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Ausgabe:

1901 Nr. 22

Spalte:

603-604

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Hans Georg

Titel/Untertitel:

Die Lehre vom Tyrannenmord. EinKapitel aus der Rechtsphilosophie 1901

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr, 22.

604

liert — man denke unter anderem an die von Paulfen in
feiner ,Einleitung' vorgetragene Weltanfchauung — anfängt
auch in einzelnen theologifchen Verfuchen eine
Rolle zu fpielen.

Strafsburg i. E. E. W. Mayer.

Schmidt, Pfr. Dr. Hans Georg, Die Lehre vom Tyrannenmord
. Ein Kapitel aus der Rechtsphilofophie. Tübingen
u. Leipzig, J. C. B. Mohr, 1901. (VI, 141 S.
gr. 8.) M. 2.40

Der Verf. ift zu feiner Arbeit veranlafst worden durch
eingehendes , Studium der Gegenreformation namentlich
in Frankreich', wo in kurzer Zeit zwei Könige befeitigt
wurden. Wer fich freilich durch den Titel des Buches
zu der Annahme verleiten liefse, dafs es fich um eine
thetifche Darlegung und Erörterung der Lehre vom
Tyrannenmorde handle, würde irre gehen: was geboten
wird, ift lediglich ein hiftorifches, fehr verfchiedene
Zeiten umfpannendes Referat. Nachdem der Begriff
des Tyrannen durch etwas elaftifche Beftimmungen um-
fchrieben worden ift, werden zahlreiche Autoritäten verhört
und ihre Anflehten über das in der Ueberfchrift
angedeutete Problem feftgeftellt. Plato und Ariftoteles
eröffnen die Reihe. Die Bibel kommt zur Sprache.
Aus dem Mittelalter werden berückfichigt Johannes
von Salisbury und Thomas von Aquino. Von den
Jefuiten Suarez und Johannes Mariana. Von den Reformatoren
Luther und Calvin. Ein befonderes Capitel
ift Jean Bodin gewidmet. Folgen Grotius und Hobbes;
Languet, Buchanan und Milton; Sidney und Locke;
endlich Rouffeau. Den Abfchlufs bildet eine kurze
Befprechung des Nihilismus und Anarchismus, die eine
abfehätzige Beurtheilung erfahren.

Allein fchon die angeführten Namen beweifen, dafs
die Schrift fich nicht auf die Lehre vom Tyrannenmorde
im engeren Sinne befchränkt, fondern auch auf die Auf-
faffung von Zweck und Entftehung des Staates, vom
Rechte politifcher Umwälzungen überhaupt und ähnliches
fich einläfst. Dadurch wird einerfeits der an fich doch
wohl nicht ganz einwandfreie Nebentitel des Buches gerechtfertigt
. Andererfeits wird eine Fülle von Material
in den Bericht mit hineingezogen, das fich auf knapp
bemeffenem Räume nicht leicht bewältigen läfst: die Genauigkeit
und Präcifion der Darftellung leidet darunter. 1
Begriffe, die zwar verwandt find, aber fich nicht decken,
wie beifpielsweife der des Tyrannenmordes und der Revolution
, werden nicht immer fauber genug auseinandergehalten
. Auch fragt man fich, wodurch die Auswahl
des Stoffes bedingt fei: wenn doch einmal die Lehre
vom Staate im allgemeinen Beachtung findet, warum
wird neben Luther nicht Melanchthon erwähnt? oder
Montesquieu und andere neben Rouffeau?

Eine nähere Beleuchtung erheifchen an diefer Stelle
die Abfchnitte, die fich auf religiös oder theologifch be-
deutfame Inftanzen beziehen. Neben einzelnem Guten,
das fie enthalten, laffen fie fehr zu wünfehen übrig.
Das Alte Teftament wird auf einer Seite abgethan: das
ift zu wenig oder zu viel. In Bezug auf das Neue
Teftament erfahren wir, dafs Jefus mit dem Spruche
Mt. 22,21 die Weifung ertheile, ,den berechtigten Anforderungen
der Obrigkeit nachzukommen', zugleich aber
einen Mafsftab darreiche, ,an dem man die Berechtigung
der Forderungen prüfen kann, nämlich an den von Gott
flammenden, an den göttlichen Geboten'. Hier wird
eine Exegefe getrieben, für die fich in der proteftanti-
fchen Theologie fchwerlich Zuftimmung finden laffen
wird. Dafs Paulus dem Chriften die Selbfthilfe gegen
irdifche Machthaber nicht geftatte, wird mit 1. Tim. 2,2
belegt. Was das Referat über Luther anlangt, fo wird
entfprechend der falfchen Deutung des Wortes Jefu
mindeftens das Mifsverftändnifs begünftigt (vgl. S. 51 ff.

und S. 63), als ob der Reformator die Beurtheilung politifcher
Angelegenheiten allein aus der Schrift ableiten
wollte. Der Autor, der die Auslegung das 101. Pfalmes
citirt, wird natürlich fehr wohl wiffen, dafs nach diefer
,das weltliche Regiment der Vernunft unterworfen und
befohlen fei': das kommt jedoch nicht mit gebührender
Deutlichkeit zum Ausdrucke.

