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Ausgabe:

1901 Nr. 2

Spalte:

650-651

Autor/Hrsg.:

Lütgert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Erschütterung des Optimismus durch das Erdbeben von Lissabon 1755 1901

Rezensent:

Reischle, Max

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649

Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 24.

den claffifchen Unterfuchungen des Meifters über die
Krankheiten des Gedächtnifses, des Willens, der Perfön-
lichkeit bewundern. Und doch erhellt gerade aus diefem
Buche, dafs wir auf dem von dem Verf. bebauten Gebiete
mit der rein caufalen Methode, welche der Pfycho-
loge mit ausgezeichnetem Gefchicke handhabt, in letzter
Inftanz nicht zum Ziele gelangen. Da eine eingehende
Discuffion hier ausgefchloffen ift, fo möge mir nur die
Hervorhebung eines Punktes geblattet fein.

Bei der Prüfung der krankhaften religiöfen Erfchei-
nungen kommt M. nicht feiten, wenigftens ganz kurz und
gelegentlich, in den Fall, auch von der piete normale (S. 14),
von individus sains et normmix (S. 122) zu reden. Leider
hat er es verfäumt anzugeben, durch welche Mittel und
nach welchen Kriterien er das gefunde religiöfe Gefühl
von den krankhaften und abnormen Erfcheinungen unter-
fcheidet. Aus einer für die ganze Darfteilung charakte-
riftifchen Aeufserung könnte man die Anficht ableiten,
dafs zwifchen den normalen und den pathologifchen Zubänden
des religiöfen Bewufstfeins nur ein quantitativer
Unterfchied obwaltet. S. 15 heifst es nämlich: De memc
que lexageration du sentimcni religieux social conduit au
fanatistne, de meine lexageration du sentiment religieux
individuel, frappante dans le mysticisme, aboutit au complet
detachement de Vextase. Obgleich M. an einigen Stellen
feines Buches aus den von ihm analyfirten krankhaften Erfcheinungen
dasWefen des normalen religiöfen Gefühles
zu eruiren unternimmt (S. 69—72. 145—146. 171 —174),
bringt er es doch nur zu Bemerkungen, die höchftens
zu inductiv gewonnenen Allgemeinbegriffen nach Art
der naturwiffenfchaftlichen Allgemeinbegriffe führen
können; dagegen ift er nicht im Stande fich zu
einem Normbegriffe zu erheben, der feinen Anfpruch
begründen könnte, zwifchen gefunden und abnormen
religiöfen Erfcheinungen zu unterfcheiden. Freilich
müfste der Veif., um diefes Ergebnifs zu erreichen, die
Sphäre des rein ätiologifchen Erkennens verlaffen und
der teleologifchen Betrachtung beitreten, durch welche
der Forfcher keineswegs, wie M. anzunehmen fcheint, in
den Frohndienft der Metaphyfik gerathen würde.

Es wäre eine lohnende Arbeit, auf einzelne Erörterungen
des Verf. näher einzugehen, theils um die
feinen Beobachtungen, die er anftellt, zu fammeln und
zu verwerthen, theils um feinen gewagten Aeufserungen
zu widerfprechen. Wie treffend ift die Bemerkung, die
fich direct auf die Socialdemokratie der Gegenwart anwenden
liefse: les convictions collectives revetent presque lou-
jours une forme religieuse, quand bicn meine dies n'ont pour
obiet aucunc pcrsonnalite divine (S. Ii7). Dagegen dürfte
der folgende Satz über den Proteftantismus nicht ohne
Weiteres auf Zuftimmung rechnen können: le protestan-
tisme qui admct, en principe, le librc examcn aboutit prati-
quemcnt, dans un grand noinbre de cas, ä l'intolcrance.
Cela tient prccisemcnt a ce qu'il est, lui aussi, une reli-
gion et non pas une Philosophie (S. 108).

Der Verf., der fich in der Beobachtung der pfycho-
logifchen Erfcheinungen einer gewiffenhaften Genauigkeit
befleifsigt, nimmt es mit den gefchichtlichen und literari-
fchen Dingen viel leichter. Neben einer ausgebreiteten Be-
lefenheit, nimmt man bei ihm merkwürdige Lücken wahr.
Während die Arbeiten der Franzofen und Engländer ihm
wohl bekannt find, hat er von den Forfchungen der deut-
fchen Gelehrten nur eine dunkle Ahnung. Vor allem mufs
feine überaus flüchtige Art des Citirens gerügt werden:
weder das Datum der Veröffentlichung, noch die Seitenzahl
der von ihm angeführten Schriften werden notirt,
fo dafs es kaum möglich ift, die Angaben desVerf.'s zu
controliren. Seite 79 ift zu lefen Bogatzky, ftatt Pogatzky;
S. 164 Sankey ftatt Lankey,

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Liitgert, Prof. Lic. W., Die Erschütterung des Optimismus
durch das Erdbeben von Lissabon 1755. (III. 59 S.)

