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Ausgabe:

1901 Nr. 26

Spalte:

691-694

Autor/Hrsg.:

Kirn, Otto

Titel/Untertitel:

Glaube und geschichte. Eine dogmatische Untersuchung 1901

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 26.

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lieferung aller Kirchengüter an die übrigkeit, zufchreibt,
S. 50, wer die Reformation für alles Unglück jener Zeit
verantwortlich macht (S. 51), wer lieber Türken als Pro-
teftanten zu Feinden haben will, S. 64, wer Butzer der
Unfitttlichkeit befchuldigt, weil er, der einfüge Mönch,
eine Nonne geehelicht hatte, S. 49, wer z. B. einen Mann
wie den Churfürften Ottheinrich ein Ungeheuer von
einem Menfchen nennt, S. 232, dem fehlt das Organ zur
billigen Beurtheilung feiner Zeit und feiner Gegner, auch
wenn er Billick heilst.

Aber unftreitig ift Billick ein begabter, arbeitsfreudiger
, gewandter Vertheidiger der alten Kirche gewefen.
Seine Bedeutung im Kampfe der Kölner gegen die Reformation
Hermann*s von Wied tritt jetzt in ein helles
Licht. Man lernt jetzt auch die lange, eifrige Vorbereitung
der kaiferlichen Religionsordnung, des Interims,
fowie den Antheil des Kölner Mönches erft recht kennen.
Aber fchwer zu glauben ift, dafs das Interim für beide
Theile beftimmt war. Sicher konnte Billick als Katholik
den Katholiken weder die cotnmunio sub utraque noch die
Priefterehe zugeftehen.

Sehr zu beachten ift der Werth, den wiffenfehaft-
liche Bildung und tüchtige Predigt, fo wie katholifche
Poftillen und Katechismen für das Volk in Billick's
Augen hatten. Es ift fehr bezeichnend, dafs er den
Prädicanten die Kanzel verbieten wollte. Noch merkwürdiger
ift das Urtheil des Karmeliten über italienifche
Vifitatoren, die er Harpyien, feile Leute und Geldjäger
nennt, S. 14 und 148, wie über die apoftolifchen Nuntien,
ujuibus omnia sunt venalia', S. 191. Vorfichtig läfst Billick
nach der Durchreife der Nuntien alle ihnen geliehenen
Gegenftände nachzählen, S. 189 Nr. 89. So bietet das
Buch manches Intereffante.

Dafs der Speyrer Karmeliterprior nicht ohne Grund
in den Geruch der Ketzerei gerathen war, zeigt Medicus,
Gefchichte der evangel. Kirche in Bayern, Suppl. S. 22.

Nabern. G. Boffert.

Kirn, Prof. D. Otto, Glaube und Geschichte. Eine dogma-
tifche Unterfuchung. Leipzig, Ch. H. Tauchnitz, 1900.
(III, 84 S. hoch 4.) M. 3.—

Eine Menge von Einzelunterfuchungen hat fich in
den letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren der Frage
zugewendet, ob und wie fich der chriftliche Glaube auf
Gefchichte gründe. Angeregt waren diefe Arbeiten hauptfächlich
durch Ritfehl und feine Betonung der gefchicht-
lichen Offenbarung Gottes in Jefu Chrifto: theils fuchten
fie Ritfchl's Pofition zu befeftigen und zu verbeffern,
theils kämpften fie gegen diefelbe, fei's nun im Sinne
einer ,liberalen Theologie', die überhaupt die Begründung
des Chriftenglaubens auf Gefchichte für unficher erachtet,
oder im Sinne einer ,pofitiven Theologie', die den von
Ritfehl hervorgehobenen Glaubensgrund zu fchmal findet
und deffen Erweiterung auf alle in der Schrift bezeugten
Heilsthatfachen verlangt. Aber neben den Bearbeitungen
der Einzelfragen fehlte eine zufammenfaffende Schrift, die
das gefchichtliche Werden der Frage felbft unterfucht,
ihren Zufammenhang mit den allgemein-wiffenfchaftlichen
Fragen in's Licht geftellt und das Refultat der bisherigen
Controverfe zu ziehen unternommen hätte. Diefe Lücke
fucht nun Kirn's Schrift auszufüllen. Bei diefem Inhalte kann
es zwar nicht anders fein, als dafs vieles, was fchon ge-
fagt ift, nochmals gefagt wird; aber auch das, was von
anderen übernommen ift, gewinnt hier eine neue Beleuchtung
dadurch, dafs es in gröfseren Zufammenhang
gerückt wird, und eine verftärkte Bedeutung dadurch, dafs
es durch das ruhige, befonnene Nachdenken des Verfaffer's
hindurchgegangen ift.

