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Ausgabe:

1902 Nr. 12

Spalte:

351-357

Autor/Hrsg.:

Holtzmann, Oscar

Titel/Untertitel:

Leben Jesu 1902

Rezensent:

Weiffenbach, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 12.

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der Zeitlage concret anwandte und anzuwenden verftand. j
Wenig glücklich heifst es deshalb (S. 337): ,Die Geduld
der Liebe gebricht ihm und bleibt ihm unverftändlich. I
Deshalb hat feine Predigt nicht zu allen Zeiten ein be-
ftimmtes Programm unverändert feftgehalten, fondern ift
beeinflufst worden durch die Verhältnifse, die gerade im
Moment feinen Feuereifer entzündeten'. Der Maafsftab der
Liebe ift hier nicht angebracht. Aber auch Arnos wird
an ihm gemeffen (S. 512), von dem dabei gefagt wird,
dafs er .obwohl verfchieden von Ezechiel durch feine
Auffaffung des Cultus, doch in feiner Auffaffung von dem
religiöfen Verhältnifs dem Propheten Ezechiel verwandt
fei'. Arnos und Ezechiel, den er übrigens einen Romantiker
nennt (S. 469), ftellt der Verf. dem Hofea und Jeremia I
gegenüber. Dies Apergu würde wohl mancher Lefer gern
vermiffen. Ueberhaupt wird Arnos in feiner wahren Gröfse
nicht gewürdigt. Die Frage nach der Bedeutung, die die
Weisfagung vom Untergange Israels für die Gefchichte
der Religion hatte, wird kaum geftreift. — Das ,innerlich
Tragifche' an Jeremia kann ich nicht darin finden, ,dafs er
nicht zu dem vollen Bewufstfein und dem freudigen
Geniefsen eines von politifchen und volksthümlichen
Schranken befreiten Glaubens gelangt', ,dafs er untergehe
in der Klage um den Zufammenbruch der alten Formen,
und wo er fich zu feltenem Hoffen auffchwinge, es fich
abermals kleide in die Erwartung eines wiederhergeftellten
Davidreichs'(S. 413). Dafs Jeremia in jener Klage unter-
oder aufgegangen fei, mufs auch dann noch beftritten
werden, wenn man ihm faft alle Zukunftshoffnungen feines
Buches abfpricht. ObendreinlagdieKraftunddie gefchicht-
liche Wirkung des prophetifchen Monotheismus gerade
darin, dafs er an feinem concret gefchichtlichen Urfprunge I
fefthielt und nur auf Israel bezogen wurde. Seine uni-
verfaliftifche Confequenz ergab fich fpäter von felbft.

Uebrigens hätte der Verf. bei feiner Behandlungsweife I
die prophetifche Literatur leicht nach ihrer gefchicht-
liehen Folge anordnen können, die .unerreichbare eigentliche
Gefchichte der altteftamentlichen Literatur' ift für
dies Gebiet erreichbar. Ein Fehler des Buches ift auch
die Breite der Darftellung; fein Inhalt hätte auf kleinerem
Räume untergebracht werden können. Kleinere Verfehen
laufen gelegentlich unter. Wenn der Verf. das 13. und
18. Jahr Jofias auf 624 und 619 anfetzt, dann durfte er
fein letztes (31.) nicht ohne weiteres auf 608 fixiren (S. 413).
TniÄ Jef. 3020 darf fchwerlich mit Lehrer überletzt werden
(S. 378) und lyraa iJri3 Seph. 318 nicht mit ,die fern von
der Verfammlung Trauernden' (S. 553). Hab. 15 werden
die Völker nicht angeredet (S. 540). Prov. 163:) heifst es:
im Bufen (des Gewandes) wird das Loos gefchüttelt,
nicht: in den Schoofs fällt das Loos (S. 722). Hiob er-
fcheint C. 29 nicht als Stadtbewohner (S. 762).

Ich fchliefse mit dem Wunfche, dafs das Buch dazu
beitragen möge, dafs die Aufgabe der altteftamentlichen
Einleitung allfeitiger erfafst und gelöft wird als bisher.

Göttingen. R. Smend.

Holtzmann, D. Oscar, Leben Jesu. Tübingen 1901, J.C. B.
Mohr. (XVI, 428 S. gr. 8.) M. 7.60; geb. M. 10.—

Wieder ein Leben Jefu! So ruft angefichts diefes
Titels vielleicht mancher Lefer, unter Hinweis auf die
überreiche einfehlägige Literatur, aus. Und doch ift
diefes neue Leben Jefu keineswegs überflüffig, fondern
behauptet durch feine, auch von einem wohlthuenden 1
Einfchlage warmer perfönlicher Frömmigkeit durchzogene
wiffenfchaftlicheTüchtigkeit und zumal durch feine Eigenart
eine felbftändige Stellung.

