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Ausgabe:

1901 Nr. 5

Spalte:

135-137

Autor/Hrsg.:

Conrady, Ludwig

Titel/Untertitel:

Die Quelle der kanonischen Kindheitsgeschichte Jesus‘ 1901

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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135 Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 5. 136

Zu Anm. I auf S. 7 fei mir die Vermuthung geftattet,
dafs die in unferen Texten zumeift vorkommende Schreibung
SJttS ftatt »yes (Hinterhalt) nicht ,als blofser Fehler
verdächtigt' werden darf. Es fcheint vielmehr, dafs mit
jener Schreibung eine Anpaffung an das hebräifche 3"Vixn
beabfichtigt ift. Vielleicht gaben die Targumiften 31X13
mit X:i33, und 3ViX mit X3133 wieder; nur wurde fpäter
die Uhterfcheidung nicht aufrecht erhalten.

Budapeft. Wilhelm Bacher.

Conrady, Ludwig, Die Quelle der kanonischen Kindheitsgeschichte
Jesus'. Ein wiffenfchaftlicher Verfuch. Göttingen
, Vandenhoeck & Ruprecht, 1900. (X, 342 S.
gr. 8.) M. 8.—

Einem Buche gegenüber, das ein verdienter pastor
emcritus mit einem Aufwände von ungewöhnlichem Wiffen
und zäheftem Fleifse abgefafst hat, würde ich mich, wenn
ich nicht in der Lage bin, mir feine Ergebnifse anzueignen
, am liebften incompetent erklären. Vielleicht thue
ich aber Anderen, die in diefer Beziehung beffer dispo-
nirt, aber des Buches noch nicht anfichtig geworden find,
einen Gefallen, wenn ich feinen Gedankengang in Kürze
fkizzire.

Zunächft verblüfft die Behauptung, dafs den beiden
Evangeliften, die eine Kindheitsgefchichte geben, dafür
eine gemeinfame Quelle gefloffen ift, und zwar eine
folche, deren hebräifche Urgeftalt noch an mancherlei
Spuren nachzuweifen fei. So weit geht der Verf. mit
A. Refch. Gegen diefen Concurrenten, deffen berühmtes
,Kindheitsevangelium' vom Jahre 1897 eine erft auszurechnende
Gröfse bildet, ift aber unfer Verf. infofern im
Vortheil, als feine zweite Thefe dahin lautet: Diefe gemeinfame
Quelle ift noch unverkürzt erhalten in dem
fog. Protevangelium (Jacobi foll ein irreführender Zufatz,
eine falfche Flagge fein). Weit davon entfernt, dafs das-
felbe, wie wir Anderen meinten, eine fecundäre Compi-
lation, zumal aus Matthäus und Lucas, darftellen follte,
ift jeder von diefen beiden Berichten vielmehr in fich
felbft haltlos, lückenhaft und erft unter der Vorausfetzung
eines fchriftftellerifchen Hintergrundes, wie er in dem
genannten Apokryphon vorliegt, verftändlich. Nur weil
er diefes kennt, vermag beifpielsweife Juftinus aus beiden
Evangelien ein einheitliches Bild zu gewinnen. Die gewöhnliche
Anficht foll dagegen dazu führen, dem Verf.
des Protevangeliums ein höchft willkürliches, ja unbegreifliches
Verfahren zuzumuthen. Als Original erweift
lieh vielmehr das Protevangelium gerade auch durch feine
Fehler und Unebenheiten oder, wie der Verf. fich ausdrückt
, ,durch geniale Gleichgültigkeit gegen Wider-
fprüche und kleine Ungereimtheiten' (S. 211). Freilich
follte durch Aufdeckung ganz ähnlicher Erfcheinungen
in der etwas peinlichen Unterfuchung, welcher im Ein-
gangsabfehnitte die beiden Geburtsgefchichten unterzogen
wurden, gerade auch die fecundäre Natur diefer Berichte
und ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch das Protevangelium
erwiefen werden. Der Verf. felbft macht in diefer
Richtung gelegentlich geltend, dafs an den Dichter nicht
Anforderungen geftellt werden dürfen, wie fie dem Hi-
ftoriker gegenüber angebracht find (S. 37). Dabei er-
fcheinen bei ihm die Synoptiker nur als die Poefie in
Profa umfetzenden Epigonen. Verarbeitet wurde nämlich
das ins Griechifche überfetzte Protevangelium von Matthäus
mehr in der Geftalt eines mit willkürlichen Zuthaten verzierten
Auszuges, von Lucas fo, dafs die märchenhafte
Mariengefchichte in eine pragmatifche Gefchichte der
Geburt des Täufers und Jefu, die Magier in Hirten
verwandelt wurden u. f. w. Sachlich haben beide
Evangeliften an ihrer häretifchen, fpeciell doketifchen
Vorlage eine Correctur angebracht, indem fie die übernatürliche
Geburt, das auch in das römifche Symbol
übergegangene natus ex virgine, auf eine übernatürliche

Empfängnifs, das conceptus de Spiritu saneto, befchränkten
(S. 17. 55. 89 f. 119. 135. 170. 211 f.). Neue Stoffe, welche
fie mit dem Protevangelium in Verbindung brachten, liegen

j namentlich in Matth. 1, 1—17. 2,13—15 und Luc. 2,

| 41—52 vor.

