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Ausgabe:

1901 Nr. 2

Spalte:

37-39

Autor/Hrsg.:

Karl, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Johanneische Studien 1901

Rezensent:

Deissmann, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 2.

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Richtig ift ficher mit Bickell und Gunkel gegen
Wellhaufen, dafs c. I nicht von Haus aus zu c. II f. hinzugehört
. ,Die allgemeinen eschatologifchen Gedanken
von c. I contraftiren zu ftark mit der concreten pro-
phetifchen Schilderung der Capitel II und III'. —■ Richtig
i(t auch fehr wahrfcheinlich mit Bickell und Gunkel gegen
Wellhaufen, dafs die alphabetifche Ordnung urfprünglich
und nicht erft fpäter hineingearbeitet ift. — Aber diefe
alphabetifche Ordnung reicht nur bis zum Buch-
fr. ab en 3 V. 8, und das Urtheil Wellhaufen's (kleine
Propheten ;1 S. 159), .diefer (Gunkel's) Verfuch ift gänzlich
mifslungen und ebenfo die Verbefferung desfelben
durch Bickell' mufs auch von Happel's neuem Ver-
befferungsverfuche gelten. Was der Verf. Gunkel vorwirft
, er .wirbele die Buchftaben fo lange durcheinander,
bis einige halbwegs paffend zufammenfallen, und werfe
die übrigen weg', das mufs er ehrlicherweife im Allgemeinen
doch auch von feinem Experiment eingeftehen.
Oder muffen die Wörter und Sätze nicht auch bei ihm
recht flott chaffiren, damit die 3-, die p-, "1- und ©-Strophe
herauskommt, von allen übrigen Aenderungen zu ge-
fchweigen? —

Nahums Orakel wider Ninive hat eine theologifche
Einleitung erhalten. Der Verfaffer diefer Einleitung benutzte
dazu ein Gedicht von akroftichifcher Form und
eschatologifchem Inhalt und entnahm ihm die Verfe 2*—8,
8 bis 3. Die folgenden Sätze, V. 9 —ir — beachte vorher
Schilderung, jetzt Anrede — find Werk des einleitenden
Verladers. Mit V. 12 (fo fpricht Jahve) beginnt
das echte Orakel des Nahum. I2b, 3a, 13, Iii, 3
flammen, wie faft allgemein zugeftanden, von fpäterer
Hand.

Breslau. Max Lohr.

Karl, Pfr. Wilhelm, Johanneische Studien. I. Der erfte
Johannesbrief. Freiburg i. B., J. C. B. Mohr, 1898.
(VII, 104 S. gr. 8.) M. 2.40

Eine fehr intereffante, anregende Schrift! Dafs fie
hier fo fpät zur Anzeige gelangt, ift meine Schuld. Der
Verfaffer, inzwifchen nach Sulzburg im Schwarzwald verfetzt
, bezeichnet fie felbft als eine Fortfetzung und Be-
ftätigung feiner ,Beiträge zum Verfländnifs der foterio-
logifchen Erfahrungen und Speculationen des Apoftels
Paulus', Strafsburg 1896 (vgl. die Anzeige in diefer
Zeitung 1898, Sp. 9 ff.). Diefelbe religiöfe Vorftellungs-
welt, welche die .Beiträge' in den Paulusbriefen zu finden
glaubten, will Karl jetzt auch im erften Johannesbrief
nachweifen. .Ihre Hauptmomente find: Vorftellung von
der realen Einwohnung Chrifti refp. des Pneuma (auch
GottesV), wofür das bezeichnende hv (Xm, xm vlm, avxm
u. f. w.) die kurze Ausdrucksformel bildet; die fefte Ueber-
zeugung, die Einwohnung Chrifti und des Pneuma (und
Gottes?) fchaffe in uns fowohl ethifche Vollkommenheit
wie Anerkennung der Meffianität Jefu, fowie parrhefiftifche
Ekftafe; dafs die Einwohnung Chrifti ewiges Leben ga-
rantirt refp. fchon genannt werden darf (S. III). Dafs
Karl mit der Hervorhebung diefer Momente bei Paulus
in der Hauptfache Recht hat, ift mir zweifellos. Es ift
immer verdienftlich, wenn jemand zeigt, dafs der Chriftus,
von dem Paulus in den Städten des Weltreiches Zeugnifs
abgelegt hat, nicht ein dogmatifch mumificirter Begriff,
fondern ein lebendiges, den Seinen gegenwärtiges Pneuma-
Wefen ift, aus deffen Fülle Gnade um Gnade ftrömt.
DieZufammenhänge der johanneifchen mit der paulinifchen
Frömmigkeit fodann, auf die Karl befonderen Werth
Rgt, find auch anderen nicht entgangen, aber es ift auch
hier verdienftlich, dafs er fie mit Entfchiedenheit betont
und durch manche neue Beobachtung deutlicher aufdeckt.
1 tz-6'^ würde an einigen Stellen noch weiter gehen,
als Karl. Die Zufammenhänge zwifchen Paulus und Johannes
geftatten uns des öfteren, dunkle Johannesftellen
durch Paulusworte aufzuhellen und umgekehrt. Nur ein

