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Ausgabe:

1902 Nr. 10

Spalte:

297-300

Autor/Hrsg.:

Meyer, Heinr. Aug. Wilh.

Titel/Untertitel:

Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. 1. Abth., 2. Hälfte: Die Evangelien des Markus und Lukas. 9. Aufl 1902

Rezensent:

Clemen, Carl

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297

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 10.

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Rahmen einer Recenfion bedingt, habe ich mich hier auf
die negative Seite befchränken muffen; ich hoffe, dem-
nächft an anderer Stelle das Pofitiv dazu geben zu können.

Marburg. R. Kraetzfchmar.

Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament,

begründet von Heinr. Aug. Wilh. Meyer. 1. Abtheilung
, 2. Hälfte. — 9. Auflage. Die Evangelien des
Markus und Lukas. Von der 6. Auflage neu bearbeitet
von wirkl. Oberconfiftorialrath Prof. Dr. Bernhard
YVcifs. Göttingen 1901, Vandenhoeck & Ruprecht.
(IV, 694 S. gr. 8.) M. 8.—; geb. in Halbleder M. 9.50.

,Die Erklärung des Markusevangeliums', fo fagt der
Verf. felbft im Vorworte zu feinem Werke (III), ,erfcheint
in der neuen Auflage nur durch die Berückfichtigung
neuer Kommentare oder neuer Auflagen von Kommentaren
vermehrt, im übrigen meift nur im Ausdruck
überfichtlicher und fchärfer gefafst. . . Die Erklärung
des Lukasevangeliums dagegen ift ein ganz neues Buch j
geworden. In der 8. Auflage, die mein Sohn bearbeitet
hatte, war die Anknüpfung an den urfprünglichen Wortlaut
des Meyer'fchen Kommentars aufgegeben, und ich I
glaubte mich daher nun auch von demfelben dispenfieren
zu können. Wohl aber meinte ich mich auch der Kontinuität
wegen durchweg eingehend mit der 8. Auflage i
auseinanderfetzen zu muffen, wodurch es nothwendig
wurde, tiefer auf die kritifchen Fragen einzugehen, als i
ich es fonft für die Zwecke des Meyer'fchen Kommentars
(für) angezeigt halten würde'.

Achten alfo auch wir zunächff auf diefe Dinge, fo
ift ja B. Weifs' Stellung dazu im allgemein längft bekannt
: alle drei Synoptiker find von der apoflolifchen
Quelle, Matthäus und Lukas aufserdem von Markus abhängig
. Nachdem aber J. Weifs in der 8. Auflage die j
Theorie von einem kürzeren Urmarkus vertreten hatte,
mufste B. Weifs, um feine Pofition feftzuhalten, auch j
diefe Hypothefe zurückweifen und erreicht das in der
That fchon durch die allgemeine Bemerkung S. 256, dafs
diefe angeblichen Zufätze gerade in Stil und Darftellungs-
weife durchweg den Charakter unferes Markusevangeliums
tragen und theilweife mit der ihm eigenthümlichen Com-
pofition auf's engfte zufammenhängen. Mifslungen er-
fcheint mir dagegen die fchon von der 8. Auflage verruchte
Widerlegung der Hypothefe Simons; denn wenn i
B. Weifs es für undenkbar erklärt, ,dafs Lukas, der an
dem Beifpiel des Markus zeigt, wie ausgiebig er feine
Vorgänger benutzt hat, einem, ebenfo wie diefer, augen-
zeugenfchaftliche Ueberlieferungen verarbeitenden Evan-
geliften gegenüber fich fo zurückhaltend benommen
haben follte' (S. 256 f.), fo fetzt er voraus, dafs Lukas das
eiftc Evangelium ebenfo wie Markus (und die andere
Quelle) beurtheilen mufste. was doch, wenn er es nach
feinem Prolog 1,2 ficher nicht als Werk des Matthäus
kannte, keineswegs felbftverftändlich ift. Auch dafs
Lukas unmöglich Einzelzüge des Markus blofs darum
fortgelaffen haben kann, weil fie bei diefem Evangeliften
fehlten', (S. 257) läfst lieh nur behaupten, wenn diefe
Thatfache auf andere und beffere Weife erklärt wird
und ob das angeht, ift eben die Frage, die auch Wernle
(Die fynoptifche Frage 50fr.) — und Soltau (Unfere
Evangelien 70,1) bezeichnet das mit Recht als einen
Hauptmangel feiner Arbeit — viel zu leicht nimmt.
Man meint eben vielfach, ,dafs, fobald irgend eine Benutzung
des 1. Evangeliums zugegeben wird, jede Berechtigung
fortfällt, eine vom 1. und 3. Evangelium benutzte
Quelle desfelben anzunehmen, d. h. dafs dadurch
die Grundvorausfetzung, auf der die ganze Zweiquellentheorie
der modernen Kritik fufst, aufgegeben wird' (S. 257).
Aber in Wahrheit ift diefe Befürchtung doch ganz unbegründet
, denn die Uebereinftimmung, die der 1. und
3. Evangelift ganz wefentlich in Reden zeigen, ift eine