Nicht minder überrafchend und mitunter wahrhaft
I erftaunlich ift, was wir über die Entftehungsgefchichte
diefer Quelle felbft erfahren, dafs fie nämlich von einem
ägyptifchen Heidenchriften um 120 hebräifch verfafst
worden fei, wovon freilich die Ueberlieferung über das
J Protevangelium nichts weifs. Eine Probe von der ftarken
I Fehlerhaftigkeit der Ueberfetzung liefert z. B. das äjcb
| xcbv afiaQTtcöv uvxcbv Matth. 1, 21 = Prot, n, 3, wofür
vielmehr ,von den Sündigern an ihnen' flehen follte, wie
| auch Am. 9, 10 zu lefen fei (S. 71). Es wäre zu erwarten
gewefen, dafs die Wiederkehr derfelben Beziehung des
Plurals avxcöv auf den Collectivbegriff Xaog Luc. 1, 77
j bemerkt und für Einheitlichkeit geltend gemacht fei.
! Es ift dies die einzige unter den fprachlichen Berührungen
I beider evangelifchen Vorgefchichten, welche in den Re-
giftern bei Refch (S. 26 f.) fehlt. Die fachlichen hat
unfer Verf. richtig zufammengeftellt (S. 36). Sie erftrecken
fich fogar noch weiter. So wenn Matth. 1, 20, Jofeph,
| Luc. 1, 30 Maria ob des Bevorftehenden fich nicht fürchten
foll. Aber gerade hier verfagt das Protevangelium infofern
, als es den Jofeph von einer ganz anderen Furcht
befreit werden läfst (S. 71), als die Maria (S 90). Dafs
i Jofeph in das Geheimnifs Luc. 1, 35 eingeweiht ift, alfo
ein Vorgang wie Matth. 1, 20, 21 vorausgefetzt wird,
erhellt Luc. 2, 5 daraus, dafs jener fie als fchwangere Braut
mit fich nach Bethlehem führt. Unfer Verf. ift gegentheils
davon überzeugt, dafs Luc. 2, 5 yvvaixi gelefen werden
i müffe (S. 54 f.) und dafs das fowohl Matth. 1, 18 wie
j Luc. 1, 27 flehende fivrjaxevEOd-ai in der Bedeutung ,ver-
j heirathet werden', zu nehmen fei, welche Gleichfetzung
von Verlöbnifs und Verheirathung dem jüdifchen Eherecht
entfpreche (S. 9, 41). Vgl. indeffen Nowack, He-
I bräifche Archäologie I, S. 162 und Schürer, Gefchichte
I des jüd. Volkes 3 II, S. 228, Note 11.

Noch unerwarteter als die Aufklärung über den Ur-
1 fprung kommt, was wir über die Tendenz der Dichtung
erfahren. Denn mit einer Dichtung haben wir es felbft-
verftändlich zu thun. Ihr gefchichtlicher Kern befteht
lediglich in der Thatfache der Geburt in einer Höhle
nahe bei Bethlehem (S. 303). Aber ein zuweilen mit
Mitteln einer erftaunlichen Gelehrfamkeit geführter Indi-
cienbeweis für einen zu Hadrian's Zeiten an den heiligen
Stätten geübten Ifiscult (S. 307 f.) dient zur Begründung
der ,Behauptung, dafs der Protevangelift von diefer Sachlage
Gebrauch gemacht und im Einverftändnifs mit den
Sarapis- und Ifisprieftern von Jerufalem und Bethlehem
der begonnenen Chriftianifirung der Cultusftätten des
Gottes und der Göttin an diefen Orten feine erfinderifche
Feder geliehen hat' (S. 328). ,Es galt die Umformung
des Ifisdienftes in chriftlichen an den hl. Stätten und
| damit die Erhebung derfelben zu einträglichen Wallfahrtsorten
' (S. 336). So viel ich fehe, laffen fich höchftens
j die fpäteren, das Protevangelium meift benutzenden,
Kindheitsevangelien und wohl auch einzelne Vorkomm-
nifse der Gefchichte des chriftlichen Cultus für Geltendmachung
derartiger Einflüfse benutzen.

Ift man daher fchwerlich in der Lage, der in vorliegender
Veröffentlichung gewagten Conftruction, ohne Bangen
und Schwindel zu empfinden, zu folgen, fo wird doch
in manchen Kreifen einer unbefangenen Forfchung die
Vorausfetzung auf Anerkennung rechnen dürfen, dafs in
der (prot-)evangelifchen Legende von der Jungfraugeburt
,im Gewände hebräifchen Geiftes nicht-hebräifcher Geift'
(S. 259), .unter dem Schein des chriftlichen heidnifcher
Geift' (S. 264) fich geltend macht. ,Ein Wort wie das
Maria's et eyeb övXXrjtpofiai ctJtb xvq'iov d-sov £cövzoq ift
für hebräifches Bewufstfein , um nur von ihm zu reden,
reinfte Gottesläfterung' (S. 262). Aber es dürfte doch