Beifpiel. Die Worte, in denen Paulus vom Blute Chrifti
fpricht und die gewöhnlich auf das auf Golgatha ver-
goffene phyfifche Blut bezogen werden, verdienen m. E.
eine Beleuchtung von Joh. 6, 53 ff. aus, welche Stelle
wieder durch I. Cor. 10,16 und 4 gedeckt wird: Blut
Chrifti ift für Paulus an mehreren Stellen nicht das vor
Zeiten auf Golgatha vergoffene Blut Jefu, fondern das
pneumatifche Blut (diefen fehr treffenden Ausdruck gebraucht
auch Karl S. 14, Anmerkung) des lebendigen
Chriftus, das als pneumatifcher Trank genoffen wird, wie
fein pneumatifcher Leib als pneumatifche Speife. Dafs
in diefe tieffinnige Gedankenreihe auch i.Joh. 1,7 gehört,
möchte ich gegen Karl S. 14 ff. entfchieden behaupten.
Der Satz: das Blut Jefu reinigt uns von jeder
Sünde pafst nur dann zwanglos in den Zufammenhang,
wenn er fleh auf die Blutsgemeinfchaft mit dem pneuma-
tifchen Chriftus bezieht. [Dasfelbe gilt m. E. auch von
Rom. 3,25, wo ich, ohne es hier näher begründen zu
können, sp xm avxov aifiaxi ebenfalls auf die Blutsgemeinfchaft
mit dem lebendigen Chriftus (fynonym dem
sp Xqiöxcö 'irjOov Vers 24) beziehen mufs.] Die Stelle 2,2
fpricht nicht gegen diefe Erklärung, fondern für fie: Jefus
Chriftus ift und bleibt mit feinen gegenwärtigen pneu-
matifchen Kräften die Verföhnung unterer Sünden.

Dafs die Freude am Selbftgefundenen den Verfaffer
andererfeits manches zu ftark unterftreichen läfst,
ift begreiflich und verzeihlich. Zu dem allzuftark Unter-
ftrichenen rechne ich hauptfächlich feine maffiven Hin-
weife auf das ekftatifche Element des Urchriftenthums.
So richtig die Hervorhebung diefer Sache ift, fo tactvoll
mufs der Darfteller verfahren, wenn er nicht aus den
Säulen der apoftolifchen Chriftenheit eine Schar heulender
Derwifche machen will. Die Betonung der ekftatifchen
Veranlagung des Apoftels Paulus ift nothwendig, und
man braucht nichts dagegen einzuwenden, wenn fie in
gefunder Reaction gegen die landläufigen doctrinären
Paulusdarftellungen auch recht häufig wiederholt wird.
Aber in der Gefammtperfönlichkeit des Apoftels ift die
Ekftafe doch nur ein Moment neben anderen und nicht
einmal das hiftorifch auszeichnende. Nicht ein in den
dritten Himmel entrückter doctor cestaticus hat die Welt-
miffion eröffnet, fondern derauf Erden wandelnde Apoftel,
dem fich der himmlifche Verklärte gefchenkt hatte nicht
für einen aufgeregten Augenblick myftifchen Erfchauerns,
fondern für ein langes Leben der Arbeit und des Kampfes.
Paulus felbft hat zudem auf die Ekftafe keinen grofsen
Werth gelegt. Er nimmt fie hin, aber er fucht ihre Aus-
fchreitungen in den Gemeinden zu hindern; nicht feiten
mag fie ihm unbequem und verdächtig geworden fein,
an tönendes Erz und klingende Schellen haben ihre Laute
ihn wohl erinnert. Es ift doch der echtefte Paulus, der
fich aus dem beraufchenden Bannkreife der Ekftafe in
die ruhige Nähe jener hehren und mafsvollen Geftalt
flüchtet, die er 1. Cor. 13 befungen hat.

Ich habe fchon angedeutet, dafs die Exegefe viele
treffende Beobachtungen bietet. Sehr erleichtert wird
das Verfländnifs diefes Commentars durch die S. 81—96
gegebene .Ueberletzung, Eintheilung und Umfchreibung';
jedenfalls wird es einem bei Karl nicht leicht fo gehen,
wie bei manchem anderen Commentator, dafs man fich
nämlich am Schlufs der Leetüre eines Abfchnittes kopf-
fchüttelnd fragt: Was ift nun eigentlich feine eigene
Meinung? Die .fyftematifche Zufammenfaffung des Briefinhaltes
' S. 97—104 halte ich dagegen nicht für unentbehrlich
: weshalb eine — trotz aller Dispofitionen der
Exegeten — fo unfyftematifche Schrift fyftematifiren?
Und die Syftematifirung ift doch fchliefslich gar nicht
fyftematifch: 1. die Adreffaten, 2. die Einwohnung Chrifti
im Verhältnifs zu der Gottes und des Pneuma, 3. Nachweis
der (göttlich-chriftlich-pneumatifchen) Einwohnung
bei den Lefern, 4. Schlüffe aus der Thatfache der Einwohnung
, 5. Beurtheilung der Gegner, 6. praktifche
Folgerungen.