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Ausgabe:

1901 Nr. 4

Spalte:

104-107

Autor/Hrsg.:

Bernoulli, Carl Albrecht

Titel/Untertitel:

Die Heiligen der Merowinger 1901

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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103 Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 4. 104

peratur in den Text fetzt, II 60,26 et cxclama 308,16 et
clamar Die werthvolle Hülfe der lateinifchen Bibelüber-
fetzungen fcheint er grundfätzlich zu verfchmähen, darum
bringt er es fertig, I p. VII die mira vox, die C I 369,25
biete, a cretura muncii (ftatt a constitutione tnundi) an-
zuflaunen, während cretura natürlich höchftens Schreibfehler
für das creatura der Vulgata ift. Aber auf diefe
kleinmeifterliche Befchränkung bildet fich der Herausgeber
noch etwas ein. Ich würde, wenn ich 35 Jahre
lang an einer Auguftinusausgabe zu arbeiten hätte, doch
wohl auch die langen Citate aus de civitate Dei in frühmittelalterlichen
Autoren daraufhin angefehen haben, ob
fie mich etwas über das Alter und die Herkunft gewiffer
Textcorruptionen u. dergl. lehren. Indeffen das Material
ift fchwer zu befchaffen, und wer nicht einmal die Stellen
unter dem Texte vermerkt, wo Auguftin fich felber citirt,
braucht fich freilich um Ratramnus und Scotus Erigena
nicht zu bemühen. Dagegen ift unverzeihlich, wenn der
Herausgeber eines Textes mit zahllofen Bibelftellen, dem
die Neigung gewiffer Handfchriften, bei Schriftcitaten den
Wortlaut der fpäteren Vulgata einzufchieben, bekannt
ift, fich um diefes Hülfsmittel zur Beftimmung desWerthes
feiner Zeugen nicht kümmert. C. Weyman hatte im
Lit. Centraiblatt wie ich in diefer Ztg. die Vollftändig-
keit des Nachweifes der von Auguftin benutzten Quellen
— ich rede der Vorficht halber nur von den biblifchen
Citaten — vermifst. Stolz beruft fich H. auf das Programm
der Kirchenväter-Ausgabe, wonach er nur die
direct angeführten Schriftworte zu bezeichnen hätte:
xonsulto eos omisi, ex quibus aliqua modo verba petita
sunt. Er unterfchätzt fich aber, denn er giebt häufig
auch Stellen der 2. Claffe an, wo der Autor gar nicht
verräth, dafs er citire, z. B. I 597,14; die blofse ,An-
fpielung' auf I. Tim. 2,5 wird bei H. II 116,25 uncl 547.23
notirt, 225,14 und 346,28 freilich nicht. Statt des xonsulto1
hätte H. fagen follen: ,nach Dombart'. Wo diefer
nämlich die Citate bezeichnet, da thut er es auch, fonft
fchweigt er, und wie abhängig er von Dombart ift, zeigt
fich ergötzlich an Stellen, wie II 253,25 ff., 435,7,

I 448,25—449,6, wo er wunderliche Fehler begeht, weil
er vergifst, dafs er die Citate zum Anfangs-, Dombart
aber zum Schlufswort notirt, oder II 504,2, wo er Dom-
bart's 2. Reg., das bei ihm 4. Reg. heifsen mufste, flehen
läfst, wie denn auch fonft die wenigen Verfehen in Dom-
bart's Citaten nachweifen unverbeffert bleiben. Wo Dombart
ihn im Stich läfst, wie in Apparat zu II 167,11, begeht
H. Fehler; lies dort 1,35 ft. 1,34. 35. Der berühmte
Humanift L. Vives wird uns im Apparat zu II 253,24 als
Vi vis vorgeführt, weil Dombart den Genetiv L. Vivis
gefchrieben hatte.

Wenn aber H. feinen Bibeltext aufgefchlagen hätte,
ftatt blofs die Zahlen nach gröfseren Muftern zu verzeichnen
, fo würde er z. B. I 452,23 fchwerlich das con-
tribulatus der Vulg. dem contritus von Dombart vorgezogen
haben — wenigftens nicht bei Vergleichung
der griechifchen Vorlage, auch nicht II 233,19 fadem
meam dem a facie mea.

Gegenüber diefem fundamentalen Mangel fallen einzelne
Unglücksfälle, wie die Fortlaffung aller Citatnachweife

II 107, der Druckfehler (?) I 558,26 deposuisti (statt disp.) und
Ungenauigkeiten im Apparat nicht ins Gewicht. Soweit
ein gut gefchulter Philologe den Text von de civitate
Dei aus 3 Uncialcodices fowie 6—7 Minuskelhandfchriften,
die er felber forgfältig verglichen hat und aus den Mittheilungen
Anderer über weitere 6—7 Minuskeln, dagegen
ohne Verwendung der ihm fonft offenftehenden Hülfs
quellen ordentlich geftalten konnte, hat ihn Hoffmann
geftaltet. Er hat eine nützliche Vorarbeit geliefert zu
einer wirklich wiffenfchaftlichen Fldition, die aber erftlich
weit umfaffendere handfchriftliche Studien und aufserdem
ein lebhaftes Intereffe und Verftändnifs für die Gefchichte
diefes eigenartigen Werkes erfordert.