Schlatter, Prof. D. A., Was ist heute die religiöse Aufgabe
der Universität. (19 S.)

(Beides in: Beiträge zur Förderung chriftlicher Theologie
. Herausgegeben von A. Schlatter und H. Cremer.
Fünfter Jahrgang 1901, Hft 3.) Gütersloh, C. Bertelsmann
, 1901. (gr. 8.) M. 1.20

1. Da ich es für eine gute Sitte halte, dafs kein College
die Schrift eines Collegen in Literaturzeitungen recenfirt,
fo verzichte ich gegenüber Lütgert's Arbeit, die ich fchon
vor feiner Verletzung nach Halle übernommen hatte, auf
jede Beurtheilung und gebe nur ein kurzes Referat. Die
Unterfuchung zerfällt in einen hiftorifchen und einen
fyftematifchen Theil. Im erfteren fchildert der Verf. zuerfl
den populären Optimismus des 18. Jahrhunderts, nämlich
den älthetifchen Optimismus eines Shaftesbury und die
durch den Gedanken des Naturgefetzes beftimmte An-
fchauung von der beftmöglichen Welt bei Leibnitz, fo-
wie die aus beiden Strömungen hervorgehende allgemeine
Stimmung der Aufklärung; fodann das Hervortreten von
theologifchen Bedenken und philofophifchen Zweifeln;
endlich den Eindruck des Erdbebens von Liffabon und
die Debatte, die fich daran in Frankreich und in Deutfch-
land knüpfte, dort zwifchen Voltaire und Rouffeau, hier
zwifchen Kant und Hamann. Kant's Retractation feiner
früheren theoretifchen Theodiceeverfuche befiegelt das
Refultat, dafs der wohlgemuthe Optimismus und die felbft-
gewiffe Theodicee der Aufklärung im Skepticismus endet.
— Der zweite fyflematifche Theil enthält die Begründung
des Vorfehungsglaubens gegenüber dem Optimismus der
Aufklärung. Die Frage, um die es fich handelt, darf nicht
lauten, ob Gott recht hat, wenn er Uebel fendet; fondern
ob wir trotz des Uebels, das als empirifche Thatfache
gegeben ift, recht haben mit unferem Glauben an Gott.
Der Glaube aber beruht feinem wahren Wefen nach weder
auf empirifchen Urtheilen, wie es der Optimismus anfah,
noch behauptet er fich nur im Widerfpruche gegen alles
Wiffen, wie Kant die Sache betrachtete; fondern der Glaube
hält fich feinem Wefen nach an eine uns gegebene erkennbare
Erweifung Gottes und erweitert fich von diefer aus
über die Welt, foweit diefe uns unerkennbar ift. Diefer
Glaube ift nicht blofse Beugung oder Refignation gegenüber
dem Willen Gottes, aber auch nicht ein gegen den
Weltenlauf fich auflehnendes ftürmifches Verlangen,
fondern eine Einigung diefer beiden Richtungen. Der
Vorfehungsglaube, der wirklich beides in fich vereinigt, ent-
fteht aber, wie aller wahre Glaube, nur durch Bekehrung:
er ift der ftete Verzicht darauf, den Lebenslauf durch
eigenen Willen zu geftalten, und er ift das ftete bittende
Verlangen, das fich auf Gott richtet, um den gefammten
Inhalt des Lebens von ihm zu empfangen. Durch folchen
Vorfehungsglauben wird auch die fruchtlofe Reflexion
über unfere Vergangenheit und über die Zukunft, die
Sorge, überwunden und uns ein Leben in der Gegenwart,
ja in der Ewigkeit, ermöglicht.

2. Schlatter's akademifche Feftrede führt ihr kühnes
Thema geiftreich durch. Die Univerfitäten üben jedenfalls
thatfächlich durch ihre ganze Arbeit bedeutfame Einwirkungen
auf den religiöfen Befitz unferes Volkes; diefe
Thatfache aber nöthigt zu der Frage, welche Aufgabe
ihnen darin gegeben ift. Nicht utopiftifch darf diefe Aufgabe
beftimmt werden, fo dafs fie nur für eine Zukunfts-
univerfität gelten könnte, fondern fo, dafs fie für die
gegenwärtigen Univerfitäten pafst. Dielen nun ift einmal
der wichtige Beruf zuzuweifen, dafs fie in unferer Zeit
in der eine Verfchiedenheit von Weltanfchauunwen fich
geltend macht, das Verftändnifs für alle diefe geiftigen
Formationen fördern; fie follen dazu helfen, dafs wir uns
felbft verftehen lernen, dafs wir das Verftändnifs der uns
entgegenftehenden Ueberzeugungen gewinnen, und dafs