viel weitergehende als die in der Anordnung des
Ganzen und einzelnen erzählenden Zügen. Man hat
daher auch abgefehen von der Notiz des Papias, die ich
auf das Matthäusevangelium beziehe, kein Recht, mit
B. Weifs u. a. eine Quelle anzunehmen, die in reicherem
Maafse Erzählungsftücke enthielt; ja felbft dann bleiben,
wie jener felbft hervorhebt, Berührungen zwifchen dem
1. und 3. Evangeliften übrig, die fich nur aus der fpäteren
mündlichen Ueberlieferung oder dem Spiele des Zufalles
erklären laffen follen. Aber ift das fchon hier manchmal
ungenügend, fo noch mehr, wenn wir die Quelle als
Spruchfammlung in der Weife Wernle's faffen: dann
find die Uebereinltimmungen zwifchen Matthäus und
Lukas gegenüber Markus auch aufserhalb jener fo zahlreich
, dafs fie nur aus directer Abhängigkeit des einen
vom andern erklärt werden können.

Da, wie gefagt, diefe Frage feit Simons nirgends
eingehend behandelt worden ift — auch Hawkins,
Horae synopticae 173 ff. ift doch noch nicht vollftändig

— (teile ich einmal alle jene Uebereinltimmungen wenig-
ftens aus den erften Capiteln des Lukasevangeliums zu-
fammen, die nicht als zufällig oder natürlich betrachtet,
d. h. als unabhängige Glättungen, Kürzungen oder Erklärungen
des Markustextes erklärt werden können.
Ich rechne dazu zunächft das xaxTjXvEV tig Ka(paovaov[i 4,31,
das mir mit Mt. 4,13 zufarnmenzuhängen fcheint; ja die
programmatifche Scene in Nazareth ift wohl zum Theil
deshalb vorangeftellt worden, um die Ueberfiedelung
nach Kapernaum zu erklären. Dann aber wird auch
Lukas von Matthäus abhängig fein und nicht umgekehrt;
denn nur bei diefem wird die Ueberfiedelung ausdrücklich
berichtet; Lukas ift nur von ihm aus zu verftehen.

— Weiterhin ftimmt er 5,12 mit Matthäus in dem xctl
löov, xvqis, xctl (ohne öjrxay/fiöd-f/c) ExxEivaq xrv yßQa
tjtpaxo avxov mit folgendem Verbum des Redens im
Particip, tvO-scog überein: jedes einzelne Zufammentreffen
gewifs nicht beweifend, aber vereint doch mindeftens
auffällig. — Ebenfo fteht es 5, i8f. mit xal löov, eml
xX'ivrjq, der Erfetzung des 6x1 ovxmq öiaXoylC,ovxai des
Markus durch ein Subftantiv mit avxmv. eIxev, xal jieqc-
exäxti; 5, 361. mit EJtißäXX.Ei. uiflE, dem Gebrauche von
ex%Elod-ai und dem Zufatz Vers 38; 6, 1 ff. mit der Erwähnung
des Effens der Jünger, der Weglalfung des
oöbv jioleIv, dem eijcov , der Hereinziehung des xolg
odßßaoiv in den Relativfatz, der Erfetzung von ovöexoxe
durch ovöi, der Streichung von oxe yoEiav eOjev xai,
von Ejtl 'Aßid&aQ doxiEQEvjg und Mc. 2, 27; 8, 24k mit
dem MQoOEXd-ovxEg öe, folgendem Aorift und Xiyovxsq,
blofsem aJtoXXvfiEO-ct, dem E&avciaoav XiyovxEq und der
Pluralifirung des Windes; 8, 41 ff. mit dem löov, ccqxcov.
&vyaxr/Q, jtooösX.d-ovöa xov xqüOjceöov. Ich wiederhole
nochmals: gewifs könnten diefe Berührungen jede für
fich zufällig fein; aber auf fo engem Räume zufammen-
gedrängt, laffen fie fich auch nicht nur aus fpäterer
Harmonifirung oder einem nur fprachlich abweichenden
Urmarkus erklären, fondern lediglich aus directer Abhängigkeit
des 3. Evangeliften vom erften. Wenn Wernle
dagegen endlich noch geltend macht (54): ,Die ungeheure
fprachliche Freiheit dem Markus gegenüber läfst fich
mit folch peinlicher Gebundenheit an Matthäus gar nicht
zufammendenken', fo übertreibt er die eine fo gut wie
die andere; in Wahrheit fchliefst fich Lukas zumeift an
Markus an, nur gelegentlich an Matthäus.

Doch auch B. Weifs nimmt neben jenen beiden für
Lukas noch eine dritte Quelle an, die er ihm aber, anders
als fein Sohn, nicht mit der apoftolifchen Quelle verbunden
, fondern befonders vorliegen läfst (S. 258 fr.).
Ich kann weder das eine noch das andere für erwiefen
anfehen, obwohl ja der Prolog gewifs noch andere
Evangelien vorausfetzt, die Lukas aber nicht benutzt zu
[ haben braucht. Selbft die Kindheitsgefchichte ift nicht
nothwendig aus einer befonderen Quelle abzuleiten; denn
der Stil ift im allgemeinen derfelbe, wie fpäter, und fo-