Cap. I (S. 1—27) enthält eine .gefchichtliche
Orientirung'. Durch das Erftarken des hiftorifchen
Intereffes in der Neuzeit ift unfere Frage emporgekom-

' men; aber ihre letzte Wurzel hat fie fchon im Standpunkte
der Reformation. Im Princip war damals fchon

' die Frage geftellt: wie kann eine in der Gefchichte erfolgte
und durch gefchichtliche Ueberlieferung gegenwärtig
erhaltene Offenbarung Grund unferes Glaubens fein?
Allerdings ift die hiftorifche Seite des Problems damals
noch nicht hervorgetreten: die Ueberzeugung von der
untrüglichen Wahrheit der h. Schrift, nachher die Infpi-
rationslehre, bildete eine Schutzwehr gegen das Eindringen
des gefchichtlichen Zweifels. Erft mit der Aufklärung
brach diefer hervor," und man war rafch entfchloffen, die
unficheren , zufälligen Gefchichtswahrheiten' zurückzu-
fchieben. Die Verfuche der fpeculativen Philofophie,
Metaphyfik und Gefchichte mit einander zu verföhnen,
führten nur dazu, dafs die Gefchichte einem dialektifchen
Schema unterftellt und die Bedeutung der Gefchichte vor
allem für die Religion gegenüber dem Bemühen um reine
Erkenntnifs der Idee verkannt wurde. Aber die Hegel'fche
Philofophie brachte, unterftützt durch den Auffchwung
exaeter Gefchichtsforfchung, ein Erftarken der hiftorifchen
Arbeit auch in der Theologie. Im Zufammenhange damit
aber erhob fich auf's Neue die Frage nach dem gefchichtlichen
Grunde des chriftüchen Glaubens. Für deren Löfung
gab Schleiermacher keine ausreichende Leitung, da er
die Frage nach der gefchichtlichen Perfon Jefu Chrifti
als der Grundlage des Chriftenthums auflöfte in die
pfychologifche Analyfe des chriftlichen Gemeindebewufst-
feins mit feinem Chriftusbilde und feiner Erfahrung von
Chrifti Erlöferwirkfamkeit. Erft für Ritfehl wurde, da

! er die ganze Dogmatik an der Norm der Offenbarung
mafs, das Problem dringend, ob denn das Neue Tefta-
ment, durch das uns die Gottesoffenbarung in Chrifto
allein zugänglich ift, wirklich authentifches Zeugnifs von
ihr gebe. Durch complicirte hiftorifche Reflexion hat
er dies gegenüber der Baur'fchen Anficht feftzuftellen
gefucht. In Ritfchl's Schule find zwar nicht die Einzelheiten
diefer Löfung aufgenommen, aber in ihr wurde,
da fie auch den perfönlichen chriftlichen Glauben auf
die gefchichtliche Offenbarung gründete, das Problem
befonders tief empfunden, wie weit die in Jefu Chrifto
gegebene Gottesoffenbarung Gegenftand gefchichtlicher
Forfchung, wie weit fie Object des religiöfen Vertrauens
ift. — Damit fetzt die fyftematifche Unterfuchung ein.
Cap. II (S. 28—45) weift ,die Schwierigkeiten im Be-

! griffe der gefchichtlichen Offenbarung' auf: erhebt
fich doch gegenüber diefem Begriffe als eine mögliche
Folge der hiftorifchen Denkweife die Thefe von der
Relativität alles Gefchichtlichen; und unvermeidlich
unterliegt alles Gefchichtliche der hiftorifch-kritifchen
Unterfuchung, die fich auch zwifchen Jefum Chriftum und
den Glauben eindrängt. Doch befteht eine principielle
Lösbarkeit des Conflictes, wenn nicht die Gefchichts-
wiffenfehaft fich felbft unter den Einflufs einer dem

j Chriftenthume feindlichen Weltanfchauung begiebt, wenn
fie nicht in einer dogmatiftifchen Deutung des Gefetzes

' der gefchichtlichen Continuität und der pfychologifchen

: Analogie, fowie des Entwickelungsbegriffes ihre Grenze
überfchreitet. Die folgenden Theile führen dies im Einzelnen
aus. Cap. III (S. 45—57) zeigt zunächft ,die Un-
entbehrlichkeit einer gefchichtlichen Begründung
für den chriftlichen Glauben'. Nothwendig
ift fie wegen des praktifchen Charakters der chriftlichen
Religion, in letzter Linie wegen der Paradoxie, die in
dem Begriffe der Sündenvergebung liegt: diefe löft lieh
nur durch eine Offenbarung, die zugleich das Gericht über
die Schuld und die befreiende Macht der Vergebung erfahren
läfst. In der vergangenen Gefchichte giebt fich
dabei die ewige, dem Wechfel der Gefchichte entrückte
Wirklichkeit Gottes felbft kund. Und zwar ermöglicht es
uns das N. T., dafs wir von der Autorität der Zeugen Jefu

: zur Autorität Jefu felbft hindurchdringen. Diefer Glaube
kann nach Cap. IV (S. 57—71) wegen der .Grenzen des
gefchichtlich Feftftellbaren' auf hiftorifchem Wege