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Ausgabe:

1902 Nr. 8

Spalte:

237-239

Autor/Hrsg.:

Bardenhewer, Otto

Titel/Untertitel:

Geschichte der altkirchlichen Literatur. I. Bd.: Vom Ausgange des apostolischen Zeitalters bis zum Ende des 2. Jahrh 1902

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 8.

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erforderlichen Querdurchfchnitt zu geben. Aber ich kann
einige Bedenken nicht unterdrücken. Das gewiffe Werth-
urtheil, das in dem Ausdrucke ,vulgär4 liegt, enthält ein
Quentchen Ungerechtigkeit. Indem die Frömmigkeit der
Durchfchnittsperfönlichkeiten an der derGrofsen gemeffen
wird, wird überfehen, dafs fehr Vieles von dem, was hier
als gemeinfamer Gedanke der Maffe erfcheint, thatfäch-
lich auch bei Paulus und Johannes die Bafis für ihre behenderen
Anfchauungen bildet. Ein nicht unerheblicher
Beflandtheil des hier gefammelten Stoffes dürfte nicht
hier flehen, fondern in einer bisher ungefchriebenen Darfteilung
des Gemeinfamen im Urchriftenthum. Als Quellen
hierfür würde nicht nur die nachpaulinifche Literatur,
fondern auch Paulus johannes und vor allen die Synoptiker
in Betracht kommen, letztere als Zeugen für den Gemeindeglauben
. Diefer Querdurchfchnitt würde der Darfteilung
der Paulus voranzugehen haben. Für die letzte Abtheilung
wurde dann die Aufgabe lauten: Darftellung der nach-
paulinifcben und nachjohanneifchenEpigonen-Anfchauung.
Und — fo unmodern das klingt — ganz werden wir hier
nicht auf das Schema der Lehrbegriffe verzichten können.
Die Verfaffer des Hebräerbriefes und der Paftoralbriefe find
zwar nichts weniger als Individualitäten4; aber fie repräfen-
tiren doch jeder eine gewiffe Richtung, und eine etwas
mehr individuelle Behandlung lehrt mehr, als die Sortirung
der Ausfagen in die Rubriken der loci. Im Uebrigen ift
in diefer letzten Abtheilung die fyftematifirende Methode
nicht fo ftörend, wie in den früheren. Der Stoff verträgt
fie eher. Und eine Stofffammlung war hier vor Allem
einmal von Nöthen. Sie ift fehr reichhaltig und lesbar, in
jedem Falle dankenswerth. Auf Einzelnes einzugehen
hat wenig Zweck. Ich fchliefse mit dem Wunfche, dafs
dem Buche feine Form nicht fchaden möge, und dafs es
wirklich gelefen werde. Gegengifte find ja heute genug
vorhanden, die das in ihm enthaltene Dogmatifirungs-
verfahren abfehwächen können. Aber noch eins: wer es
dem Lefer fo wenig leicht macht, das Zufammengehörende
zu finden, der ift beinah fittlich verpflichtet, ein Regifter
zu liefern. Warum fehlt es?

Marburg. Johannes Weifs.

Bardenhewer, Prof.D.Dr. Otto,Geschichte der altkirchlichen

Litteratur. 1. Band. Vom Ausgange des apoftolifchen
Zeitalters bis zum Ende des 2. Jahrhunderts. Freiburgi.B.
1902, Herder. (XII, 592 S. gr. 8.) M. 10.—; geb. M. 12.40
Zu Erörterungen der tieferen Probleme der altchrift-
lichen Literaturgefchichte bietet der 1., bislrenäus reichende
Band diefes grofs angelegten Werkes keinen Anlafs. Schon
die Eintheilung des Stoffes, kraft welcher unter der Auf-
fchrift ,die innerkirchliche Literatur4 Papias, Melito, Hermas,
Urkunden aus demOflerftreit — in dieferReihenfolge —den
Abfchlufs des Ganzen bilden, ift feltfam und verwirrend.
Die allgemeinen Erörterungen S. 18—46 über das Ver-
hältnifs der alten Patrologie zur modernen altchriftlichen
Literaturgefchichte und über Kirchenväter, -fchriftfteller
und -lehrer entfehädigen nicht dafür, dafs die Probleme
des inneren und äufseren Wachsthums der altchriftlichen
Schriftftellerei, ja überhaupt faft alle Probleme, die einen
Haufen von Notizen erft zu einer Gefchichte machen,
hier kaum Beachtung gefunden haben. Obwohl der
Umfang des Werkes gegenüber der rühmlich bekannten
,Patrologie' deffelben Verfaffers verfünffacht ift, fo find
die Gefichtspunkte, die dort den Stoff beherrfchten, nicht
wefentlich vermehrt und die gefchichtliche Anfchauung
ift nicht reicher geworden. Auch diefe ,Gefchichte4 würde
ebenfo wie die in der ,Patrologie' gegebene wenig verlieren
, wenn fie als literarhiftorifches Lexikon veröffentlicht
worden wäre. Eben defshalb ift auch die decidirte
Abfage an die proteftantifch-rationaliftifche Behandlung
des Stoffes in der Vorrede befremdlich; denn auf dem
Niveau, auf welches der Verfaffer fein Werk in der Durchführung
geftellt hat, exiftiren die Fragen, die hier ein-

