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Ausgabe:

1901 Nr. 22

Spalte:

600-601

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Eugen Heinrich

Titel/Untertitel:

Leo Tolstoi und seine Bedeutung für unsere Kultur. 1. u. 2. Tsd 1901

Rezensent:

Hans, S.

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 22.

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war. Aber eben ob und wie diefer gewundene und doch |
gerade Gang fich in feiner Predigtweife fpiegelt, darauf
gebt Hering keine Antwort. Dafs hier etwas Originales,
von Partei und Schablone Freies, werden follte, deuten
fchon die Ausgangspunkte an. Das Elternhaus wurzelt
im Pietismus herrnhutifcher Färbung. Aber der Onkel,
der die entfcheidenden Einflüfse auf den Knaben übt —
vgl. die meifterhafte Charakteriftik im Tgb. S. 15 ff. —,
lebt ein Chriftenthum eigner Art, das keinen zeitgefchicht-
lichen Namen auf fich anwenden läfst. Ihm war auch
Schleiermacher ein guter Name. Darum ift dem Studenten
pietiftifcher Herkunft der Berliner Pietismus zu eng. J
.Meine Kniee thaten mir weh', beim Gebete des treuherzigen
grundfrommen Leinenhändlers Buffleb' (Tgb. 63).
Darum blieb er Hengftenberg fremd, nicht blofs, wie
Kähler S. 10 allein anführt, wegen feiner fcharfen Polemik,
fondern weil er den Eindruck hatte, ,dafs er oft fophiftifch
argumentire' (Tgb. 68). Ich dächte, diefen Satz hätte
Kähler nicht übergehen dürfen, zumal Hoffmann hinzufügt
: ,dankbar verehre ich ihn, wiewohl mein Urtheil
über ihn fich nicht verändert hat'. Hoffmann gehört zu-
nächft in das Lager der Union, aber wie fo viele mit ihm
nur für kurze Zeit, um von da aus zu den Confeffionellen
überzugehen. Aber die Motive zu diefer Wandlung find
nicht in einer Sehnfucht nach handfefter Lehre, Be-
kenntnifs, zu fuchen. Sondern einmal ift mit dem Intereffe 1
für kirchliche Baukunft der gefchichtliche Sinn in Hoffmann
lebendig geworden. Die Concordienformel gewinnt 1
ihm ,Refpect' ab, und durch Göbel läfst fich der Candidat |
über die Unterfchiede der reform, und luth. Kirche aufklären
. Aber entfeheidend wird ein Motiv, das auf ganz
anderem Boden gewachfen ift. Schleiermacher's Zorn
gegen das Staatskirchenthum wird von ihm unter dem
Eindrucke der Verfolgung der Altlutherancr angeeignet,
und der Gegenfatz der neuen Aera gegen die Zeit Friedrich
Wilhelm'sIV fteigert diefe Stimmung zu lebhaftefter Antipathie
gegen die landeskirchliche Union. ,Aber in ein
Lehrgebäude, noch dazu in ein traditionelles, mich wie
in ein Schneckenhaus einfehmiegen, habe ich auch in
meinen orthodoxeften Zeiten nie fertig bekommen'. Hält
man diefe beftimmte Erklärung (Tgb. 139 — von Kähler
S. 20f. nicht gewürdigt) mit dem Urtheile über Hengftenberg
zufammen, fo begreift fich, dafs es nur eines äufseren
Anftofses bedurfte, um das Band mit den fchroffen Vertretern
des Confeffionalismus zu lockern. Diefen Anftofs
bot ein Willküract der Auguftconferenz bei ihrer zweiten
Zufammenkunft (1875). Hoffmann verfagte als einziger
feine Zuftimmung zu der ohne vorausgegangene Debatte
anzunehmenden Erklärung, ,dafs die lutherifche Kirche in
Preufsen zu Recht beftehe' und das Ergebnifs feines Nachdenkens
über Vergangenheit und Gegenwart des exclu-
fiven Lutherthumes fafst fich in die Worte zufammen:
,dafs ich meinen Standpunkt nur aufserhalb der jetzigen
kirchlichen Parteien nehmen kann' (Tgb. 196 Kähler 48).
Fortan widmet fich Hoffmann ausfchliefslich feiner Gemeinde
, der ,Erziehung der Einwohner feiner Parochie
zu einer chriftlichen Gemeinde'. Aber diefe Kleinarbeit,
die Kähler aus reicher Kenntnifs liebevoll zeichnet, ift
von hohem kirchengefchichtlichen Intereffe. Denn ,eine
folche Aufgabe hatte unfere Kirche lange kaum erkannt' 1
(Kähler S. 30). Wie ihre Erfaffung und Durchführung
Zeugnifs von der Reife feines chriftlichen Charakters ab- j
giebt, fo wird fie andrerfeits auch — vgl. feine Rede beim
Doctorfchmaus 1884, Tgb. 230 — ihn zu der Weitherzigkeit
erzogen haben, die feine letzte Amtszeit kennzeichnet. [
Ueber den letzten Conflict — mit R. Haym — aus Anlafs
der kirchlichen Wahlen 1874 hat Kähler S. 60 doch nicht
ganz genau berichtet. Hoffmann hatte nicht nur (Bedenken'
gegen Haym geäufsert, fondern (Tgb. 181) fein ausdrückliches
Veto gegen deffen Wahl eingelegt. Und er hat
dies Veto nicht zurückgezogen, weil ihn die Ablehnung 1
um die Unterftützung der Gleichgefinnten bringen könne, j
die man ihm dann nicht gewählt hätte, fondern weil es |

