Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1902 Nr. 9

Spalte:

271-273

Autor/Hrsg.:

Wehofer, Thomas M.

Titel/Untertitel:

Untersuchungen zur altchristlichen Epistolographie 1902

Rezensent:

Knopf, Rudolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

271

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 9.

272

nifse ift. Der als hervorragender Philologe bekannte
Verf. ift auch ein gründlicher Kenner der altchrift-
lichen Literatur. Er fchildert zuerft die neuteftament-
liche Literatur in ihrer Eigenart und in ihrem Gegen-
fatze zum Griechenthum. In treffender Weife wird der
nicht feiten übertriebene griechifche Einfchlag im Neuen
Teftamente auf fein richtiges, fehr befcheidenes Maafs
zurückgeführt. Von diefer Urzeit, in welcher chriftlicher
Glaube und weltliche Wiffenfchaft als Gegenfätze empfunden
wurden, geht der Verf. fogleich auf diejenige
Periode über, in welcher die griechifche Wiffenfchaft in
ihrem vollen Umfange vom Chriftenthum aufgenommen
wurde. Das Verdienft, diefen grofsen Schritt gethan zu
haben, gebührt den Alexandrinern. Wenn das Chriftenthum
hierdurch auch erhebliche Modificationen erfahren
hat, fo ift es doch erft dadurch zur Ueberwindung der
antiken Cultur und zur Weltherrfchaft befähigt worden.
Die Bedeutung der alexandrinifchen Unterrichtsanftalten
kann daher nicht leicht überfchätzt werden. Alexandria
hat für die chriftliche Wiffenfchaft eine ähnliche Bedeutung
wie für die antike. Die führenden Geifter waren
Clemens und Origenes. Durch ihren und ihrer Schüler
Einflufs ift nicht nur die Philofophie, fondern die gelehrte
Bildung der Griechen überhaupt mit Einfchufs von Mathematik
und Naturwiffenfchaften ein Gemeingut der Chriften
geworden. Denn der Strom, der von hier ausging, verbreitete
fich über die ganze chriftliche Welt. Die nähere
Schilderung diefer Thatfache und die Würdigung ihrer
Bedeutung möge man bei dem Verf. felbft nachlefen.

Göttingen. E. Schürer.

Wehofer, P. D. Thomas M., Untersuchungen zur altchristlichen
Epistolographie. (Sitzungsberichte der kaif.
Akademie der Wiffenfchaften in Wien. Philofophifch-
hiftorifche Claffe, Band CXLIII, Nr. XVII). Wien 1901,
C.Gerold'sSohn in Komm. (230S. gr.8.m.Fig.). M. 5.—

Der Verf. ftellt fich die Aufgabe, die Stilgefetze aufzuzeigen
, nach denen gewiffe altchriftliche Briefe compo-
nirt wurden. Er findet, dafs es die von D. H. Müller (Die
Propheten in ihrer urfprünglichen Form, Wien 1896) gefundenen
Stilgefetze der femitifchen Poefie feien, nach
denen mehr oder weniger bewufst, die frühchriftlichen
Schriftfteller ihre Erzeugnifse geftaltet hätten. Diefe
Stilgefetze find das Gefetz der Refponfion (zwei oder
mehrere nebeneinander geftellte Gedankenbündel, Strophen,
werden fo gebaut, dafs die Gedanken der Gegenftrophe im
Inhalte und in der Form den Gedanken der Strophe entweder
parallel oder antithetifch entfprechen), das Gefetz
der Inclufion (zwei oder mehrere Strophen, die durch
Refponfion innerlich zufammenhängen, werden als logi-
fche und äfthetifche Einheit zufammengefafst und von
vorhergehenden oder nachfolgenden Strophengruppen
deutlich gefchieden), das Gefetz der Concatenation
(die einzelnen Strophen oder Strophengruppen werden
miteinander verbunden, was dadurch gefchieht, dafs der
Gedanke, mit dem die eine Strophe fchlofs, am Anfange
der nächften wiederholt wird). Diefe Gefetze der femitifchen
Literatur (der Poefie und der Redekunft) find
nach dem Verf. auch in gewiffen altchriftlichen Briefen,
die von .Propheten' gefchrieben find, verwendet. Die
altchriftliche Briefliteratur ift femitifche Kunftprofa im
Gewände der griechifchen Sprache, legitime Fortfetzung
der hebräifchen Prophetie.

W. verfährt, nachdem er an der Spitze des Buches
die Müller'fchen Gefetze zufammenfaffend dargelegt hat,
im Folgenden fo, dafs er zunächft über gewiffe jüdifch-
griechifche Briefe handelt, die als Vorläufer chriftlicher
Epiftolographie zu gelten hätten, dann kurz die Genefis
eines judenchriftlichen Prophetenbuches, des Hermasbuches
, befpricht, um endlich, und das ift der Hauptinhalt
des Buches, in der Compofition von II. Gem.,

Barn., I. Gem. den Einflufs der femitifchen Stilgefetze
nachzuweifen.