fchlagen, überhaupt kaum. Sie fpuken nur in der .Einleitung
', blitzen in einigen Ausführungen über die Lehren
der Schriftfteller auf und überrafchen in einem Dutzend
polemifcher Anmerkungen. Sonft herrfcht eitel Friede.
Wie follte es auch anders fein? Der Rahmen diefer Gefchichte
ift ganz wefentlich der der ,äufseren' Literaturgefchichte
und des Referates. Da der Verfaffer innerhalb
diefer Grenzen, die er faft nie verläfst, gründliche Sach-
kenntnifs mit gefundem Tacte, rühmlichfter Umficht und
unbeftochenem Urtheile verbindet, fo verfchwindet das
,Principielle' eines Gegenfatzes fofort, wenn man in die
Leetüre felbft eintritt. Zu bedauern bleibt es freilich,
dafs die fechsbändige Literaturgefchichte des chriftlichen
Alterthums, die uns gefchenkt werden wird, darauf verzichtet
, die gleichzeitige ,profane' Literaturgefchichte auch
nur zu ftreifen und ihr Thema überhaupt völlig ifolirt.
In diefer Hinficht bietet Erhard's grofser kritifcher Bericht
über die Erforfchung der altchriftlichen Literatur
(1894. 1900; 884 S.) doch fehr viel mehr.

Beurtheilt man aber das Buch in den Grenzen, die
fich der Verfaffer gefleckt hat, nämlich als hiftorifch-
kritifche Vorarbeit zu einer altchriftlichen Literaturgefchichte
, fo ift es eine werthvolle und erfreuliche Er-
fcheinung. Werthvoll um der Eigenfchaften willen, die
ich oben genannt habe, erfreulich, weil es zeigt, in
welchem Umfange gemeinfame und fichere Er-
kenntnifse in diefer Disciplin gewonnen find. Mit
Ausnahme weniger ausgezeichneter katholifcher Patriftiker
haben in den letzten dreifsig Jahren faft ausfchliefslich
proteftantifche Gelehrte hier gearbeitet. Zu Stande gekommen
ift ein umfangreicher Complex von Erkenntnifsen,
der fich der Zuftimmung diefes felbftändigen und be-
fonnenen katholifchen Theologen erfreut.

Zum Beweife darf ich die Feftftellungen des Verfaffers
mit den Ergebnifsen meiner .Chronologie der altchriftlichen
Literaturgefchichte' vergleichen. Freilich — wer
das Verhältnifs beider Werke nach den polemifchen Anmerkungen
beurtheilen wollte, die der Verfaffer nicht
gefpart hat und die nicht immer gerecht find, würde fich
ein fehr falfches Bild machen. In Wahrheit herrfcht
zwifchen unferen Ergebnifsen eine überrafchende
Uebereinftimmung. Läfst man das Capitel über die
fogenannte apokryphe Literatur bei Seite, fo wird man
gröfsere Differenzen nur bei fechs Problemen finden
(Apoftol. Symbol, Didache und Barnabasbrief noch im 1.
Jahrhundert; Papias nicht nach 138, fein Johannes ift der
Apoftel Johannes; Hegefipp hat wirklich eine römifche
Bifchofslifte aufgeftellt; Mi meius Felix unter Commodus),
geringere bei neun Problemen (II Clemens um die Mitte
des 2. Jahrhunderts oder noch etwas fpäter — alfo meiner
Datirung ganz nahe — aber nicht von Soter; Ariftides,
wie ich, unter Pius, aber am Anfange der Regierung;
Hermas 140—155 und Fiction gegen ca. 140 und keine
Fiction; Jüdin, de resurrectioneTicher echt gegen möglicher
Weife echt; Tatian, Oratio um 165 gegen wahrscheinlich
150—155, vielleicht aber fpäter; Diateffaron wahrfchein-
lich fyrifch gegen wahrfcheinlich nicht urfprünglich fyrifch;
Brief an den Diognet 2. oder 3. Jahrh. gegen 180—300;
Hermias wahrfcheinlich vorconftantinifch gegen wahrfcheinlich
fpäter; Pfeudoclemens, de virginit. Mitte des
3. bis Anfang des 4. Jahrhunderts gegen Anfang des 3.
Jahrhunderts). Das find — abgefehen von verfchiedener
Auslegung einiger fpecieller Stellen — alle Differenzen.
Da nun alfo auch bei der apokryphen Literatur, die der
Verfaffer mit befonderer Sorgfalt (S. 365—471) behandelt
hat, das Verhältnifs nicht anders fleht — die Differenzen
hier anzuführen, ift in Kürze nicht möglich —, fo ift die
Fülle der Uebereinftimmungen und, ich darf wohl hinzufügen
, der geficherten Ergebnifse eine fehr grofse. Be-
fonders hat es mich gefreut, dafs Bardenhewer die
künftliche Chronologie, welche Zahn für das Leben des

j Irenäus gegeben, mit allen ihren weittragenden Folgen

| als unhaltbar abgelehnt hat.