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Ausgabe:

1901 Nr. 18

Spalte:

498-500

Autor/Hrsg.:

Waitz, Hans

Titel/Untertitel:

Das pseudotertullianische Gedicht adversus Marcionem 1901

Rezensent:

Grützmacher, Georg

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 18.

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Religion und Theologie fo gezeichnet hat, dafs alle
wichtigeren Fragen der fog. neuteftl. Theol. zur Erörterung
gelangen. Indem Verfaffung und Cultusordnung
auch befprochen werden, greift er über den gewöhnlichen
Rahmen noch hinaus. Dagegen fehlt alle exegetifche
Begründung. Wie griechifche Worte mit griechifchen
Buchftaben ganz vermieden find, fo werden verhältnifs-
mäfsig auch nur wenige genaue Citate gegeben. Das
hängt zufammen mit der für diefes Buch charakterifti-
fchen praktifchen Tendenz, die fich mit feiner ge-
fchichtlichen Darftellung verbindet. In erfter Linie ift
es dem Verfaffer zu thun um die Herausftellung des
urfprünglichen Evangeliums Jefu und um feine Geltendmachung
gegen alle fpäteren Trübungen, mögen fie
felbft von Paulus oder Johannes ausgehen. In diefer
praktifchen Abficht, befonders in feinem Kampfescharakter,
liegt viel von der Schwäche und Stärke des Werkes. Es
ift zweifellos, wie fchon angedeutet wurde, recht fubjectiv.
Der vorwiegend ethifche Standpunkt feines Verfaffers
tritt ftark hervor. Das Ganze trägt ein gewiffes ratio-
naliftifch.es Gepräge. Der Sinn für das Myftifche, Ge-
heimnifsvolle, Unbewufste kommt nicht genügend zur
Geltung. W. will zu viel ausrechnen und erklären. Dabei
kommt es zu ftarken Uebertreibungen. Hierher rechnen
wir auch die durchgehende fcharfe Polemik gegen Kirche
und Theologie. Verfaffer liebt es, die Dinge zuzufpitzen.
Solche Pointirungen klingen zwar bisweilen recht gut. Zur
Charakterifirung feines Standpunktes und feiner Schreibweife
feien noch folgende, auch fonft beachtenswerthe
Ausfprüche im Wortlaute angeführt: Es ift ja nicht verwunderlich
, dafs der Mann (Paulus), der die Erfcheinung
hatte, die Bedeutung der Auferftehung Jefu überfchätzte;
dafs jedoch dadurch das eine Wunder der Vergangenheit
Grundlage des Chriftenthums wurde, war ein Unglück für
die neue Religion und ein Widerfpruch gegen den vorwärts
blickenden Geift Jefu (S. 149). — Seltfam berührt
es uns heute, dafs der Held des Wortes zugleich der
Schöpfer des Sakramentes geworden ift. Er felbft —
das weifs jeder, der ihn kennt — bedurfte keines kul-
tifchen Zaubers, da ihm der Geift im Innern Gottes Liebe
bezeugte, und ihm Jefus der Bringer der Freiheit von den
Zeremonien war. Aber durch die Aufnahme der Sakramente
in feine Erlöfungslehre ift er an der Entftehung
des Katholicismus mitbetheiligt, der ihn heilig fprach
und tot machte (S. 167). — Wer, befreit vom proteftan-
tifchen Vorurtheil, die Rechtfertigungslehre des Paulus
betrachtet, mufs fie eine feiner unglücklichften Schöpfungen
nennen (S. 189).— Es ift ein fchauerliches Schaufpiel: Theologen
, die für Jefus kämpfen, ihn vertheidigen, erheben,
vergöttern, ihm zulieb erdichten, umdeuten, verdrehen —
und dabei gar nie fragen, wer er wirklich war und was
er wollte! (S. 264).— Die Gottheit Chrifti und der Logos-
chriftus find genau fo heidnifche Gebilde wie der gnoftifche
Soter (S. 354). — Die chriftliche Trinität fieht wie eine ärmliche
Reduktion der gnoftifchen Aeonenlehre aus, unchrift-
lich find beide (S. 355)-— Die Lehre vom Geift entfprach
feiner (des Chriftenthums) früheren fektenhaften, weitabgewandten
Exiftenz. Diefe gab es völlig auf. als es Schutz-
fchriften an römifcheKaifer adreffirte, denen ja die Berufung
auf den Geift der Chriften als ein kindifches Verfehen er-
fcheinen mufste (S. 321).— Alfo hatten auch die fpäteren
Lehrer das Recht, ihre energifchen fittlichen Ermahnungen
fich nicht durch die Botfchaft von der Gnade zu verwäffern
(S. 406).— Allein nicht nur an folchen pointirten, übertriebenen
, zum Theil unbilligen und fchiefen Behauptungen
ift das Buch reich. Es enthält auch offenbare Widei fprüche.
Nur auf wenige Beifpiele fei hingewiefen. Einerfeits wird
oft verfichert, wie ftark Paulus für das Kirchenthum gewirkt
hat (vgl. bef. S. 189), andererfeits foll fich nur ein
Minimum von Formen, von Kirche auch bei ihm finden
(S. 236). ,In Bezug auf Taufe und Abendmahl ift P. lediglich
Mann der Tradition, nicht Schöpfer' (S. 128). ,Aber
erft Paulus fchafft den Sakramentsbegriff' (S. 166). Kaum

