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Ausgabe:

1901 Nr. 17

Spalte:

481-483

Autor/Hrsg.:

Hahn, Traugott

Titel/Untertitel:

Tyconius-Studien. Ein Beitrag zur Kirchen- und Dogmengeschichte des vierten Jahrhunderts 1901

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 17.

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füllen. Doch bezweifle ich dies. Ich finde in den mittleren
Capiteln des Apokalyfencommentars des Beatus, foweit
ich fehe, aufser den Commentaren des Victorin und Tyco-
nius keine fortlaufende Erklärung der Apokalypfe von
Beatus benutzt. Möglicherweife kannte bereits Beatus nur
einen verftümmelten Apringius, ja es ift fogar möglich,
dafs Apringius überhaupt keinen vollftändigen Commentar
zur Apokalypfe ichneb.

Förotin hat mit feiner Veröffentlichung namentlich
denen, die fich um die Reconftruction des Tyconius bemühen
, einen Dienft erwiefen. