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Ausgabe:

1901 Nr. 25

Spalte:

672-673

Autor/Hrsg.:

Manno, Richard

Titel/Untertitel:

Heinrich Hertz - für die Willensfreiheit? Eine kritische Studie über Mechanismus und Willensfreiheit 1901

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 25.

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die Kraft, die von diefem Worte Gottes auf das äufsere
und innere Leben des Einzelnen und der Gemeinfchaft
ausgeht, und die Bedingungen, unter denen fie in Wirk-
famkeit tritt; endlich zeichnet er die religiöle Erfahrung,
die fchon vor Chrifto da war und bei aufserchriftlichen
Völkern da i(f. Capitel III, ,von der chriftlichen Erfahrung
als der Wirkung des Wortes Gottes', führt aus, wie Chri-
ftus der centrale Gegenftand der chriftlichen Erfahrung j
ift, und wie diefe fich entwickelt in pofitiver Aneignung
und in kritifcher Auseinanderfetzung. Capitel IV endlich
beftimmt ,die Bedeutung der chriftlichen Erfahrung für
unfere erziehliche Wirkfamkeit, namentlich als Prediger
und Lehrer'. Der Schlufs ftellt in zwanzig Thefen die
Hauptergebnifse zufammen.

Wie der Verf. felbft erklärt, hat er feine Schrift
weniger für die Wiffenfchaftsarbeiter, als für Geiftliche
und gebildete Nichtgeiftliche, namentlich Lehrer, be- I
nimmt. Er felbft ift offenbar vom Intereffe des Pädagogen
aus dazu geführt worden, das Wefen der religiöfen I
Erfahrung zu unterfuchen. Was er zu der Frage beibringt
, enthält viele richtige und gute Beobachtungen.
Mit vollem Rechte fchildert er den ,Gang des chriftlichen
Lebens' mit den Worten: ,Ein Strecken [foll heifsen:
Sichftrecken] nach den Heilsgütern aus dem mehr oder
minder gefühlten oder erkannten Heilsbedürfnifs heraus,
und darnach die Erfahrung ihrer Kraft, nachdem fie
ergriffen find; und aus folcher Erfahrung heraus dann
weiter der Trieb und die Kraft zu eindringenderer Er-
kenntnifs, zu feilerer Ueberzeugung und zu freudigerem,
zuverfichtlicherem Ergreifen der auf verfchiedenen Wegen
. . . . fich uns darbietenden Heilskräfte: und dadurch
zu immer tieferer und reicherer Erfahrung' (S. 69). Aber
die von mir gefperrten Worte enthalten die Aufgabe,
jenes Plrgreifen der Heilsgüter, wie es im perfönlichen
Glauben gefchieht, die Begründung diefes Glaubens in
einem Ergriffenwerden von dem Evangelium und feine
nachträgliche Beftätigung durch ein eigenes Erfahren d. h.
Erproben der im Glauben gewonnenen Heilskräfte fchärfer
zu analyfiren, als es der Verf. thut. Man vermifst überhaupt
bei ihm häufig die einheitliche, fichere Behandlung
und Fefthaltung des Problemes. Nicht selten ift er der
Macht der Ideenaffociation erlegen, wie er felbft mit den
Worten (S. 10) andeutet, ,dafs ab und zu Gedanken, die
nicht unmittelbar in den ganzen Gang der Erörterung
gehören, etwas ausführlicher behandelt werden'. So erhebt
er denn auch mancherlei Fragen, die er felbft nicht
beantwortet: über die Perfon Jefu Chrifti (S. 31), über
die Irrthumslofigkeit Jefu und feiner Apoftel (S. 46 f.);
er zeichnet nur im Vorübergehen grofse Aufgaben, die
er felbft nicht löfen kann und will, die Aufgabe der
Theologie (S. 36), der Religionsgefchichte und der Reli-
gionsphilofophie (S. 62 f.), die Aufgabe einer religiöfen
Erkenntnifstheorie (vgl. den Anhang), fowie einer Unter-
fuchung über das Recht und die Pflicht der fides hu-
niana (S. 61). — Der Standpunkt des Verf.'s ift ein milder
und wohlthuender: er gibt fich z. B. darin kund, wie er
eine gerechte und billige Beurtheilung auch der in der
Heidenwelt vorhandenen religiös-fittlichen Erkenntnifs
von dem Chriften fordert (§ 56—58). Aber es will mir
fcheinen, als ob die mancherlei Einflüfse neuerer Theologie
, die der Verf. in fich aufgenommen hat, nicht zur
vollen Einheit von ihm verarbeitet wären. Die Citate aus
Tröltfch (S. 16.79) und aus Sabatier's Religionsphilofophie
(S. 12. 32. 70. 74. 78. 87 f.) nehmen fich zum Theil als
Fremdkörper in feinem Buche aus. Aber fie find zugleich
ein ehrendes Zeugnis dafür, welche Bildungsfähig-
keit er fich bis in fein Alter bewahrt hat.

