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Ausgabe:

1902 Nr. 10

Spalte:

315-316

Autor/Hrsg.:

Lülmann, C.

Titel/Untertitel:

Das Bild des Christentums bei den grossen deutschen Idealisten 1902

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 10.

316

fchlechthin unbegreiflich, wie der Verf. beflreiten kann,
dafs hier Glaubensentfcheidungen gefällt worden find.

Das warme nationale Empfinden des Verf.s, feine
muthige Kritik, fein Eintreten für wiffenfchaftliche Freiheit
und gefunden Fortfchrit, überhaupt die gefammte
Haltung des Buches fichern ihm unfere Sympathie. Ob
die römifch-katholifche Kirche diefe Sprache vertragen
oder gar diefen Vorfchlägen folgen wird? Auch wenn
fich das alte Schaufpiel wiederholt, behält das Buch feinen
hohen Werth.

Marburg. Carl Mirbt.

Lülmann, Prediger Lic. Dr. C, Das Bild des Christentums
bei den grossen deutschen Idealisten. Ein Beitrag zur
Gefchichte des Chriftentums. Berlin 1901, C. A.
Schwetfchke & Sohn. (X, 229 S. gr. 8.) M. 4.80

Das vorliegende Buch ift nicht nur durch das, was
es inhaltlich bietet, verdienftlich und dankenswerth, fondern
es kommt auch gerade zur richtigen Zeit. Denn in
den gegenwärtig fo eifrig gepflogenen Verhandlungen
über das Wefen des Chriftenthums ift es gegenüber dem
einfeitigen und engherzigen Standpunkte der traditio-
naliftifchen Apologetik, den Cremer und Andere im
Gegenfatz zu Harnack in kurzfichtiger Leidenfchaft zur
Geltung zu bringen yerfuchen, erwünfcht und wichtig,
dafs die Anfchauungen einiger der gröfsten deutfchen
Denker über das Chriftenthum in verftändnifsvoller und
felbft nicht fchwerverftändlicher Darlegung denen dargeboten
werden, die fich über jene Streitfrage gern ein
eigenes Urtheil bilden möchten. Hierzu beizutragen ift
allerdings nicht die Abficht, in der der Verf. fein Buch
gefchrieben hat. Denn diefes befteht etwa zum dritten
Theile aus Abhandlungen, die bereits vor einigen Jahren
in der Zeitfchrift für Philofophie und philofophifche Kri-
trik und in den Kantftudien erfchienen find. Sein Plan
alfo ftand dem Verf. fchon feit, bevor an den zur Zeit j
die Gemüther erregenden Streit um das Wefen des
Chriftenthums auch nur zu denken war. Und der Verf.
felbft fpielt auch noch nirgends darauf an. Um fo erfreulicher
ift jedoch die Thatfache, dafs fein Buch ganz
abfichtslos in jene Debatte die Erinnerung an das hineinwirft
, was die grofsen Idealiften der beiden letzten Jahrhunderte
zur Deutung des Chriftenthums geleiftet haben.
Wird fo aber der Blick der (Leitenden Parteien auf
manche wichtige Gefichtspunkte hingelenkt, die aufser
den bisher geltend gemachten geeignet find, die Frage
felbft zu fördern, fo hilft das vorliegende Buch vielleicht
dazu mit, dafs die Auseinanderfetzung nicht in der Sackgaffe
decken bleibt, in die fie durch die von Harnack leider
nicht einfach ignorirte Cremer'fche Vexirfrage hineinge-
rathen ift, ob Chriftus in das Evangelium hineingehört
oder nicht.

Die grofsen Idealiften, deren Anflehten der Verf.
reproducirt und beurtheilt, find Leibniz, Leffing, Kant,
Fichte, Sendling, Hegel, Schleiermacher. Dafs aufser
ihnen auch noch andere hätten herangezogen werden
kö nnen, fagt der Verf. felbft, indem er eine folche Ergänzung
und Fortfetzung feiner Arbeit fich für die Zukunft
vorbehält. Dennoch ift es zu bedauern, dafs unter
den bisher von ihm befprochenen grofsen Denkern nicht
auch fchon Herder feinen Platz gefunden hat, der in
mehr als einer Hinficht als Schleiermacher's Vorgänger
angefehen werden darf, und der gleich diefem den fechs
Philofophen, die der Verf. uns vorführt, in der Treff-
ficherheit eines homogenen Verftändnifses für die Religion
weit überlegen war. Der Gefammtinhalt des Buches hätte
fo an Gefchloffenheit und Abrundung wefentlich gewonnen,
und ein gröfserer Reichthum an fruchtbaren Gefichts-
punkten zur Deutung des Chriftenthums wäre zu den
zum Theil einfeitigen und .überfpannten Anflehten der
rein philofophifchen Idealiften hinzugekommen.

