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Ausgabe:

1902 Nr. 8

Spalte:

251-252

Autor/Hrsg.:

Köstlin, D.H.A.

Titel/Untertitel:

Predigten und Reden 1902

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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251

Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 8.

252

fein der Dinge von ihrem Sein an und für fich unter-
fchieden wird. Von diefem Standpunkte aus find auch
die Kategorien nicht, wie Kant will, leere Denkformen
ohne jeglichen Inhalt, fondern fie find ein Ausdruck
dafür, dafs in den Wahrnehmungsinhalten fich Wefen-
heiten manifeftiren, die unabhängig vom erkennenden
Subjecte find und handeln. Ihr eigener Inhalt aber flammt
aus einem Verhalten des Ichs, das fich der inneren Erfahrung
unmittelbar kundgiebt. Das Urbild aller Caufalität
z. B. ift das Verhältnifs der Willensintention zur Handlung
, das der Subftantialität das Verhältnifs eines Ichs als
Einheitspunkt zu feinen Erlebnifsen (S. 63). Wenn wir
alfo ausfagen, in der Aufsenwelt gebe es Caufalität, fo
meinen wir damit nicht blofs, es beftünde eine gewiffe
Regelmäfsigkeit des Gefchehens, fondern dies, dafs ein
Vorgang b mit einem anderen Vorgange a nothwendig
verknüpft fei, deswegen, weil wir jedem Dinge eine Art
Willenstendenz beilegen — die fpäter zur abftracten ,Kraft'
wird —, der ein anderes Ding fich gewiffermafsen nicht entziehen
kann, fo dafs es mit einer beftimmten Thätigkeit antworten
mufs. Im letzten Capitel wird noch das Verhältnifs
von Bewufstfein und Sein behandelt. Wie das Sein des
Ichs in dem Haben feiner verfchiedenen Modificationen
aufgeht, fo befleht auch das Sein der Dinge in der Ge-
fammtheit ihrer Qualitäten und Kräfte. ,Es ift nur eine
Welt der Dinge, die bald als folche, bald in Beziehung
auf das Ich betrachtet und dem entfprechend einmal
als Seiendes, das andere Mal als Bewufstfeiendes charak-
terifirt werden' (S. 91).

Im Kernpunkte, in der Stellung zu Kant, find die
Ausführungen des Verf.s doch nicht ganz befriedigend.
Bei der Hinausverlegung des eigenen Ich in das wahre
Sein der Dinge im Sinne der Transfcendenz ift die kri-
tifche Anfechtung jedes Hinausgehens über die Erfahrung
wohl zu leicht genommen. Was die formelle Seite betrifft
, fo haben die an des Verf.s Wörterbuch der philo-
fophifchen Begriffe erinnernden Anmerkungen S. 13 fr.,
25 ff., 95 ff. doch im Verhältnifse zum Zwecke der Schrift
einen zu encyklopädifchen Charakter. Die Anerkennung
aber bleibt beftehen, dafs das Buch eine tüchtige Arbeit
auf erkenntnifstheoretifchem Gebiete darfteilt.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Köstlin, Geh. Kirchenrat Prof. D. H. A., Predigten und

Reden. Giefsen 1901, J. Ricker. (VIII, 270 S. gr. 8.).

M. 3.40; geb. M. 4.20

,Den treuen Freunden im Amte zur Erinnerung an
die gemeinfame Arbeit in Friedberg, Darmftadt, Giefsen'
hat der Verf. das Buch gewidmet. Die Widmung deutet
es an, das Vorwort fpricht es aus, dafs es ein ,Abfchieds-
grufs' ift. Durch feinen Gefundheitszuftand genöthigt, hat
der Verf. fich von aller amtlichen Thätigkeit, der er
als Profeffor am Predigerfeminar zu Friedberg, als Ober-
confiftorialrath zu Darmftadt, als Profeffor der praktifchen
Theologie in Giefsen oblag, zurückgezogen. Das Buch
gliedert fich in drei Abfchnitte: Paftorale Geleitsworte (8),
Predigten (30) und Feftreden (3); in allen redet der
Verf. der , Lehre von der Seelforge nach evangeli-
fchen Grundfätzen' feelforgerlich, mit grofser religiöfer
Wärme und in reichen evangelifchen Gedanken; ,der
Profeffor hat es, wenn er zur Gemeinde zu fprechen
berufen war, für feine höchfte Aufgabe gehalten, der
Gemeinde als Seelforger zu dienen', heifst es im Vorwort
. Die Aufmerkfamkeit der Fachgenoffen ziehen
befonders die ,paftoralen Geleitsworte' auf fich; es find
Anfprachen, mit denen die Zufammenkünfte des ho-
miletifch-katechetifchen Seminars im Winterfemefter
1900/01 eröffnet wurden. Der Titel: ,Geleitsworte'deutet
allerdings mehr auf Abfchiedsreden als auf Eröffnungsreden
hin; die Sitte felbft, jeder Sitzung von vornherein
die richtige Stimmung zu verleihen, dürfte der Nachfolge

