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Ausgabe:

1901 Nr. 26

Spalte:

694-696

Autor/Hrsg.:

Nagel, E.

Titel/Untertitel:

Das Problem der Erlösung. Eine religionsphilosophische, philosophiegeschichtliche und kritische Untersuchung 1901

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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693 Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 26. 694

zwar nicht völlig begründet, aber auch nicht widerlegt I
werden: die hiftorifche Forfchung erreicht überhaupt nur :
höchfte Wahrfcheinlichkeit, nicht wirkliche Gewifsheit; fie I
gelangt nur zu einer formalen Charakteriftik Jefu als einer
für die menfchliche Sitten- und Religionsgefchichte epochemachenden
Perfönlichkeit und mündet in mancherlei Probleme
aus. Aber nur wer diefe Perfönlichkeit zu feinem
Heilsverlangen in Beziehung fetzt, gelangt zur Gewifsheit j
von Gottes Selbftoffenbarung in Chrifto und zu einer
Beantwortung auch jener gefchichtlichen Probleme. So
ergiebt fich nach Cap. V (S. 71—83) eine ,Gewifsheit
der Offenbarungsgefchichte für den Glauben'. I
Für den Glauben aber löft fich vieles zunächft Befremd- j
liehe in den Berichten von Jefu. Zwar ifl uns damit
weder die prüfungslofe Annahme des gefammten N. T.-
lichen Ueberlieferungsftoffes geboten, noch die Gefchicht-
lichkeit aller einzelnen Ereignifse gewährleiftet; hierin
behalt die hiftorifche Kritik ihr Recht. Wohl aber wird
uns im Glauben der religiöfe Mittelpunkt der biblifchen
Ueberlieferung felbftändig gewifs. — Diefer Mittelpunkt j
ift nicht nur ,das innere Leben Jefu', fondern das Charakterbild
des handelnden Erlöfers', mit Einfchlufs der
Vollendung feines Lebenswerkes in Kreuzestod und Auf-
erftehung. So gehören Gefchichtsforfchung und Glaubens-
verftändnifs zufammen: fie können in Spannung gerathen;
aber fie müffen fich doch unaufhörlich fuchen und ergänzen
. Darauf ,beruht nicht zum wenigften die lebendige
Bewegung der wiffenfehaftlichen Theologie und die
Unerfchöpflichkeit ihrer Aufgabe'.

Das Referat kann nur einen unvollkommenen Eindruck
von der in gedrängter Form und edlem Stil ge-
fchriebenenSchrift geben. Meine eigenen früheren Arbeiten
zu der Frage bewegen fich in derfelben Richtung; ich
kann daher nur meiner vollen Zuftimmung Ausdruck
geben: manches drücke ich anders aus oder fuche ich
anders zu begründen, in den Grundgedanken finde ich
volle Einheit. Nur drei kurze Bemerkungen! Einmal,
was die Anlage der Arbeit betrifft, fo will es mir
fcheinen, dafs der Gedankengang Kirn's einfacher geworden
wäre, wenn er in Cap. II nur das Problem entwickelt
, noch nicht die principielle Lösbarkeit dargelegt
hätte. Denn im Folgenden mufs er doch auf die principielle
Frage nach der Leiftungsfähigkeit der hiftori-
fchen Forfchung zurückkommen. Daher wären die Bemerkungen
über den Einflufs der Weltanfchauung auf
die Gefchichtswiffenfchaft wohl beffer in Cap. IV ver-
wiefen worden; die drei letzten Capitel gäben dann die
ganze Löfung. an der Hand der drei Sätze: der Glaube
braucht eine gefchichtliche Begründung; die gefchicht-
liche Forfchung kann fie nicht direct geben, aber, wenn
fie fich in ihren Grenzen hält, auch nicht zerftören; der
Glaube erft wird der wirklichen Offenbarungsgefchichte
völlig gewifs. — Sodann: die Lifte der Literatur, die
Kirn S. 27 f. giebt, weift manche Lücke auf. VonJ.Köftlin
wäre nicht nur die Schrift ,der Glaube' (1865), fondern vor
allem die Schrift von 1893, ,die Begründung unferer fittlich-
religiöfen Ueberzeugung' zu nennen gewefen; ebenfo hätte
die Schrift von Martin Schulze, ,die Religion Jefu und
der Glaube an Chriftus', 1897 erwähnt werden müffen,
ferner der Bericht von H. Scholz in der Theol. Rund-
fchau 1899. Vor allem aber vermiffe ich die Arbeiten
von Biedermann, Pfleiderer, Tröltfch, in denen die Einwände
diefer Theologen gegen die Begründung des
Glaubens auf Gefchichte dargelegt werden.— Endlich:
Kirn ficht es an, dafs ich feiner Zeit (Zeitfchr. für Theologie
und Kircjie 1897, S. 174 f.) Ritfchl's Dogmatik ihrer
Methode nach als ,Dogmatik des gefchichtlichen Offen-
barungsverftändnifses charakterifirt', dabei aber noch die
doppelte Möglichkeit offen gelaffen habe, darunter ein
wiffenfchaftlich-gefchichtliches Verftändnifs der Offenbarung
oder ein Glaubens verftändnifs der gefchichtlichen Offenbarung
zu verftehen. Ich kann und will natürlich in keiner
Weife beftreiten, dafs für Ritfehl der Begriff derOffenbarung