Aber freilich, der Verf. hat es überhaupt nicht auf
Vollftändigkeit abgefehen, indem er den Cyklus jener
fieben hervorragenden Denker uns vor Augen ftellt. So
hat er denn auch nicht etwa eine eigentliche Gefchichte
des deutfchen Idealismus in feinem Verhältnifs zum
Chriftenthum gefchrieben und fchreiben wollen. Sein
Buch umfafst vielmehr fieben Monographien, die felb-
ftändig neben einander flehen, und die im Wefentlichen
nur durch ihre inhaltliche Verwandtfchaft zufammenge-
hören. Allerdings fehlt es dabei nicht auch an Hin-
weifungen auf die hiftorifchen Zufammenhänge, in denen
gewiffe Auffaffungen der verfchiedenen Idealiften unter
einander ftehen. Doch find dem Verf. wichtiger als diefe
Verbindungsfäden die Anflehten jener Denker felbft und
die kritifche Auseinanderfetzung mit ihnen. Ferner führt
der Verf. die von ihm reproducirten Gedankenbildungen
durchweg in ihrer abfchliefsenden Geftalt vor, indem er
auf deren frühere Entwickelungsftadien nur nebenher
feinen Blick richtet. So wird auch im Einzelnen der
Stoff nicht hiftorifch-genetifch, fondern, wie der Verf.
felbft fich ausdrückt, in ,organifcher Verarbeitung und
fyftematifcher Gliederung' vergegenwärtigt. Da der Verf.
nicht fowohl den Fachgelehrten, als feinen Berufsge-
noffen und den Gebildeten überhaupt einen Dienft
erweifen will, ift diefe Darftellungsweife nicht zu bean-
ftanden. Immerhin find durch fie die Schranken bedingt
, innerhalb deren fich das von dem Verf. dargebotene
bewegt. Insbefondere bei Sendling und bei
Schleiermacher wirkt das von ihm entworfene Gefammt-
bild ihrer Anfchauungen unvollftändig. Es wäre doch
richtiger gewefen, wenn die Leiftung Schleiermacher's
von der erften Auflage der Reden ftatt von der Glaubenslehre
aus beftimmt worden wäre. Wenn der Verf. nämlich
die Reden vor Allem auch unter dem Gefichtspunkte
beurtheilt, dafs fie ein Chriftenthum ohne Chriftus vertreten
, fo liegt diefer Auffaffung eine Frageftellung zu
Grunde, vermöge deren man dem eigentlichen Verdienft
jenes Buches nicht ganz gerecht zu werden vermag.
Denn gerade die unbeirrt confequente religiöfe Weitherzigkeit
der Reden war innerlich nothwendig als das
Correlat der Einficht in das eigentliche Wefen der Religion
, deren charakteriftifche Eigenart Schleiermacher
mit dem congenialen Blick des Kenners zum erften Male
deutlich und klar erfafste, wenn fich damit zunächft
auch gewiffe Einfeitigkeiten verbanden, die er fpäter felber
mehr oder weniger reducirt hat. Den Gedanken der
Reden aber, dafs Jefus, wenn auch der Urheber der Idee
der religiöfen Vermittelung, fo doch nicht der einzige
religiöfe Mittler fei, vertritt nur in anderen Wendungen
auch wieder § 6 der Glaubenslehre, und deren Lehre von der
Urbildlichkeit des Erlöfers ift andererfeits gleichfalls in
jener platonifirenden Anficht der Reden von Jefus als dem
perfönlichen Urheber der alle Religion überhaupt um-
faffenden religiöfen Grundanfchauung des Chriftenthums
zum wenigften vorgebildet. Auch fonft find die Maafs-
ftäbe der von dem Verf. geübten Kritik zum Theil nicht
flüffig genug, um nicht gelegentlich hinter dem Typus
einer immanenten Kritik zurückzubleiben. Dennoch
zeichnet fich im Ganzen das Urtheil des Verf. durch
Verfländnifs, Befonnenheit und Gerechtigkeit aus. Die
lediglich darffeilenden Abfchnitte feines Buches aber find
umfichtig, klar und knapp und demgemäfs auch inhaltreich
und lehrreich.

Bonn. O. Ritfchl.

Berichtigung.

In der Anzeige von Helfenberg, Analecta (Theol.
Litztg. Nr. 9, Sp. 276) mufs es ftatt ,Befchreibung der
Apoftelgefchichte' heifsen ,Befchreibung der Apoftel-
kirche'. Ph. Meyer.