Halle a. S. Max R ei fehle.

Man 110. Richard, Heinrich Hertz — für die Willensfreiheit?

Eine kritifche Studie über Mechanismus und Willensfreiheit
. Leipzig, W. Engelmann, 1900. (V, 67 S. gr. 8.)

M. 1.50

Der Haupttitel der Schrift ift zu eng für ihren Inhalt.
Denn der Verf. unterfucht nicht etwa nur die Stellung,
die Heinr. Hertz zu der Frage der Willensfreiheit eingenommen
hat, fondern er giebt, wie der Nebentitel betagt
, eine felbftändige ,kritifche Studie über Mechanismus
und Willensfreiheit', d. h. darüber, ob die naturwiffen-
fchaftliche, caufalmechanifche Erklärungsweife Raum für
die Freiheit läfst. Nur eine Epifode in diefer Unter-
fuchung ift der Nachweis, dafs die Gedanken des Verf.s
zufammenftimmen mit Anfchauungen, wie fie Heinr. Hertz
angedeutet hat, dafs fie demnach ,auf die Autorität eines
Mannes geftützt werden können, dem wohl niemand eine
vorzügliche Kennerfchaft in diefen Dingen beftreiten wird'.
Der Haupttitel ift alfo fehr befcheiden gewählt, oder —
fo kann man auch fagen — fenfationell zugefpitzt. Ich
möchte wünfehen, dafs er wirklich dazu beitrüge, auf die
Brochüre aufmerkfam zu machen. Denn fie verdient es.
Sie ift fcharf und klar, eher zu knapp als zu breit ge-
fchrieben, und fie fafst das Problem der Willensfreiheit
von einer Seite an, die den meiften Bearbeitern desfelben
ferne liegt. In der Regel pflegen diefe den Begriff der
mechaniftifchen Welterklärung nur im allgemeinen zu
gebrauchen, um dann entweder zu entfeheiden, dafs diefe
den Gedanken der Willensfreiheit ausfchliefst, oder, dafs
fie fich nur auf ein begrenztes Gebiet des Gefchehens
erftreckt und darum die Willensfreiheit offen läfst, oder
endlich, dafs fie nur die eine Art der Weltbetrachtung
ift, und daher das, was als mechanifches Gefchehen er-
fcheint, zugleich auch einer anderen Weltbetrachtung unter
der Idee des fittlichen Sollens unterworfen werden müffe.
Der Verf. dagegen fafst den leitenden Gedanken des
Mechanismus felbft genauer an und fucht, auf Grund guter
Kenntnifse von der gefchichtlichen Entwickelung und von
den Frageftellungen und Zielen der Naturwiffenfchaft,
feflzuftellen, was die mechaniftifche Naturerklärung überhaupt
leiften kann und will.

Indem er zuerft den Begriff des Mechanismus und
einer Verbindung von Mechanismen analyfirt, zeigt er
einmal: der Begriff des Mechanismus ift nur folange als
Erklärungsprincip für den Zufammenhang der Dinge
dienlich, als er irgendwie endlich begrenzt gedacht und
ihm eine endlich begrenzte Möglichkeit von Zuftänden zu-
gefchrieben wird, die eine geordnete periodifche Reihe
bilden; fodann: der natürliche Mechanismus ift nicht wie
der künftliche durch irgend einen Freiheitseingriff zer-
ftörbar, fondern fähig, auch folche Actionen in fich aufzunehmen
. Wenn die Wiffenfchaft alfo die zu erklärende Welt
hypothetifch dem Begriffe eines gefchloffenen Mechanismus
unterftellt, fo ift damit die Freiheit noch nicht aus-
gefchloffen. — Aber da die Wiffenfchaft bei ihrer Erklärung
mit dem Gedanken mechanifcher Gefetze operirt,
fo mufs gezeigt werden, dafs auch deren Begriff und Inhalt
die Annahme einer aus Freiheit hervorgehenden Bewegung
nicht aufhebt. Befonders an dem Grundfatze
von der Erhaltung der Energie fucht dies der Verf. nach-
zuweifen. Und hier ift der Punkt, wo er bei Heinr. Hertz
verwandte Gedanken findet. — Die philofophifche Unter-
fuchung der Begriffe ,Caufalität' und,Nothwendigkeit'
leitet endlich hinüber auf das letzte Capitel ,von dem
autonomen Handeln'.

Die Stärke der Brochüre liegt in der Erörterung der
naturwiffenfehaftlichen Begriffe; doch enthalten auch die
letzten, rein philofophifchen Abfchnitte manche feine Beobachtung
. Zu diefen gehört die Bemerkung, dafs nach
Kant der Begriff der objectiven Realität an dem des
Mechanismus hängt, dafs überhaupt Kant in feiner Erkenntnifstheorie
auf's ftärkfte von den Begriffen der
Newton'fchen Aftronomie und Phyfik beeinflufst ift. Ich