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Ausgabe:

1901 Nr. 18

Spalte:

493-498

Autor/Hrsg.:

Wernle, Paul

Titel/Untertitel:

Die Anfänge unserer Religion 1901

Rezensent:

Grafe, Eduard

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 18.

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Text viel älter fein kann. In der That bietet auch die
griechifch-arabifche Minuskel 211 zwar alle Zuthaten zum
Text, welche die Eigenthümlichkeiten der Ferrargruppe
ausmachen. Aber ihr Text ift keineswegs dem unferer
Gruppe verwandt. Immerhin bleibt die Zählung nach
QTj[iaxa ein Erkenntnifsmerkmal unferer Gruppe, das nur
nicht überall zutrifft. H. giebt S. 74 eine Lifte fämmt-
licher Minuskeln, welche diefe Eigenthümlichkeit zeigen.
Eine von diefen Minuskeln ift von Moldenhawer für Birch
in einigen Capiteln wie es fcheint recht genau colla-
tionirt. Eine Vergleichung ihres Textes mit dem unferer
Gruppe zeigt mit einer Evidenz, die kaum einen Zweifel
übrig läfst, ihre Zugehörigkeit. Sie tritt als neunter Zeuge
zu den acht oben genannten hinzu.

Wir hoffen, dafs H. feine Arbeit an diefer intereffanten
Handfchriftengruppe des neuen Teftamentes fortfetzt und
diele das nächfte Mal wieder um ein bedeutendes Stück
ihrer Löfung entgegenführt.

Göttingen. Bouffet.

Wernle, Prof. Lic. Paul, Die Anfänge unserer Religion.

Tübingen, J. C. B. Mohr, 1901. (XII, 410 S. gr. 8.)

M. 7.—; geb. M. 8.—

Nicht Wenige werden überrafcht gewefen fein, dafs
der Verfaffer. der fich durch einige fehr anregende Mo- j
nographien über Fragen der paulinifchen Theologie und
der Evangelien auf's Befte eingeführt hatte, fchon jetzt
mit einer Gefammtdarftellung hervortritt, die der Entwicklung
des Urchriftenthums bis in die Mitte des
2. Jahrhunderts gewidmet ift. Zwar will er, obwohl fein
Buch aus der im Sommer 1900 gehaltenen Vorlefung
über neuteftl. Theologie erwachten ift, keine neuteftl. Theologie
bieten, fondern nur ,einen klaren Begriff vom Wefen
des Evangeliums und feinen grofsen Veränderungen bis
zur Entftehung des Katholicismus geben'. Diefer Aufgabe
fucht W. gerecht zu werden, indem er zunächft
(S. I—22) die Vorausfetzungen der Entftehung des
Chriftenthums darlegt, wie fie in dem antiken Volksglauben
, im Judenthum und in dem Zeitpunct gegeben
find. Hier treten ebenfo die weitreichenden Berührungs-
puncte, befonders mit dem Judenthum, das gute Vorarbeit
geleiftet hat, wie die abgelehnten Vorftellungen
zu Tage. Der erfte Haupttheil fchildert dann die Entftehung
der Religion (S. 23 — 236), der zweite die
Ausbildung der Kirche (S. 237—410). Ein Inhalts-
verzeichnifs (S. VII—XII) orientirt in vorzüglicher Weife
über den Gedankengang bis in alle wichtigen Einzelheiten
hinein.

