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Ausgabe:

1901 Nr. 2

Spalte:

39-44

Autor/Hrsg.:

Dorner, August

Titel/Untertitel:

Grundriss der Dogmengeschichte. Entwicklungsgeschichte der christlichen Lehrbildungen 1901

Rezensent:

Loofs, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 2.

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Vermifst habe ich eine Prüfung der Frage nach dem
literarifchen Charakter des ,Briefes'. Haben wir in diefem
eigenartigen altchriftlichen Texte einen nachträglich
publicirten wirklichen Brief vor uns oder eine von vornherein
für die chriftliche Oeffentlichkeit beflimmte Epiflel
oder einen ganz formlofen Tractat? Diefe Frage ift
nicht fo unwichtig, wie Karl offenbar annimmt; ihre Beantwortung
ift vielmehr die Vorausfetzung für die Methode
der Exegefe mehrerer bedeutfamer Stellen.

Der Verfaffer ift nach Karl ein ,ungeübter Schrift-
fteller'; das Wörtchen iva z.B. gehört zu feinen Lieblingswendungen
, die er auch am unpaffenden Ort anwendet.
,Vielleicht auch Provinzialismus oder Vulgärfprache, die
zwar erft fpäter litterarifch feftgelegt wurde' (S. 22). Es
verräth das gefunde exegetifche Gefühl Karl's, dafs er
an diefer Stelle (1. Joh. 1,9) iva confecutiv erklärt, im
Gegenfatz zu den Auslegern, die in der Schule gelernt
haben, iva fei final und die deshalb um jeden Preis
einen finalen Sinn des tW-Sätzchens ausbrüten möchten.
Aber nicht ein Zeichen von ,Ungeübtheit' ift diefes
fonderbare iva, auch kein Provinzialismus, fondern ein
Gebrauch der lebendigen Umgangsfprache. die in der
Kaiferzeit fchon auf dem beften Wege ift, den Infinitiv
zu verdrängen, — eine Tendenz, die bekanntlich dahin
geführt hat, dafs im Neugriechifchen der Infinitiv allerdings
völlig durch eine Conftruction mit va erfetzt ift.
Eine Beobachtung diefer Kleinigkeiten trägt manches
aus für die allgemeine hiftorifche Beurtheilung des
apoftolifchen Chriftenthums. Wer, vielleicht unter dem
ironifchen Lächeln der Grammatiker undRhetoren, dasfelbe
Iva fchrieb, das auch auf den Märkten von Ephefos und
Theffalonike gehört und in den Schulftuben von Alexan-
dreia verdammt wurde, der gehörte jedenfalls nicht zu den
Gebildeten und Gefchulten, fondern zu der zwar nicht
ungebildeten, aber unbefangenen Schicht, deren lebendiger
Sprache trotz aller reactionären Mafsnahmen der Atticilten
die Zukunft gehörte. Von folchen Dingen kann manch
einer heutzutage nicht fprechen, ohne das Urchriftenthum
erft des langen und breiten wegen feiner .Vulgarismen'
zu entfchuldigen. Beffer wäre es wahrhaftig, von diefer
Sache mit kräftigem Geufenftolz zu reden.

Heidelberg. Adolf Deifsmann.

Dorner, D. Dr. A. Grundriss der Dogmengeschichte. Entwicklungsgeschichte
der chriftlichen Lehrbildungen.
Berlin, G. Reimer, 1899. (XI, 648 S. gr. 8). M. 10.—

Bald nach feinem Erfcheinen habe ich dies Buch
gelefen. Längft wäre auch hier die Anzeige erfchienen,
wenn nicht ein Referat von Prof. D. Otto Pfleiderer
(.Auguft Dorner's Dogmengefchichte', Proteftantifche
Monatshefte III, 421—430, 21. Nov. 1899) mir zunächft
alle Luft zum Schreiben benommen hätte. Pfleiderer
hat in Dorner's Buch ein erlöfendes Standard-Work begrübst
. ,Die letzten Jahrzehnte', fo fagt er im Eingange
feiner Anzeige S. 421, ,haben uns zwar einige für die
Plrkenntnifs des Einzelnen überaus fchätzbare Werke
gebracht, aber an Objectivität der Darftellung und Beurtheilung
haben diefe meiftens nicht nur keinen Fort-
fchritt, fondern einen entfehiedenen Rückfehritt gegenüber
der Mitte des Jahrhunderts gezeigt, fo dafs fich
manchem die Beforgnifs aufdrängen mochte, wir werden
auf eine wirklich objective Gefchichte des chriftlichen
Denkens fo lange verzichten müffen, bis fich einmal ein
von allen dogmatifchen Brillen und romantifchen Schrullen
freier Nichttheologe an diefe Dinge machen würde. Um
fo freudiger ift unfere Ueberrafchung darüber, dafs nun
doch noch vor Ende des Jahrhunderts ein Werk aus
der Feder eines modernen Theologen erfcheint, das —
ohne an Fülle des Details mit den gröfseren dogmen-
gefchichtlichen Werken wetteifern zu wollen — doch
auf foliden und umfaffenden Einzelftudien beruht, zugleich
aber den grofsen Vorzug vor jenen hat, dafs es