Diefe Eigenart finden wir in folgenden drei Punkten: j
1. O. H. hat, unter bewufstem (vgl. S. 4f.) Verzicht auf
eine literarifche Auseinandersetzung mit Vorgängern
und doch für den Kenner die genauefte Vertrautheit mit
den Quellen und der Literatur verrathend, nur feine

wiffenfehaftliche Anfchauung vom Leben Jefu dargeboten
und dadurch allerdings fein Buch — befonders für
den weiteren Theologen-Kreis — viel lesbarer gemacht:
während Fachleute jenen Literatur-Apparat vielleicht ungern
vermiffen. 2. Er baut — im durchgreifenden Unter-
fchiede von dem bekannten grofsen Keim'fchen Werke
■— feine Darfteilung mit vollem Rechte und befeem
Erfolge auf der Grundlage des Marcus-Evangeliums auf.
3. Er fieht die wichtigfte Aufgabe für ein Leben Jefu
nicht in möglichft reicher Material-Entfaltung, fondern
darin, ,aus den mannigfachen Lebensfchickfalen und
Lebensäufserungen Jefu ein einheitliches Bild feiner
ganzen Perfönlichkeit' (p. VIII), eine Erfaffung ,der
perfönlichen Eigenart Jefu' (S. 5) zu gewinnen. So
ift das durch eine Reihe von Vorarbeiten (p. VII sq.) wohl
fundamentirte Leben Jefu von O. H., das auch eine
Reihe neuer Einzel-Unterfuchungen (Jefu Meffias-
glaube und Ethik, der ,Menfchenfohn' u. a.) erft ver-
werthet hat (S. 5), in der That eine Ergänzung, Bereicherung
und theilweife ,Ueberbietung' der bisherigen
Forfchung.

Dem eigentlichen ,Leben Jefu', welches der Herr Verf.
in neun Abfchnitten behandelt, läfst diefer I. eine .Einleitung
' (S. 1—5), in der die Probleme erörtert und
z. Th. neue Gelichtspunkte aufgeftellt werden, und
fodann (II—V) die 4 Abfchnitte: Quellen des Lebens
Jefu (S.6—47), Wendepunkte im Leben Jefu (S.48—61),
Vorgefchichte Jefu (S. 62—82), und Johannes der
Täufer (S. 83—97) vorausgehen.

Was die .Quellen', in specie die chriftlichen, betrifft,
fo kommen die ,in ihrer ganzen Anlage einer der Schriften
des a. t. Propheten-Kanons gleichenden' (S. 22), aus dem
Hebräifchen überfetzten ,Logien', die von Mtth.,
Luk. und — was Ref. bezweifelt — in geringerem Maafse
auch von Mc. benutzt find, und das für Heidenchriften
beftimmte ,griechifche Originalwerk des Mc.-Ev., das
einen .deutlichen Ueberblick über das Wirken Jefu'
bietet, in Betracht. Leider unterfcheidet H. die von
den drei Synoptikern gemeinfam benutzte ,hiftorifche
Grundfchrift' und deren Wurzel, die Johannes Markus
-Aufzeichnungen (Eufeb., H. E. III, 39, 15), nicht
von dem kanonifchen 2. Evangelium, wodurch er
einerfeits genöthigt ift, die (geg. Ho.) durchaus ,ein-
wandfreie' Nachricht des Papias, Joh. Mark, habe nicht
in der rechten Ordnung erzählt, als einen unberechtigten
Vorwurf zu bezeichnen (S. 23), andererfeits jede Möglichkeit
verliert, die fchon mancherlei fecundären Züge
im 2. Ev. zu erklären. Sehr richtig dagegen bemerkt O. H.,
dafs nur das 2. Ev. — vgl. den gefchichtlichen Aufrifs
S. 50—53 — den ftrengen Fortfehritt und die grofsen
Wendepunkte des Lebens Jefu (z. B. das Meffiasbe-
kenntnifs des Petrus Mc. 829 und die erflmalige beftimmte
Leidensvorherfage Mc. 8 39 f.) zur klaren Anfchauung
bringe und damit einen feften Maafsftab für
die richtige Eingliederung der — vielfach ,zeitlofen'
— Herrnworte darbiete (S. 54). Und unleugbar ift diefe
Eingliederung O. H. in vielen Fällen gut gelungen.
Eine fehr, nach des Ref. Anficht zu grofse Werth-
fchätzung läfst O. H. dem Hebräer-Evangelium zu
Theil werden (S. 35—39), das unter die ,grofsen(?)
Quellen des Lebens Jefu zu rechnen', den fynoptifchen
Ew. ,im ganzen gleichartig, aber auch durchaus felb-
ftändig und gleich werthig' (?) fein foll (S. 39). Die
vom Verf. gegebenen Stichproben (vgl. S. 36. 37. 39. 99.
101. 104. 110 u. ö.), befonders die groteske Entrückung
Jefu durch feine ,Mutter', den h. Geift, führen wohl die
Meißen zu einem anderen Urtheil und Refultat.

Aus feiner Schrift über das johanneifche Evangelium
(1887) fchon bekannt ift O. H.'s Stellung zu
diefem, das er nach Inhalt und Form nicht für eine
authentifche Quelle des Lebens Jefu halten kann.
Dem 4. Evangeliften, der, um nur Eines zu nennen, an
der entfprechenden Stelle einfach die Abendmahls-Ein-