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Ausgabe:

1902 Nr. 10

Spalte:

302-305

Autor/Hrsg.:

Reitzenstein, Richard

Titel/Untertitel:

Zwei religionsgeschichtliche Fragen nach ungedruckten griechischen Texten der Strassburger Bibliothek 1902

Rezensent:

Anrich, Gustav Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 10.

302

Doch wichtiger als all dies ift für M. und für uns,
zumal feit dem Erfcheinen des Wrede'fchen Buches über
das Meffiasgeheimnifs in den Evangelien die Frage, ob
Markus im allgemeinen — mehr wird man von vornherein
nicht annehmen können — chronologifch erzählt. M. behauptet
es, beweift es aber doch eigentlich nur für die
Schilderung des Verhältnifses Jefu zu den Zwölfen, das
in der That im wefentlichen fich fo entwickelt haben
wird, wie es Markus darftelien mufste. Aber dafs er
ebenfo in den Exorzismen und Heilungen Jefu oder den
Gegenftänden feiner Lehre eine Entwickelung auch nur
aufweifen wollte, fcheint mir fchon zweifelhaft; mehr
noch, ob er dem Petrusbekenntnifse die epochemachende
Bedeutung zufchrieb, die ihm — vorausgefetzt, dafs es
mit der anfchliefsenden Leidensweisfagung gefchichtlich
ift — thatfächlich zukam. So wird der Evangelift neben
der felbftverftändlichen Zeitordnung, von der ich fchon
fprach, und gewiffen Verknüpfungen, die ihm die Ueber-
lieferung darbot — hierhin gehören vor allem die Parallelberichte
6, 31— 7, 37 und 8, 1—26 — im wefentlichen
eine Sachordnung befolgt haben, die man, je nachdem
man gröfsere oder kleinere Abfchnitte zufammennimmt,
immer verfchieden auffaffen wird. M. unterfcheidet folgende
Abfchnitte: 1,16—45 opcningoftheministry,2,1—3,6
growth of Opposition, 3 ,7—6, 13 prospcrous early ministry,
6, 14—8, 26 Jesus at the hcight of his activity, 8, 27—10, 45
shadow of the passionjourneys, lessons, 10, 46—12,4$ Jesus
at Jerusalem, Cap. 13 Jesus foretclls the future, 14 und 15
the passion, 16, 1—8 the cmpty tomb; Zahn (Einleitung -II,
223ff.) und Wernle (die fyn. Frage 195f.) nehmen dagegen
, um nur diefe beiden letzten Arbeiten zu nennen,
3 bez. 16 Abfchnitte an.

Damit find wir bereits — und die Einleitung enthält in
der That fonft nichts Befonderes — zu dem Commentar
übergegangen, derzunächftdemim Anfchlufse an Tifchen-
dorfundWeftcott-Hort hergeftellten Text eine moderne
Ueberfetzung gegenüberftellt und darunter eine ausführliche
Erklärung giebt, der ftellenweife wieder Anmerkungen
in noch kleinerem Drucke beigefügt find. Den
Hauptnachdruck legt M. auch hier auf die Prüfung der
Glaubwürdigkeit; ich hebe alfo vor allem feine Beurtheil-
ung einiger Wundergefchichten heraus.

Zunächft die Dämonifchen werden natürlich als
Geifteskranke aufgefafst, zugleich aber mit ähnlichen Er-
fcheinungen in China und Indien verglichen, durch die
jene Erklärung noch einleuchtender wird. Hätte M. das j
vorhin erwähnte Buch von Wrede fchon benutzen können,
fo würde er wohl auch (wie übrigens bereits H oltzmann) j
das Mefiiasbekenntnifs des Befeffenen Im für ungefchicht-
lich erklärt haben, zumal er darauf aufmerkfam geworden
war, dafs es auf die Verfammlung gar keinen Eindruck
zu machen fcheint. — Die Heilung des Ausfätzigen wird
umgekehrt wohl gerade unter Holtzmann's Einflufs zunächft
wenigftens in eine Für-rein-erklärung umgedeutet, j
obwohl M. dann fortfährt: on the whole, hoivever, wc
cannot escape the conclusion that the Störy is meant to teil
not of a declaration of eure but of the eure itself — Die
Heilung 31 fT. foll, weil als Sabbathentheiligung aufgefafst, i
a piece of work fein; aber auch der Gebrauch einer Be-
fchwörungsformel wird bereits fo angefehen. — Durch- i
aus zutreffend ift dagegen wieder die Erklärung der Ge- j
fchichte von der Stillung des Sturms, deren Kern M. in
dem Worte findet: tl öetXol eors ovxcoq; jicöq ovx ixtxe j
Moxin; — wie den der Erzählung^ von der Auferweckung
des Mädchens in dem Urtheil: xd Jtaiöiov ovx ciMttravev
aXXd xct&tvött. — Auch die Schilderung von der Heilung
des Taubftummen (und Blinden 822fr.) kann man fich zunächft
fo zurechtlegen, wie M. will: on having the patient j
handed over to htm Jesus at onee isolates him, as the j
physician still does, from the crowd. He must secure his j
undivided attention, for the eure is not to be aecomplished
without the patienfs co-operation. He then puts Ins fingers
into the ears which are the fr st seat of all the trouble;