geringer find die Widerfprüche hinfichtlich der johannei-
fchen Efchatologie (vgl. S. 306 mit 324). Einmal (S. 324)
wird das 4. Ev. ein .geniales Werk' genannt, ein anderes
Mal (S. 281 vgl. S. 394) mufs fich fein Verfaffer den vielleicht
am meiften fanatifchen, engften Theologen des
N. T.'s fchelten laffen. Faft komifch wirkt es, wenn
aus ,einigen' Chriften im Handumdrehen ,eine fehr grofse
Zahl', ja ,die Mehrzahl' wird (S. 373 f.). An folchen Puncten
verräth fich die grofse Schnelligkeit, mit der W. gearbeitet
hat. Trotzdem möchten wir fein fo rafch und kühn, ja
keck hingeworfenes Werk nicht entbehren. Es hat trotz
aller Mängel einen genialen Zug. Bewundernswerth ift
die Art, wie W. die grofsen Stoffmaffen bemeiftert hat,
glänzend und lichtvoll ihre Anordnung. Die Haupt-
puncte der Entwickelung find vortrefflich herausgehoben.
Die Darftellung ift klar, vielfach packend, immer feffelnd.
Auch wo Bekanntes und Anerkanntes mitgetheilt wird, ift
es in ein neues Licht gerückt oder wenigftens in origineller
Form zum Ausdruck gebracht. Das Buch enthält feiner
Abzweckung gemäfs viel Reflexion über den Werth oder
Unwerth der geiftigen Erfcheinungen; aber fie ift aus
dem Stoffe gewonnen und darum fruchtbar. Für feinen
Standpunkt ift W. ein dialektifch fehr gewandter Anwalt.
Als befonders gehaltvoll und gelungen feien beifpielsweife
bezeichnet feine Charakterifirung der erften fchöpferifchen
Periode (S. 236), des Unterfchiedes zwifchen der paulini-
fchen und der fpäteren Apologetik (S. 322 f.), des Gnofticis-
mus (S. 354), der Wandlung des urfprünglichen Chriftenthums
in Schulchriftenthum (S. 368). Das Buch ift in
erfter Linie für .Starke' gefchrieben, die an einem gewagten
, ja derben und fcharfen Wort keinen Anftofs
nehmen. Aber eben wegen feines herzerfrifchenden
Muthes, feiner unbeftechlichen Wahrheitsliebe und feiner
fchonungslofen Kritik kirchlicher Mifsftände wird es auch
fehr geeignet fein, felbftändig nachdenkenden, kämpfenden
und fuchenden Laien, die die Fühlung mit der gegenwärtigen
Kirche verloren haben, ein Führer zu chriftlicher
Denkweife und Frömmigkeit zu werden. Es wird Viele
nicht nur anregen, fondern auch ftärken und gewinnen.
Vielleicht werden es die Laien mehr fchätzen wie die
Theologen. Der Verfaffer felbft würde das wohl nicht
bedauern.

Bonn. Ed. Gräfe.

Waitz, Lic. theol. Hans, Das pseudotertullianische Gedicht
adversus Marcionem. Ein Beitrag zur Gefchichte der
altchriftlichen Litteratur fowie zur Quellenkritik des
Marcionitismus. Darmftadt, Joh. Waitz, 1901. (VIII,
158 S. gr. 8.) M. 5.60

Waitz giebt zunächft eine kurze Ueberficht über die
Arbeiten, welche das erftmalig 1564 nach einer verlorenen
Handfchrift von Georg Fabricius gedruckte Gedicht
Adversus Marcionem behandeln. Er wendet fich
dann der Frage nach der Heimath des Gedichtes zu.
E. Hückftädt (Ueber das pfeudotertullianifche Gedicht
Adversus Marcionem, Leipzig 1875) hatte Rom als Ent-
ftehungsort befonders mit Rückficht auf den Gebrauch
des Pronomen hic von Rom (Adv. Marc. III, 275 ff.)
bezeichnet, Oxe (Victorini versus de lege domini, Cre-
feld 1898) fand in der Sprache des Gedichts den afri-
canifchen Dialekt wieder und verwies es nach Africa.
Waitz fchliefst fich dem Letzteren an. Die Abfaffungs-
zeit ift ebenfalls ftark controvers. Hückftädt und Oxe
fetzten es in die Zeit von 360 bis 380, Hilgenfeld rückte
es in das 3. Jahrhundert hinauf (Z.f. w. Th. XIX, 154 ff.
1876) und Manitius (Gefchichte der chrifti. latein. Poefie
1891) ging bis in das 5. und 6. Jahrhundert herunter. Im
Hinblick auf das Bild der kirchlichen Zuftände und der
allgemeinen Zeitverhältnifse — das Gedicht fetzt noch
deutlich die Herrfchaft des Heidenthums voraus — auch
in Rückficht auf den religiöfen und theologifchen Ge-