Die Frage, die W. in feinem klar und wohlüberlegt
gefchriebenen Buche zu löfen verfucht, ift fehr
wichtig, und man mufs ihm auf jeden Fall für feine eingehenden
Unterfuchungen Dank wiffen, auch wenn man
feine Ergebnifse nicht annimmt. Ich mufs nun leider
bekennen, dafs ich, einen geringen Bruchtheil feiner Ergebnifse
abgerechnet, ihm nicht beiftimmen kann.

Wiefo kam es, dafs die altchriftlichen Schriftfteller
darauf verfallen konnten, auf Grund von femitifchen
Stilprincipien, ihre Schriftftücke zu componiren? W. fagt:
fie waren alle von Haus aus geborene Juden oder Juden-
chriften, und die ausfchliefsliche Literatur, in der fie
heranwuchfen, war die LXX. Der erfte Theil diefer
Thefe ift höchft anfechtbar, kaum bei I. Gem., und
gar nicht bei II. Gem. oder Barn, ift es auch nur wahr-
fcheinlich zu machen, dafs diefe Stücke von Männern
jüdifcher Raffe gefchrieben feien. Was weiter den Einflufs
der LXX anlangt, fo ift auch er, m. E., für das
Formale der altchriftlichen Literatur nicht zu über-
fchätzen. Freilich hat die LXX auch formal in der
alten Chriftenheit ftark gewirkt. Gerade ihre ungriechi-
fche Eigenart, die abfonderlich, feierlich und dabei anziehend
wirkte, forderte zur Nachahmung auf. Aber es
handelte fich dabei nur um Kleinigkeiten der Diction
und des Redefchmuckes: keine Perioden, kleine Kola,
Parallelismus und Antithefe der Satzglieder, Ifokolie,
Anapher, Homöoteleuton. Und was bei der Behandlung
der Frage, ob in folchen Dingen Einflufs der LXX feft-
zuftellen fei, die Entfcheidung fo fchwer macht, ift dies:
die genannten Kunftmittel find ohne Ausnahme vertrautes
Eigenthum der gleichzeitigen Rhetorik, und gewiffe
Elemente diefer Rhetorik flogen einem jeden Zeit-
genoffen an: wenn er nicht fchon auf der Schule etwas
davon lernte, fo brachte ihm das Leben fo und fo
oft Gelgenheit, im Gerichtsfaale und auf dem Markte, gehobene
Profa zu hören, in einer Zeit, wo namentlich
bei den Hellenen Disputiren und Schwatzen die einzige
und höchfte Kunft war, an der man fich förmlich
beraufchte. Wer will da fagen, dafs z. B. das ftarke
Homöoteleuton in I. Gem. 1 2, die grofse £«7oc-Anapher
I. Gem. 47—64, die Antithefe in II. Gem. 11 1, der Parallelismus
in Barn. 41 Einflufs von LXX-Diction ift? Blafs
und J. Weifs haben eine Reihe von Elementen griechi-
fcher Rhetorik bei Paulus nachgewiefen, fchon Auguftin
hat fie bemerkt, und Paulus war doch ein Jude und hat
zu Füfsen des Gamaliel und nicht zu denen eines griechifchen
Rhetors gefeffen.

Wenn nun fchon in dem äufseren Aufputz der Rede,
der leichter nachzuahmen war, der Einflufs der LXX
ziemlich problematifch ift, dann mufs man von vornherein
noch viel fkeptifcher fein, wenn Nachahmung der
viel fchwierigeren femitifchen Strophik behauptet wird.
In den altchriftlichen Briefen findet W. keinen architek-
tonifchen Aufbau nach den Vorfchriften der zünftigen
Rhetorik, fondern nur ein Fortfehreiten von Gedankenbündel
(Strophe) zu Gedankenbündel, die durch In-

| clufion getrennt, durch Concatenation verbunden werden,

| es ift ein Arbeiten mit den Kunftmitteln der Prophetenbücher
in der LXX. Es ftimmt vollkommen, dafs die

j genannten Schriften keine architektonifche, auf fyllogifti-
fcher Grundlage aufgebaute Dispofition zeigen. Aber
wenn rhetorifch ungefchulte Leute — und das waren
die Verfaffer jener Schreiben — fich ans Schriftftellern
(oder auch ans Redenhalten) machten, was konnten fie

1 da anders thun, als Thema für Thema herzunehmen,
was fie darüber zu bemerken hatten, herauszufagen

J und die Uebergänge von einem Thema zum andern,
fo gut es ging, oft nur durch Wortanklänge, her-
zuftellen? Für ihr Bewufstfein find die Ausführungen
dennoch einheitlich gewefen. II. Gem. findet, er habe
keinen geringfügigen Rath über die Enhaltfamkeit