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Ausgabe:

1901 Nr. 17

Spalte:

483-484

Autor/Hrsg.:

Schulze, Martin

Titel/Untertitel:

Meditatio futurae vitae.(Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche. Sechster Band, Heft 4.) 1901

Rezensent:

Lobstein, Paul

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4«3

Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 17.

484

fprochen'. Möchten diefe Andeutungen H.'s ihn felbft
oder jemand anders anfpornen, die Unterfuchung an
diefem Punct weiter fortzufetzen.

Die Kirchen- und Dogmengefchichte hat gegenüber
Tyconius gleichfam eine Ehrenpflicht zu erfüllen. Es
gilt einem in feinem Leben einfamen, von keiner der
Parteien verftandenen Manne, der nach feinem Tode durch
einen gröfseren ihm verwandten Geift gänzlich in den
Schatten geftelllt ift, der aber ehrliche, felbftändige und
erfolgreiche Arbeit gethan hat, den ihm gebührenden
Platz wiederzugeben. Eine wefentliche Arbeit, die hier
gethan werden mufs, wäre vor allem eine neue Ausgabe
des Beatuscommentars in allen den Partien, in denen
Beatus nicht nachweislich aus anderen Quellen als Tyconius
gefchöpft hat. Dazu müfsten dann die Parallelen
aus Primafius, Beda, den Homilien und den neuen Fragmenten
des Spicilegium Cafinenfe abgedruckt werden.
Ich weifs nicht, ob man hoffen dürfte, dafs die Wiener
Akademie auch diefe Aufgabe in Angriff nehme.

Hahn hat fich mit feiner Schrift ein grofses Verdienft
um die Förderung des intereffanten und ergiebigen Ty-
coniusproblems erworben.

Göttingen. Bouffet.

Schulze, Lic. Prof. Martin, Meditatio futurae vitae. Ihr

Begriff und ihre herrfchende Stellung im Syriern Calvins
. Ein Beitrag zum Verftändnifs von deffen In-
ftitutio (Studien zur Gefchichte der Theologie und
der Kirche, herausgegeben von N. Bonwetfch und
R. Seeberg. Sechfter Band, Heft 4.) Leipzig,
Dieterich, 1901. (89 S. gr. 8.) M. 2.-—

Diefe Schrift liefert einen werthvollen Beitrag zu
einem in dem Betrieb untrer Zunfttheologie noch wenig
ausgebildeten Zweig; denn während die lehrhafte und
dogmatifche Ausprägung des Chriftenthums das Intereffe
der Forfcher in weitem Umfang angeregt und gefeffelt
hat, ift die Eigenart der chriftlichen Frömmigkeit und Sittlichkeit
durch ftreng wiffenfchaftliche Unterfuchungen
noch nicht mit der entfprechenden Sorgfalt eruirt und
zur Darftellung gebracht worden. Der Vf. wendet fich
einem ,Grundbegriff' Calvin's zu, ,einem Begriff, welcher
feine ganze Auftaklung vom Chriftenthum beftimmt und
durch alle Theile feiner Institutio fich hindurchzieht' (1):
die meditatio futurae vitae ift ,eine entfchiedene und
anhaltende Richtung des Gefühls und des Willens auf
das jenfeitige Lebensziel' (3). Sch. verfucht den Nachweis
, dafs .gründliche Verachtung des gegenwärtigen,
heifses Verlangen nach dem zukünftigen Leben', nach
Calvin die Doppellofung für das chriftliche Leben bildet
(4). Diefe auf das Jenteits gerichtete Frömmigkeit, die
zum gegenwärtigen Leben eine ablehnende vorwiegend
negative Stellung einnimmt, will Sch. in vorwiegendem
Maafse aus den Platoftudien Calvin's erklären. .Durch
den Schrifttheologen fcheint gerade in diefem Puncte
der Humanift noch durch' (88). — Es läfst fich nicht
leugnen, dafs Sch. eine Reihe von intereffanten Belegen
zum Nachweis der .eschatologifchen Stimmung' Calvins
zufammengeftellt hat. Weniger glücklich fcheint er mir
in der Interpretation der von ihm aufgeführten That-
fachen. Ich will mit dem Vf. nicht darüber rechten, dafs
er fich auf die Institutio befchränkt hat; immerhin konnte
er aus andern Quellen, fowohl aus den Predigten als
aus den Commentaren eine ftattliche Zahl von Zeugniffen
entnehmen, die ihn davon hätten überzeugen können, dafs
die Welt Verneinung bei C. nur den Sinn hat, dafs er die
Güter und Ordnungen diefer Welt blofs in ihrer abfoluten
Bedeutung, nicht aber in ihrem relativen Werth negirt;
dadurch würden viele Stellen der Institutio in eine
wefentlich andere Beleuchtung treten. Aber auch ab-
gefehen von andern Belegen, finden fich in dem Hauptwerke
felbft eine Reihe von Inftanzen, welche die von