ftets ein Werth- und Glaubensbegriff gewefen ift, den er
niemals mit den Mitteln der reinen Gefchichtswiffenfchaft
zu gewinnen hoffte. Aber nachdem es einmal in einem
Glaubensact feftgeftellt ift, dafs wir in Jefu Chrifti Wort-
und Thatverkündigung Offenbarung Gottes haben, hat
Ritfehl in feinem weiteren dogmatifchen Verfahren
zum Theil von diefem Beziehungspunkte unteres Glaubensund
Heilsverlangens abgefehen, vielleicht aus Furcht, der
Dogmatik des chriftlichen Bewufstfeins zu nahe zu rücken.
Er hat, wie Kirn felbft ausführt, in hiftorifcher Reflexion,
nämlich durch Feftftellung des authentifchen Verftänd-
nifses der neuteftamentlichen Schriftfteller für das A. T.,
fich deffen zu vergewiffern gefucht, dafs wir im N. T.
richtiges Zeugnifs von der Offenbarung Gottes in Chrifto
haben, und er hat nun, wenn es galt, den dogmatifchen
Beweis für eine Lehre zu liefern, fich oft mit dem neu-
teftamentlich-theologifchen, alfo hiftorifchen Nachweife
begnügt, dafs fie in dem neuteftamentlichen Zeugnifse von
Jefu Chrifto fowie in der für diefes normativen Wort-
und Thatverkündigung Chrifti enthalten fei.

Halle a. S. Max R ei fehle.

Nagel, Pfr. Lic. E., Das Problem der Erlösung. Eine
religionsphilofophifche, philofophiegefchichtliche und
kritifche Unterfuchung. Bafel, R. Reich. 1901. (VII,
350 S. gr. 8.) M. 5.20

Der Verf. vorliegender Arbeit hat fich nicht etwa
die Aufgabe geftellt, das Problem der Erlöfung in fyfte-
i matifcher Unterfuchung zu erörtern. Er will fich darauf
befchränken, den Entftehungsprocefs des Problems zu
verfolgen, feinen Inhalt zu analyfiren und Klarheit darüber
zu gewinnen, in welcher Weife ,es die gröfsten
Geifter aus der Tiefe ihrer Gedankenwelt, ihres fchöpfe-
rifchen Innenlebens herauszulöfen verflachten'. Er zieht
daher auch die Vorftellung der Erlöfung keineswegs nur
nach dem Inhalt und Umfang in Betracht, welchen die-
felbe im Chriftenthume gewonnen hat. Noch weniger
foll die theologifche Controverfe über Rechtfertigung
und Verföhnung oder die kirchliche Erlöfungslehre im
Mittelpunkte der Erörterung flehen. Vielmehr handelt
es fich dem Verf. gerade um den Nachweis, dafs wir
es bei unferer Idee mit einer allgemeinen Angelegenheit
des menfehlichen Geiftes zu thun haben. Doch fchickt
er voraus, dafs die Löfung, welche das Problem innerhalb
der chriftlichen Religion gefunden habe, ihm mehr
als jede andere geeignet erfcheine, die tiefften Fragen
des menfehlichen Geiftes, deren praktifche Wurzeln
gerade im Erlöfungsgedanken zufammentreffen, in befriedigender
Weife zu beantworten.

Die Wurzeln des Erlöfungsgedankens liegen auf
religiöfem Boden. Ein I. Religionsphilofophifcher Theil
verfolgt deshalb die Entftehung und Entwickelung der
Erlöfungsidee in den wichtigften Erfcheinungen der Religionsgefchichte
. Auf der Stufe der niedrigften Naturreligionen
ift das Ziel der Erlöfung nur die Befriedigung
der wechfelnden Bedürfnifse des natürlichen Lebens und
die Ueberwindung der natürlichen Lebensfehranken, und
! der Weg zu ihr die Beeinflufsung der unfichtbaren Wefen
durch allerlei Mittel des Zwanges, der Lift und der
Lockung, insbefondere durch magifch wirkende Sprüche,
Formeln und Lieder, Riten und Handlungen. Auf der
Stufe der .höheren Naturreligionen' begegnen wir bereits
der Furcht vor der ftrafenden Macht des verletzten
i Guten, vor der der That auf dem Fufse folgenden Vergeltung
, dem Bewufstfein der Schuld, als deren Sühne
jetzt das Opfer — wenigftens zum Theil — eine neue Bedeutung
gewinnt. Seinen tiefften Inhalt aber offenbart
j der Erlöfungsgedanke erft in den ,Geiftesreligionen' (wie
der Verf. nach p. 347 die urfprüngliche Ueberfchrift des
3. Abfchnittes: ,die Erlöfung in den ethifchen Religionen'
1 geändert wiffen will), als deren erfte Gruppe die ,myfti-