I vielleicht werth fein. Unter den Predigten findet fich
j eine grofse Zahl (13), die zu Feiten des Guftav-Adolf-
Vereins, des evangelifch-proteftantifchen Miffionsvereins,
des deutfch-evangelifchen Kirchengefangvereins u. f. w.
j gehalten, unter ihnen auch 4, durch die vaterländifche
Gedenktage verherrlicht find. Der Verf. bewährt darin
nicht nur einen bei aller nüchternen Wahrhaftigkeit be-
geifterungsfrohen vaterländifchen und Kaifer und Reich
mit grofser Liebe umfaffenden Sinn, es tritt auch die
fchöne Gabe einer hingebenden Anempfindung an den
1 jedesmaligen Charakter des FVfttages hervor. Die drei
Feftreden find zur 25 jährigen Gedächtnifsfeier der Wiederaufrichtung
des Deutfchen Reiches (1896), der Centenar-
feier für Kaifer Wilhelm I (1897), zur Feier des 400jährigen
Geburtstages Melanchthon's (1897) gehalten. Dem homi-
letifchen Schematismus gegenüber bewegt fich der Verf.
ohne Gebundenheit; bei manchen Predigten wird kein
Thema, bei anderen werden keine Theile genannt. Die
Auffaffung des Textes reizt mitunter zum Widerfpruche;
fo wird in dem ,Geleitsworte' über Hebr. n (nicht: 1), 1—3
der erfte Vers als Definition des evangelifchen Glaubens
verwendet, obgleich nur der A. T.liche Glaube und diefer
nur formal darin befchrieben wird. In dem 8. Geleitsworte
wird dem Nathanael das Lob des ,rechten Israeliten' vin-
dicirt, weil er ,ohne Falfch' gewefen fei, wohl mit Beziehung
auf Rom. 229, während doch Jefus das Recht,
I ihn einen ,rechten Israeliten' zu nennen, andeutend Vers 48
j begründet. Auch die Begründung in der Adventspredigt
| (Math.211—9): ,dein König ift Jefus, weil er fanftmüthig
J kommt', fcheint dem doch echt evangelifchen Llaupt-
fatze Luther's nicht zu entfprechen: ,er.ift mein Herr,
weil er mein Erlöfer ift'. — Die Abfchiedsgabe des all-
1 verehrten Verf.'s darf des wärmften Dankes nicht nur
der ,Freunde im Amte', fondern auch vieler, die dem
j Geber nicht fo nahe flehen, gewifs fein.

Marburg. E. Chr. Achelis.

I Stiegler, DD. Maria Albert, Dispensation, Dispensations-
wesen und Dispensationsrecht im Kirchenrecht. Gefchicht-
lich dargeftellt. Erfter Band. Mainz 1901, F. Kirchheim
. (IV, 375 S. gr. 8.) M. 7.—

Verf., der fchon früher im Archiv für katholifches
Kirchenrecht über Dispenfation und Dispenfationswefen
eine Reihe von Auffätzen publicirt hat (Bd. 77!), bringt
im vorliegenden Werke die dort niedergelegten Unter-
fuchungen in umgearbeiteter und erweiterter Geftalt. Der-
felbe verdient für feine gründlichen, alles in Betracht
kommende Material durchdringenden Ausführungen die
vollfte Anerkennung. Es ift nicht zu viel von ihm behauptet
, wenn er im Vorworte fagt, dafs die von ihm ge-
I wonnenen Refultate in mehrfacher Hinficht manche bislang
in der Literatur vorgetragene Anficht zum Theil wefent-
lich modificiren, zum Theil ganz umändern. Seine Refultate
weichen in der That in wefentlichen Punkten von
den bisher herrfchenden Anfchauungen erheblich ab und
wenn vielleicht auch die eine oder andere feiner auf ein-
' gehende Forfchungen geftützten Formulirungen nicht
ganz ohne Widerfpruch bleiben wird, fo bedeutet doch
fein Werk im Ganzen eine Förderung der Wiffenfchaft.
, Ein näheres Eingehen auf diefe Refultate mufs ich mir
! als zu weit führend verfagen und mich darauf befchränken,
i eine kurze Ueberficht über den Inhalt des Werkes zu
j geben. Dasfelbe ift fehr umfaffend angelegt und foll
j nach dem Plane des Verf. in drei Theile zerfallen, von
denen bis jetzt der erfte Theil erfchienen ift. In diefem
wird die gefchichtliche Entwickelung des Dispenfations-
j inftitutes bis zum Decretum Gratiani dargeftellt. Im zweiten
Theile will dann Verf. die Unterfuchungen bis auf die
Jetztzeit weiter führen und zugleich eine kritifche Zu-
fammenftellung fämmtlicher über die Dispens geltenden
t Rechtsfätze geben. Der dritte Theil endlich foll fich mit