir den Materialismus noch draufsen vor der Pforte
des Heiligthums flehen gefehen, um denen, die eintreten
wollten, den Weg zu verfperren, auf dem Gebiete
der Pfychologie, der Kosmologie und der Ethik; heute
treffen wir ihn fchon im Innerften des Heiligthums, mitten
im Gebiete der Religion felbft an, nämlich im Kreife der
religiöfen Vorftellungen und der mit diefen eng verbundenen
religiöfen Ideale und Ziele . . . Dort tritt uns
der Materialismus als Gottesleugung, hier blos als
Trübung und Verdunkelung der Gottesidee entgegen
' (S. 57). Die zwei Fragen, die der Verf. aufwirft,

1) Wie ift der Materialismus entftanden? 2) Wie ift er aufs
Wirkfamfte zu bekämpfen? behandelt er nicht in ftreng
methodifcher Weife. Sein Vortrag ift weniger eine reli-
gionsgefchichtliche oder religionsphilofophifche Ausführung
als eine Reihe von anregenden, bald geiftreichen,
bald etwas befremdenden Apergus, die durch die an die
Spitze geftellten, und oft in willkührlichen Allegorien
mifshandelten Worte Mtth. 24, 29—30 zufammengefafst
und beherrfcht find.

Der Schlufs des Vortrages leitet bereits das letzte
Stück der Brochüre ein, das fragelos den wichtigften und
intereffanteften Theil der Schrift bildet. Unter dem Titel
,Einüpfer der kirchlichen Bureaukratie im Reiche
der Liebe' (S. 87—114) fchildert der als Sohn eines jüdi-
fchen Geiftlichen in Rufsland geborene, am 12. Januar
1883 in Bonn von Chriftlieb getaufte Verfaffer, der 1886
beim k. Confiftorium der Rheinprovinz die theol. Prüfung
beftand, feine wechfelvollen, durch zahllofe Enttäufch-
ungen heimgefuchten Lebensfchickfale. Die furchtbaren
Kämpfe, die B. auf diefen fünfzehnjährigen Irrfahrten in
der unirten Landeskirche Preufsens zu beftehen hatte,
ftellt der Verf. mit urkundlichen Zeugnifsen und amtlichen
Belegftücken dar. Dass der Ton ein zuweilen
bitterer, in kaum gedämpfter Ironie gehaltener ift, kann
uns wahrlich nicht Wunder nehmen. Die offenbar fehr
felbftändige, nicht ganz leicht zu behandelnde Natur-
eigenthümlichkeit des Verf.s mag Manches in den Er-
lebnifsen des fchwer geprüften Mannes erklären; immerhin
gereicht diefe Leidensgefchichte dem Charakter der
gröfsten deutfchen Landeskirche nicht zur Ehre und
wir können demjenigen nicht Unrecht geben, der die
authentifche Schilderung diefes Lebensganges eine ,wahre
Satire auf die Judenmiffion' genannt hat. Möge bald
die Stunde fchlagen, die dem tief gekränkten, trotzdem
nicht gebrochenen Convertiten Sühne für das erfahrene
Unrecht und harmonifche Löfung der inneren und äufseren
Conflicte bringen wird!

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Zum Briefe des Psenosiris.

Adolf Harnack hat in Nr. 7 Sp. 205 ff. der ThLZ
meiner Deutung des Politike-Papyrus an einem wichtigen
Punkte eine andere gegenüber geftellt. Vielleicht habe ich
Gelegenheit, hierüber einmal an einem anderen Orte ausführlicher
zu handeln; zu meinem Bedauern bin ich nicht
in der Lage, Harnack recht geben zu können. Hier nur

I die Notiz, dafs die Zeile 13, von der meine Erklärung

I im wefentlichen abhängt, inzwifchen noch einmal von
Kenyon am Original im Britifchen Mufeum verglichen
worden ift. Kenyon lieft nach einer gütigen Mittheilung
vom 25. April 1902 ,ohne Bedenken' (without hesitation)

| egavzcov, alfo ebenfo, wie die erften Herausgeber Grenfell
und Hunt. Damit ift, obwohl das von Wilcken und mir
auf der Photographie gelefene t^avrrjq aufzugeben ift,
meine Deutung in ihrem entfcheidenden Punkte doch
wohl gefichert: es gab wirklich chriftliche Totengräber

1 in der Grofsen Oafe. Auch ohne diefe ausdrückliche
Andeutung des Papyrus felbft wird meine Erklärung
durch den Umftand nahegelegt, dafs der chriftliche

j Brief bei den Totengräberpapieren von Kyfis gefunden
worden ift. Wie wäre er fonft dorthin gekommen?

Heidelberg. Adolf Deifsmann.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape, Zehlendorf bei Berlin.
jCcutfcbc «Literatur.

Rohde, E., Die Religion der Griechen. [Aus: .Kleine Schriften'.] Tübingen
1902, J. C. B. Mohr. (S. 314—339- gr- 8.) — 80

Win ekler, H., Arabifch-Semitifch-Orientalifch. Kulturgefchichtlich-
mytholog. Unterfuchg. 1. Lfg. [Mitteilungen der vorderafiat. Gefellfch.
VI. Jahrg., 4]. Berlin 1902, VV. Peifer in Komm. (So S. gr. 8.) 3. 50