Sch. vertretene Deutung doch fehr beträchtlich limitiren.
Dafs die .Verachtung des Lebens' nicht dem fittlichen
Endzweck des Erdendafeins, fondern der den natürlichen
Menfchen beherrfchenden Sünde und Selbftfucht gilt,
geht aus den von Sch. felbft citirten Stellen hervor. In
der Beurtheilung der Kafteiung, in der Bekämpfung der
Mönchsgelübde, in der pofitiven Werthfehätzung des
Berufs geht C. Hand in Hand mit Luther. Dafs C. ,per-
fönlich für die Richtung auf das Jenfeits disponirt war'
(88), ift in erfter Linie gewifs weder feiner ,Kränklichkeit'
noch feinen ,Platoftudien' zuzufchreiben, fondern der
Tiefe und dem Ernfte feiner chriftlichen Frömmigkeit.
Auch hier liefert der .Stifter des weltförmigen Chriftenthums
' eine Menge Parallelen zu den Ausfagen Calvins;
für beide ift der Himmel die Heimath, die Erde ein
Jammerthal, die Selbftverleugnung die Seele des religiöfen
und fittlichen Verhaltens. Vielleicht ift der herbere ge-
fetzlichere Zug, der fich bei Calvin findet und wohl zum
Theil durch feine Individualität bedingt ift, am eheften
durch den ausgeprägteren Schriftdoctrinarismus desgrofsen
Reformators zu erklären. In dem neuteftamentlichen Boden
wurzelt vor allem die .efchatologifche Stimmung' Calvins
; die Einwirkung eines Paulus, ja die in den Reden
Jefu felbft enthaltenen Anfätze hat Sch. fraglos unter-
fchätzt; das donec, das ihm bei C. fo oft begegnet, ift
die Signatur der urapoftolifchen, der urchriftlichen Zeit;
diefe aber ift für C. normativ nicht nur für die Begründung
der Lehre, fondern auch für die Umgeftaltung des
Lebens. Die Berührungen mit Plato kommen daneben
kaum in Betracht; eher dürfte man noch von Nachwirkung
mittelalterlicher Factoren reden, als von Hereinragen
humaniftifcher Reminiscenzen, die vorwiegend
formeller Art find. Der von Sch. in Ausficht geftellten
Studie fehen wir mit Spannung entgegen.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Warmuth, Lic. Dr. Kurt: Das religiös-ethische Ideal Pas
cals. Leipzig, Georg Wigand, 1901. (VI, 77 S. gr. 8.)

M. 1.50

Ein mit feinem Verftändnifs und warmer Liebe zum
Gegenftande gefchriebenes Büchlein. Den vorwiegend
negativen Charakter des von Pascal nicht nur verkündigten
fondern auch verwirklichten und vorgelebten
Ideals hat der Vf. treffend beleuchtet. ,Die chriftliche
Frömmigkeit befteht aus drei Stücken: aus der Liebe
zu Gott, aus der Sorge für die eigene Seele, aus der
Liebe zu den Brüdern. Pascal betont befonders die
erften beiden Stücke. Von hier aus will er verftanden
werden' (2—3). Diefe drei Stücke ergeben auch die drei
Capitel der Schrift; es ift fchade, dafs diefe Capitel
wiederum in eine Menge von Abtheilungen und Unterabtheilungen
zerfallen, denn diefe Zerfplitterung des einheitlichen
Gegenftandes in eine Summe von Einzelnotizen
läfst den Lefer nicht zu dem aefthetifchen Genufs kommen,
den das Meifterwerk Pascal's in ihm zu wecken geeignet
wäre. Oder wollte etwa der Vf. durch feine zerhackte
atomiftifche Darftellung den fragmentarifchen Charakter
der Pensees, und die unfertige Geftalt, in welcher uns
jene genialen Bruchftücke überliefert worden find, abbilden
? Den Schlufs des Büchleins (66—77) bilden einige
etwas heterogene Stücke, ein Excurs über Pascal's Oppo-
fition gegen die Jefuitenmoral nach den Lettres provin-
ciales, ein Urtheil über die Schwäche von Pascal's Ethik
(das negative Verhalten gegen Familie und Staat), ein
Hinweis auf Pascal's vorübergehende weltfrohe Stimmung
nach dem Discours sur /es passions de l'amour (fo
nämlich lautet der Titel diefer merkwürdigen Schrift,
welchen W. nicht ganz zutreffend überfetzt S. 72), endlich
eine fummarifche Charakteriftik von Pascal's Stellung
zum Katholicismus und Proteftantismus. Diefe Nachträge
I ergänzen zwar das in der Schrift entworfene Bild, fie