ihn ,frappirte', in den Schriften Haym's keinen Zug von
Feindfeligkeit gegen die chriftliche Wahrheit zu finden,
und weil die Unterredung mit ihm felbft ihm den Muth
nahm, gegen feine Zulaffung zu proteftiren, da er hätte
fürchten müffen, ,den befferen Mann zurück zu fchicken
hinter die geringeren'. Nach Kähler hätte er Kirchen-
vorftands-Politik getrieben, nach feinen eigenen Auslagen
hat er fein Veto trotz dem Widerfpruche nächfter Freunde
aus Gewiffensgründen zurückgezogen. — Die Petition der
Hallifchen Studentenfchaft um Berufung von D. F. Straufs
(1841 oder 42) war nicht (Kähler S. 13) an den Minifter
Altenftein, fondern, naiv genug, unter dem Minifterium
Eichhorn an den König Friedrich Wilhelm IV felbft gerichtet
. S. Treitfchke, Deutfche Gefch., 5, 232. —

Offenbach. S. Eck.

Schmitt, Eugen Heinrich, Leo Tolstoi und seine Bedeutung
für unsere Kultur. 1. u. 2. Tsd. Mit Buchfchmuck von
I. V. Cissarz. Leipzig, Eug. Diederichs, 1901. (482 S.
kl. 8.) M. 5.—

Der Verfaffer des vorliegenden Buches verfolgt mit
ihm eine doppelte Abficht. Er will uns über die Grundgedanken
Tolftoi's und über feine Bedeutung für unfere
Cultur oder über feine Weltmiffion, wie er es auch nennt,
aufklären, und er will ihm diefe Weltmiffion erfüllen
helfen, indem er jene genialen, aber der fyftematifchen
Zufammenfaffung und ausreichenden wiffenfehaftlichen
Begründung entbehrenden Gedanken weiter ausbaut und
ficher unterbaut, um fie fo allgemein einleuchtender und
wirkfamer zu machen. Vor allem hebt er hervor, dafs
es ein Mifsverftändnifs fei, in Tolftoi nur den Moralprediger
zu fehen, es fei vielmehr eine neue Weltan-
fchauung, die er lehre, und eine Umwälzung in diefer
Hinficht ftrebe er vor allem an, da er nur auf diefem Wege
feine ethifchen Ziele erreichen könne. Diefe Weltanfchauung
ftehe zu der theologifch-kirchlichen ebenfofehr im Gegen-
fatze wie zu der pofitiviftifch-naturaliftifchen, aber fie fei
die Weltanfchauung Chrifti, die zugleich in uralter Weisheit
, im Brahmanismus, Buddhismus und in der Lehre
Laotfe's fchon angebahnt und vorgebildet fei. Und fie fei
der Weltanfchauung der modernen Wiffenfchaft nicht blols
in fittlicher, fondern auch in intellectueller Hinficht durchaus
überlegen. Dies letztere will der Verfaffer nachweifen.
Aber um es nachweifen zu können, hält er, wie gefagt,
eine Weiterführung und federe Begründung derToldoi'fcher
Gedanken für nothwendig. So hoch er Toldoi dellt —
er fieht in der von ihm vorbereiteten Umwälzung eine
Geidesrevolution, die der mit der Begründung des Chriden-
thumes eingetretenen zu vergleichen fei —, fo fchreibt er
ihm doch, wie aus den eben angeführten Worten hervorgeht
, nur die Vorbereitung der grofsen Umwälzung
im geidigen Leben der Menfchheit zu, es id ihm, wie
wenn er in Parallele zu fetzen wäre mit Johannes dem
Täufer, dem grofsen Propheten des alten Bundes, von
dem doch Chridus fagt, der Kleinde im Himmelreiche fei
gröfser als er. Er habe auf intuitivem Wege die rechte
Erkenntnifs gewonnen, er habe fich ebenfo wie die deut-
fchen Idealphilofophen ,auf den Flügeln der Univerfal-
anfehauung völlig in den Aether des reinen Denkens
erhoben und den feden Boden der finnlich fafsbaren,
finnlich begründbaren Erkenntnifs aus den Augen verloren'.
Auf diefe Weife aber lade fich nicht erreichen, was Toldoi
beabfichtige, ,die Ueberlegenheit einer höheren Weltanfchauung
der Befchränktheit des Gefichtskreifes natu-
ralidifcher Schriftgelehrfamkeit gegenüber geltend zu
machen'. Hier will nun der Verfaffer einfetzen. Er will
diefe höhere Weltanfchauung in einer wiffenfehaftlich fafsbaren
Weife, auf Grund der Errungenfchaften modernen
Naturerkennens ausarbeiten, er will den höchden und rein-
denIdealismusauf naturwiffenfehaftlichem Wege begründen
und verdändlich machen, und er meint, fo werde fich