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Ausgabe:

1902

Spalte:

185-188

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Hermann

Titel/Untertitel:

Das sittliche Leben. Eine Ethik auf psychologischer Grundlage 1902

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1902. Nr. 6.

186

gebnifse des wiffenfchaftlichen Erkennens, enthalten fein
follen. Gewifs giebt es auch wiffenfchaftliche Intuitionen.
Aber diefe gelten doch in der Wiffenfchaft fo lange
nur für- Hypothefen, als für ihren Inhalt noch nicht ein
auf Erfahrung zurückgehender Beweis geführt worden
ift. Im religiö'fen Lenken dagegen ift nichts hypothetifch,
fondern alles apodiktifch gemeint. Aber alle echte reli-
giöfe Ueberzeugung hat fubjectiv-perfönliche und gar
nicht objectiv - fachliche Gründe, wie andererfeits die
wiffenfchaftliche Gewifsheit. Diefen fundamentalen Unter-
fchied zwifchen beiden fcheint mir der Verf. in feiner
Bedeutung zu verkennen. Aus ihm aber ergiebt es fich,
dafs das religiöfe, ethifche, künftlerifche Denken als
fpeculativ dem empiriftifchen wiffenfchaftlichen Erkennen
gegenübergeftellt werden mufs, das, weil es eben lediglich
objective und allgemein-gültige Erkenntnifse erftrebt,
fich auch nur im Bereich einer möglichen Erfahrung bewegen
kann.

Aus diefen Gründen mufs ich den principiellen Standpunkt
des Verf.'s ablehnen. Andererfeits kann ich den
tiefen Ernft von dem feine klaren und knappen Darlegungen
erfüllt find, nur durchaus anerkennen und als
vorbildlich rühmen.

Bonn. O. Ritfchl.

Schwarz, Priv.-Doz. Hermann, Das sittliche Leben. Eine
Ethik auf pfychologifcher Grundlage. Mit einem
Anhang: Nietzfche's Zarathuflra-Lehre. Berlin 1901,
Reuthe°r & Reichard. (XI, 417 S. gr. 8.) M. 7.—

Schon nach zehn Monaten hat der Verf. leiner
Pfychologie des Willens die nun vorliegende ,Ethik auf |
pfychologifcher Grundlage' folgen laffen, auf die er in
jenem Werke bereits wiederholt im Voraus hingewiefen |
hat. InderThat gehören beide Bücher eng zufammen. Das j
frühere bietet die ,pfychologifche Grundlage' dar, auf
die fich der Verf. in dem Nebentitel des fpäteren beruft.
In jenem verfuhr er denn auch vorwiegend analytifch-
inductiv. Jetzt giebt er die diefe Ausführungen ergänzende
Synthefe. Die frühere Leiftung habe ich als fcharffinnig, anregend
und lehrreich rühmenkönnen, wenn ich auch die dem
Verf. wichtigften Ergebnifse, die fein Buch darbot, bean-
ftanden mufste (vgl. diefe Literatur-Zeitung 19c», S. 685 ff.). 1
Konnte ich demgemäfs auch dem vorliegenden Buche |
mit nicht geringen Erwartungen entgegenfehen zu dürfen
glauben, fo mufs ich nun doch deffen Befprechung gleich
mit dem Ausdruck des Bedauerns darüber beginnen, dafs
es mich überwiegend enttäufcht hat. Der Reiz, den fein
Vorgänger feiner Zeit auf mich ausübte, lag abgefehen
von der fachlichen Bedeutung, die ich den in ihm enthaltenen
Ausführungen über den fortfchreitenden Motivwandel
, die Lüge des Bewufstfeins und die Objectlofig- |
keit des Willens noch immer beimeffe, vor allem auch
in der fcharffinnigen und ficher fortfchreitenden Art
der Unterfuchung. Bei diefen Vorzügen nahm ich auch
die theils überhaupt zu abftracte, theils zu fragwürdigen
Ergebnifsen führende Gedankenentwickelung, vielleicht
etwas zu voreilig und zu wenig kritifch, mit in den j
Kauf. In der jetzt von dem Verf. vorgelegten Ethik
aber vermiffe ich zum grofsen Theil jene Vorzüge und
kann auch nicht finden, dafs andere an ihre Stelle getreten
wären. Das inductive Forfchen fcheint dem Verf.
beffer zu liegen, als die deductive Entwickelung. Aber
freilich an deren Mängeln find wefentlich mit fchuld
jene Ergebnifse des früheren Buches felbft. Boten fich
diefe, indem fie gewonnen wurden, doch nur erft als
Anflehten dar, gegen die gewichtige Einwände zu erheben
waren, fo erfcheinen fie jetzt, als die Vorausfetzungen
des ethifchen Syftemes felbft, gewiffermafsen fklerotifch.
Denn ohne gegenüber den wider fie inzwifchen erhobenen
Einwendungen einer neuen Nachprüfung unterzogen zu j
werden, bilden fie in dem vorliegenden Buche den Grund- I

ftock eines Dogmatismus, der für die Ethik des Verf.s
verhängnifsvoll geworden ift.