Das dem 2. Bande beigegebene Regifter, verfafst

von W. Weinberger, ift im Ganzen folide gearbeitet,
natürlich wiederholen fich hier die vom Herausgeber gemachten
Fehler. Mehrfach trägt der Sammler fogar
Bibelftellen, die beim Texte nicht vermerkt waren, nach.
Seltfam berührt, dafs die Reihenfolge der biblifchen
Bücher von Luthers Bibel benimmt ift. Abfolute Voll-
ftändigkeit wird in einem Index nominum et rcrum Niemand
erwarten, aber catholicus, canonicus, apocryphusr
arbitriwn liberum, praedestinatio, sicccessio fehlen in
einem Auguftin-Lexicon, während praescientia Dei, mors
voluntaria, apostoli, prophctae einen breiten Raum erhalten.

Marburg. A. Jülich er.

Bernoulli, Carl Albrecht, Die Heiligen der Merowinger.

Tübingen, J. C. B. Mohr, 1900. (XVI, 336 S. gr. 8.) M. 8.—

Wenn ich ihn recht verftehe, fo will Bernoulli mit
dem vorliegenden Buche Front machen gegen die allzu-
fehr überwiegende Anwendung der dogmengefchicht-
lichen Methode auf die kirchengefchichtliche Forfchung
und eintreten für die Aufnahme der Forfchungsmethode
der allgemeinen Religionsgefchichte auch für die Darfteilung
der Kirchengefchichte. Um zu zeigen, dafs diefe
Aufnahme nöthig fei, hat er fich dem Studium des einzigen
rein undogmatifchen Beftandtheiles der gefammten
abendländifchen Kirche, der fränkifchen Kirche im
Zeitalter der Merowinger' (Vorrede, S. VII, vgl. S. 304)
zugewendet und will nun ein Bild des Volksglaubens
innerhalb des Kirchenglaubens bieten. Der Erörterung
der von B. angedeuteten principiellen Fragen will ich
nicht näher treten, weil ich derartige principielle Erwägungen
für nutzlos halte und der Meinung bin, dafs der
Hiftoriker durch fein Werk von der Güte und Richtigkeit
feiner Methode Zeugnifs ablegen foll. Es genüge
auszufprechen, dafs B. feiner in mehr als einer Beziehung
fchwierigen Aufgabe im Allgemeinen gerecht geworden
ift und durch fein lebensvolles Bild einen bedeutenden
Beitrag zum Verftändnifs des abendländifchen Volkschriftenthums
im 6. und 7. Jahrhundert gegeben hat.
Und wenn der Verfaffer auch felbft fein Buch nur als
I einen Entwurf bezeichnet, wenn auch Regifter und Be-
| legftellen fehlen und die Literatur recht mangelhaft an-
[ gegeben ift, fo enthält das Buch doch fo viel Schönes
I und Originelles, dafs wir auch mit diefem .Entwürfe' zufrieden
fein können.

Das Chriftenthum des 6. und 7. Jahrhunderts ift ein von
proteftantifchenTheologen nichtgerade häufig behandelter
Gegenftand. Dafs er eingrofseslntereffe fürfich in Anfpruch
nehmen kann, beweift vielleicht am Beften, dafs kurze Zeit
vor B.'s Buch auch ein franzöfifcher Forfcher, Marignan, ihm
j eine eingehende Darftellung hat zu Theil werden laffen.1)
Marignan hat fein Buch gefchrieben, um das Erträgnifs
des merowingifchen Chriftenthumes für die Civilifation
nachzuweifen; er zeigt den Zufammenhang feiner einzelnen
Beftandtheile mit dem Chriftenthume im römifchen
Reiche und fchildert, freilich oft fehr fummarifch, auch
j die Anfänge und die Entwickelung der Eigenthümlich-
j keiten des merowingifchen Chriftenthumes in früherer
j Zeit. Und auch wo es fich fpeziell um die Heiligen der
| Merowinger handelt, bietet er öfter mehr als Bernoulli:
er handelt z. B. fehr ausführlich über die bafilikale Anlage
und über den Verlauf der Heiligenfefte. Dagegen
hat Bernoulli den energifchen Verfuch gemacht, in das
innerfte Wefen des ,fränkifchen Heiligenchriftenthums-
(S. 311) einzudringen; nicht, wie es gewachfen und geworden
ift. fondern wie es war, zu fchildern; feine Eigenthümlich-
keiten, fo abfonderlich fie uns modernen Menfchen auch
| erfcheinen mögen, uns verftändlich erfcheinen zu laffen.
und in die Urkunden, die wir darüber befitzen, einen

9 A. Marignan, Eludts sur la civilisation francaist. Paris, p.m.
Bouillon 1899. Tom./er: La socidtiMcrovingienne. ( VIII, 357.) Tome
Urne: Le culte des Saints sous /es Mirovingitns. {XL, 251.)