An ftiliflifchen Unebenheiten und Nachläffigkeiten
find dem Ref. aufgefallen; S. 41, Z. 13 v. u. ff.; S. 42,
Z. II v. O. ff.; S. 45, Z. 2 V. U.; S. 51, Z. 14 V. U. f.; S. 139,
Z. 12 v. u.; Druckfehler finden fich: S. 20, Z. 14 v. o.;
S. 72, Z. 11 v. o.; S. 86, Z. 6 v. u.; S. 93, Z. 4 v. u.; S. III,
Z. 5 v. o.; S. 112, Anm.; S. 136, Z. 9 und 10 v. o. Statt
Chemier (S. 120) mufs es heifsen Chenier. Das Werk
von Sidney heifst nicht ,discours concerning governe-
menf, fondern discourses concerning government.

Um zufammenzufaffen: das Buch von Schmidt zeugt
von grofser und anerkennenswerther Belefenheit des Verf.;
es bietet eine anregende Unterhaltungslectüre und wird
auch dem oder jenem zur Belehrung gereichen können;
man vermifst aber darin "eine ftreng wiffenfehaftliche
Methode und die nöthige peinliche Sorgfalt.

Strafsburg i. E. E. W. Mayer.

Kretschmer, Pfr. E., Die Ideale und die Seele. Ein pfycho-
logifcher Neuerungsverfuch, nebft einem logifchen Anhang
: Zur Lehre vom Urteil. Leipzig, H. Haacke, 1900.
(V, 168 S. gr. 8.) M. 3.40

Das vorliegende Buch ,ift hervorgegangen aus dem
inneren Bedürfnifs des Verf., zunächft fich felbft völlig
klar zu werden über die täglich im Leben wie in der
Wiffenfchaft gebrauchten Bezeichnungen feelifcher Vorgänge
und Verhältnifse und damit über diefe felbft'. Es
geftaltet fich fo zu einem kurzen Abrifse der Pfychologie,
ohne dafs es fich freilich einliefse auf die durch die
paralleliftifche Theorie gegenwärtig in den Vordergrund
gedrängten Probleme oder andere aktuelle Erörterungen
von prinzipieller Bedeutung.

Hintereinander werden folgende Themata befprochen:
das finnliche Seelenleben, insbefondere die Empfindung;
das Gedächtnifs als die ,erhaltende Kraft' der Pfyche; die
auf räumliche und zeitliche Verhältnifse der Vielheit,
Gröfse, Form, Lage u. dgl. fich beziehende Anfchauung;
die Erkenntnifs im engeren Sinne, womit die Wahrnehmung
der logifchen Beziehungen derUebereinftimmung,
Aehnlichkeit oder Gleichheit fowie der Nichtüberein-
ftimmung, der Verfchiedenheit oder des Gegenfatzes gemeint
ift; die Vorftellung, d. i., die innere Wahrnehmung,
die Wahrnehmung der ,vom Gedächtnifs aufbewahrten
Spuren' früherer unmittelbarer Elmpfindungen, Anfchau-
ungen, Erkenntnifse. Darauf geht die Darfteilung über
zu den Gefühlen und Trieben, die im engen Anfchlufse
an die Stufen und Arten der Wahrnehmung in finnliche,
aefthetifche, logifche und natürliche und fittlich-religiöfe
eingetheilt werden, und befchreibt des weiteren die fee-
lifche Selbftthätigkeit, die theils eine ,rein innerliche', theils
eine,von innen geleitete äufserliche' fei. Auf einen kurzen
Verfuch, die Begriffe des Bewufstfeins und Selbftbewufst-
feins zu beftimmen, folgt fchliefslich die Erörterung der
,Ideale'. Der Autor verzichtet darauf, genauer darzulegen,
wie diefe ,ohne die Vorausfetzung eines perfönlichen
Gottes . . . keine genügende Erklärung, keinen untrüglichen
Mafsftab und keine Bürgfchaft ihrer endlichen
vollen Verwirklichung' haben, und will fich begnügen den
Ort derfelben im Ganzen des Seelenlebens aufzuzeigen.
Ein ,Anhang' giebt dann noch eine Definition und Clafti-
fication des Urtheils.

Es ift vielleicht kein Glück für die Schrift Kret-
fchmer's, dafs ihr Titel die Aufmerkfamkeit des Lefers
befonders auf den Abfchnitt lenkt, der von den Idealen
(des Guten, Schönen, Wahren) handelt: er ift keineswegs