I die in der Profangefchichte längft herrfchende entwick-
lungsgefchichtliche Methode in ftrenger, von
allem Dogmatismus freier Objectivität in Darfteilung
und Beurtheilung des ganzen Stoffes durchführt'.
Und zum Schlufse heifst es S. 430: ,Ich fchliefse mit dem
Ausdruck meines lebhaften Dankes für das treffliche
[ Werk, mit dem Dorner der Theologie einen Dienft ge-
leiftet hat, deffen Werth heute vielleicht noch erft von
Wenigen voll gewürdigt werden mag.' Aber die Zeit
wird gewifs und vielleicht fchon bald kommen, wo man
Dorner's Auffaffung der chriftlichen Lehrgefchichte all-
I gemein richtig würdigen wird; fie wird kommen, wenn
] erft die junge Theologengeneration fich des engen dogmatifchen
Bannes entfchlagen und zum Verftändnifs der
in der gefammten aufsertheologifchen Wiffenfchaft längft
als felbftverftändlich anerkannten evolutioniftifchen Ge-
fchichtsbetrachtung auffchwingen wird'.

Zu den .vielleicht Wenigen', die gleich Pfleiderer
Dorner's Buch für ein hochbedeutfames Werk halten, ge-
i höre ich nicht. Das hat mir die Anzeige verleidet und
j ihre Verzögerung verfchuldet. Nicht, dafs ich mich ge-
fcheut hätte, das Odium eines ungünftigeren Urtheils
auf mich zu nehmen, oder, dafs es mir peinlich gewefen
wäre, als einer der Rückftändigen zu erfcheinen, die nicht
im Stande find, ,zum Verftändnifs der evolutioniftifchen
Gefchichtsbetrachtung fich aufzufchwingen'! Dies Doppelte
läfst fich unfehwer tragen. Das verdarb mir die Stimmung
, dafs meine Anzeige im Voraus als parteiifche gekennzeichnet
war. Denn beweifen nicht Pfleiderer's Ausführungen
, dafs er, wie von Harnack — dem ungenannten
grofsen Aergernifs, das Dorner's Tugend ins Licht fetzt—,
fo auch von gleich fchuldigen kleineren Uebelthätern,
zu denen auch ich gehöre, ein Dorner ,nicht voll würdigendes
Urtheil' erwartet? Gern hätte ich diefer Zeitung
eine Anzeige erfpart, die, weil fie Pfleiderer's Urtheil fich
nicht aneignen kann, fie bei ihren Gegnern dem Vorwurf
ausfetzt, fie übe Schul-Kritik. Allein durch alles
1 Warten wird die Situation nicht beffer. Das Buch mufs
! angezeigt werden, und zwar, damit ich dem Vorwurf
parteiifchen Urtheils im Voraus entgegentrete, unter
gleichzeitiger Rückfichtnahme auf Pfleiderer's Referat.

Zweifellos günftig ift dabei meine Pofition, fo lange
es fich nur um die Beurtheilung des gelehrten Materials
handelt, mit dem Dorner operirt. Dorner felbft fagt in
der Vorrede (p. IV fq.): ,Dafs man jeder umfangreicheren
j hiftorifchen Unterfuchung genugfam am Zeuge flicken
I kann, ift mir wohl bewufst; daher bin ich auch für jede
wirkliche Befferung dankbar. Mögen auch die Hifforiker
vom Fach mit Recht den Vorzug in Anfpruch nehmen,
in der Einzelforfchung noch mehr durch die Lupe zu
fehen! Mir fcheint es nicht vom Uebel, wenn auch Syfte-
matiker fich um diefes Gebiet kümmern, wäre es auch
I nur, damit der Vereinzelung des gewaltigen hiftorifchen
j Materials ein Gegengewicht zur Seite tritt'. Dafs Har-
nack's Dogmengefchichte — fie vornehmlich ift auch für
Dorner die Vertreterin der Auffaffungen und Urtheile,
die er nicht theilt — eine .Vereinzelung des gewaltigen
hiftorifchen Materials' fich zu Schulden kom men laffe oder
ein diffufes Auseinandergehen der dogmengefchichtlichen
Forfchung angeregt habe, das ift nun freilich der letzte Vorwurf
, den ich Harnack gegenüber für berechtigt halten
I könnte. Dochdasbeifeit! Jedenfalls zeigen diefe Worte Dor-
} ner's, dafs er fich des bewufst ift, dafs ihm hinfichtlich der
zünftigen hiftorifchen Gelehrfamkeit Lücken nachge-
wiefen werden können. Das ift ganz natürlich. Und fo
I gewifs'Dorner ein Recht hat zu verfichern, dafs feine
philofophifchen Arbeiten ihn ,nicht gehindert hätten, in
j dem hiftorifchen Gebiet der chriftlichen Lehrbildung
mancherlei Studien zu machen' (Vorrede p. V) — wir alle
wufsten das von ihm und fehen es auch in noch umfangreicherem
Mafse in diefem Buche —, fo gewifs
würde ich, hätte ich nicht auf Pfleiderer Rückficht zu
I nehmen, nicht viel Worte darüber machen, dafs in der