I the patient is to think that some ehange is to be effeeted
there. Aber fchon die Verwendung des Speichels (der
übrigens in den verfchiedenen Handfchriften an verfchie-
j denen Stellen erfcheint) ift kaum gefchichtlich; gefchweige
I denn dafs man fortfahren dürfte: then the Master looks
I up to heavett; the blessing is to eome from there on what
is sought to be done on earth; and then he sighs dceply,
j which might be taken to denote the act, to be imitated by
the patient, of forcing up a blast of air from the lungs into
the ear-tubes and the mouth, as if to clear away any ob-
I struetion which may exist there. Auch nur folche Mittel
hat Jefus gewifs nicht gebraucht; das ioxtvat-ev mufs ent-
fchieden von einem Gebetsfeufzer verttanden werden.
Aber im allgemeinen hat M. gewifs Recht, wenn er fchon
in der Einleitung bemerkt: J have not used the word
lmiracle in this commentary, as it appears to me quite in-
appropriate to describe the powers' Jesus is here deseribed
as aecomplishing.

Es fehlt leider an Raum, um auch andere Erzählungen
I an der Hand des M.'fchen Buches auf ihre Gefchichtlich-
keit zu prüfen; fonft würde ich gern zu zeigen fuchen,
dafs z. B. das Wort 715 nicht als xctnafioXri aufgefafst
| werden kann (vgl. J ü 1 i c h er, die Gleichnisreden Jefu II, 54fr.),
! dagegen die Leidensweisfagungen im wefentlich gefchicht-
j lieh fein mögen. Aber auch wo man fo von M. abweichen
zu müffen glaubt, wird man doch feine Ausführungen
mit gefpannteftem Intereffe verfolgen; er ift
immer mit allen in Betracht kommenden Problemen genau
vertraut und trifft nirgends feine Entfcheidung nach irgend
welchen vorgefafsten Meinungen. So bedeutet fein Buch
namentlich fürEngland einen ungeheueren Fortfehritt; aber
auch bei uns wird es hoffentlich recht viele Lefer finden,
die daraus noch beffer als bisher lernen, die Evangelien
vor allem auf ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen und fie zu
diefem Zwecke principiell wie andere hiftorifche Quellen
zu betrachten.

Halle a. S. Carl Clemen.

Reitzenstein, R., Zwei religionsgeschichtliche Fragen nach
ungedruckten griechischen Texten der Strassburger Bibliothek
. Mit zwei Tafeln in Lichtdruck. Strafsburg 1901,
K. J. Trübner. (VIII, 149 S. gr. 8.) M. 5.—

Es gab eine Zeit, da man mit der Annahme ägyp-
tifcher Einflüfse auf die griechifche Culturentwickelung
rafch bei der Hand war. Der Rückfchlag konnte nicht
ausbleiben. Dafs aber die Frage, welchen Einflufs die
ägyptifche auf andere Culturwelten geübt hat, von neuem
aufgeworfen werden mufs, zeigen u. a. die im vorliegenden
Buche mitgetheilten Urkunden aus der neugegründeten
Strafsburger Papyrus- und Oftrakon-Sammlung. Da
ihr Herausgeber fie zugleich im Zufammenhange mit den
Fragen befpricht, die aus ihnen neues Licht empfangen,
hat fich ihm die Befprechung der Documente zu werthvollen
religionsgefchichtlichen Unterfuchungen geftaltet

I. Das erfte, aus der Zeit des Antoninus flammende
Papyrusfragment (S. 1—46) giebt eine vor dem römifchen
Oberpriefiter von Aegypten geführte Verhandlung wieder,
in der einige Priefter aus einem kleinen Orte um die Erlaubnis
zur Befchneidung — koaxixcöq xeqixeueIv— ihrer
Söhne erfuchen, nachdem dasfelbe Gefuch bereits dem
Staatsbeamten, dem Strategen, vorgelegen hat. Dies
Protokoll ergänzt ähnliche Urkunden der Berliner Sammlung
, die Fr. Krebs im Philologus LIII veröffentlicht hat.
Diefe Stücke veranlaffen den Verf., unter Zuziehung des
fonfligen literarifchen Materiales, die Frage nach der Verbreitung
und dem Sinne der Befchneidung in Aegypten
aufs neue zu unterfuchen. Sein, nur als Hypothefe fich
gebendes (S. 43), Refultat ift folgendes: Die Befchneidung
befchränkt fich in Aegypten auf die Priefter, eventuell mit
Einfchlufs des weiteren Tempelperfonales. Da die Priefter-
würde erblich ift, wird die Geftattung der Befchneidung