Nach der Anficht des Verf.s erheben fich über den
von Luft und Unluft wohl zu unterfcheidenden urfprüng-
lichen Willensregungen des Gefallens und des Mifsfallens
die Willensacte eines analytifchen und über diefen die
eines fynthetifchen Vorziehens, die angeblich keinem Motivzwange
unterworfen find, fondern nur den Normzwang
des fittlichen Wollens zum Ausdruck bringen. Im Zu-
fammenhange mit diefer indeterminiftifchen Conftruction
des Willenslebens lehrt der Verf. die Geltung von zwei
Gefetzen des fittlichen Handelns. Deren erftes befagt,
dafs den Zuftandswerthen die Perfonwerthe, das andere,
dafs diefen die Fremdwerthe vorgehen. Innerhalb diefes
Rahmens find die mehr innerlichen den mehr äufser-
lichen Perfonwerthen, und die inaltruiftifchen Fremdwerthe
den altruiftifchen an Verbindlichkeit überlegen.
Gemäfs jenen beiden Gefetzen handelt der erfte Theil
der Ethik von der ,Perfonwerthmoral oder der Lehre
von der fittlichen Selbftbejahung', der zweite von der
,Fremdwerthmoral oder der Lehre von der fittlichen
Selbftverneinung'. Beide Themata getrennt von einander
zu behandeln, empfindet auch der Verf. als fchwierig.
Als ,einfachften Ausweg' aus diefer Schwierigkeit wählt
er den, im erften Theile ,dem, worin Perfon- und Fremdwerth
zufammengehören', einen befonderen einleitenden
Abfchnitt über ,einige Grundbegriffe der Gefammt-Ethik'
zu widmen und ihn der .näheren Ausführung der Perfon-
werthmoral' vorauszufchicken. Ueber die Darlegungen
in der Pfychologie des Willens hinaus enthält diefer Abfchnitt
neue Gedanken insbefondere in der Erörterung
der Begriffe fittlich gut, fittlich beffer und höchftes Gut.

Im Einzelnen dem Gange der ferneren Ausführungen
des Verf.s zu folgen, würde deshalb befonders umftänd-
lich und complicirt fein, weil die Stetigkeit diefer Gedankenentwickelung
wefentlich beeinträchtigt ift durch ein
merkwürdiges Ineinander und Nebeneinander verfchieden-
artiger Stoffe. Da nämlich der Verf. die wiffenfchaftliche
Erforfchung des fittlichen Lebens von den in deffen
Bereich felbft hineingehörigen ethifchen Speculationen
nicht unterfcheidet, heben fich feine Auseinanderfetzungen
hiftorifcher und cafuiftifcher Art, feine Reflexionen zur
Durchführung der eigenen leitenden Gefichtspunkte und
die häufigen im Stile der Moralpredigt gehaltenen Erörterungen
, in denen noch dazu die Subjecte der oder
jener fittlichen Verfehlungen gern direct apoftrophirt
werden, nicht fcharf und beftimmt von einander ab.
Diefe methodifche Unebenheit fcheint mir mindeftens
mitbedingt zu fein durch die formaliftifchen und ab-
ftracten Grundgedanken, die den Gang der Darfteilung
beftimmen. Confequent ift der Verf. dabei allerdings.
So will er ,ein Stückchen Sittlichkeit' felbft in dem
Gigerl erkennen, das ebenfo wie der Student auf feiner
erften Menfur Zuftandswerth um deswillen, was es für
feinen Perfonwerth anfleht, hintanfetzt (S. 53). Diefe
richtige Confequenz aber, meine ich, hätte den Verf.
allein fchon gegen fein abftractes Grundfchema: Perfonwerth
geht vor Zuftandswerth, bedenklich machen follen.
Dafs ferner die private Wohlthätigkeit der focialen nach-
ftehe, entfpricht zwar einem anderen ebenfo abftrac-
ten Schema des Verf., dafs .aller altruiftifchen Hingabe

gegenüber ..... die inaltruiftifchen Pflichten ohne

Weiteres den höheren Rang' haben (S. 365). Aber mit
den von Jefus vertretenen fittlichen Werthungen und
Urtheilen wenigftens, auf die fich doch der Verf. gern
beruft, ftimmt diefe ethifche Conftruction nicht überein.
Denn Jefu Sittenlehre und eigenes fittliches Verhalten
ift fo durchaus altruiftifch, dafs darin für inaltruiftifche
Werthe überhaupt kaum noch Raum bleibt. Es ift aber
auch zu beachten, dafs der Beftand und die Aufrechterhaltung
von Organifationen zur umfaffenderen Verwirklichung
fittlicher Beftrebungen für die Sittlichkeit
der betheiligten Perfonen ftets die grofse, ja oft fogar