Die Bedeutung Jefu wird (S. 23—71) unter den
Ueberfchriften: der Beruf, die Verheifsung, die Forderung,
Jefus der Erlöfer veranfchaulicht. Jefus befafs ein über-
menfchliches Selbftbewufstfein, hielt fich für den Meffias,
machte fich trotzdem mit dem Leidens- und Todesgedanken
vertraut und ftarb mit dem Glauben an feine
baldige Wiederkunft in meffianifcher Glorie. Was er zu
verheifsen hatte, war zwar jüdifche Hoffnung, aber durch
feine Seele hindurchgezogen. Das Reich Gottes ift auch
für ihn im Wefentlichen eine efchatologifche Gröfse.
Nur in einer kurzen enthufiaftifchen Periode, im Vollgefühl
feiner Wunderkraft, nicht ohne Ueberfchätzung
der augenblicklichen Lage hat er den Anbruch, die
Gegenwart des Reiches geglaubt. Je länger je mehr tritt
der Charakter der Frohbotfchaft hinter dem der Gerichtspredigt
zurück. Das Grofse und Neue liegt in der Ent-
nationalifirung des Reichsgottesgedankens. Menfchen
können das R.G. nicht herbeiführen, fondern fich nur
auf feinen würdigen Empfang vorbereiten. Und dafür
hat Jefus als Lebensideal, als Thun des göttlichen Willens
aufgeftellt das rechte Leben in den drei grofsen Wirklichkeiten
: Selbftpflicht, Bruderpflicht, Gottespflicht. Als
Erlöfer zeigte fich Jefus in feiner helfenden und heilenden
Thätigkeit an Sündern und Kranken. Aufserdem
aber hat er feine Zuhörer von den Theologen und von
der jüdifchen Kirche erlöft. Dafür legte er zwar den
Grund zu einer neuen Gemeinfchaft, aber ohne alle
Organifation, ohne jede Stiftung von Gemeinfchafts-
zeichen. Gegenüber diefer Darftellung, die gekrönt wird
durch eine befonders fchöne Schilderung der Frömmigkeit
Jefu (S. 63 ff.), laffen fich fchon im Einzelnen mannigfache
Bedenken erheben. Ift es richtig, die Ausfagen
Jefu über feine Perfon und ihre Bedeutung fo an den
Anfang zu ftellen? F"erner, wenn man fo nachdrücklich
wie Wernle das Inadäquate der Meffias-Idee für Jefus
felbft betont, wie foll man dann es verftehen, dafs der
Herr aus innerer Nöthigung den Titel fein ganzes Leben
lang bearbeitet und geläutert habe? Auch dafs Jefus
nur vorübergehend an die Gegenwart des Reiches
geglaubt und vor Allem den Begriff von den nationalen
Schranken befreit haben foll, wird Vielen nicht einleuchten
. Und was die Hauptfache ift, es mufs immer
aufs Neue, auch Wernle gegenüber, wieder geltend gemacht
werden, dafs zu einer fo zuverfichtlichen Darfteilung
der Perfönlichkeit und Verkündigung Jefu der
fragmentarifche Beftand unferer Quellen kein Recht giebt.
Viel ernfter mufs hier mit einem fgnommus und Igno-
rabimus gerechnet werden. Von jeher haben der be-
geifterte Glaube und die Bedürfnifse der Kirche in
den Rahmen diefes Bildes fo Vieles neu einzeichnen
können. Das ift auch heute noch der Fall. Wie man
felbft das Wefen des Evangeliums erfahren hat und
glaubt, fo lieft man es in die unvollkommene Ueber-
lieferung hinein und wieder heraus. Befonderes an
diefem Puncte drängt fich der Vergleich von Wernle's
Buch mit dem erhebenden Glaubensbekenntnifse von
Harnack auf. Und wie verfchieden ftellt fich Beiden
das gefchichtliche Bild dar!

Viel jüdifcher als Jefus felbft zeigte fich die Urgemein
de. War ihr Glaube auch antipharifäifch, fo befafs
fie doch tiefe Ehrfurcht vor der Gefetzesautorität und
zuverfichtliche Hoffnung auf ihr Volk. In Folge deffen
machte auch die Heidenmiffion keine Fortfchritte. Im
Innern der Gemeinde aber bedeutete der Schritt zur
Secte eine Einbufse an urfprünglicher Frifche und Freiheit
trotz alles enthufiaftifchen Charakters und eine Annäherung
an das Schablonenhafte, das zum Wefen der
Kirche gehört'. Unbehilflich und unvollkommen war
auch ihre Theologie. Trotz Allem nöthigt uns diefe
opferfreudige und todesmuthige Brüdergemeinde Ehrfurcht
ab.

Von befonderer Wichtigkeit und Ausführlichkeit ift
natürlich der Abfchnitt über Paulus (S. 95—220). Neben
kürzeren Ausführungen über fein Berufsbewufstfein (S. 95
— 105) und feine Miffionspraxis (S. 105—134) nimmt den
breiteften Raum die Darftellung der paulinifchen Theologie
ein (S. 134—208). Den Schlufs bildet eine Schilderung
der Frömmigkeit der Gemeinden und des Apoftels
felbft (S. 209—219). Als Quellen werden aufser den gemeinhin
für paulinifch gehaltenen Briefen nicht nur
II. Theff. und Kol., fondern felbft Eph. verwerthet. Gerade
auch die Darftellung des Verfaffers zeigt an mehreren
Puncten anfchaulich, wie bedenklich dies letztere Verfahren
ift. — Die Vergleichung aller fpäteren Schöpfungen
mit Jefus, die fich durch das ganze Buch hindurchzieht,
wird befonders eindringend und belehrend bei Paulus.
Der grofse Heidenapoftel bringt Jefus den Griechen in
der Form eines dramatifchen Mythus nahe. Sie erhalten
wieder eine Göttergefchichte und zwar aus der jüngften
Gegenwart. Grofs aber ift, welche ethifche Kraft P. feinem
Mythus gab. Auch erkennt Wernle an, dafs diefer Apoftel
trotz aller Abweichungen der gröfste und treuefte Schüler
feines Herrn war. In fehr anfprechender Weife wird der
Stoff der paulinifchen Theologie gruppirt. Aus früheren
Veröffentlichungen W.'s weifs man, dafs er fie als Mifs-
fionstheolgie und damit als Apologetik auffafst. Aus der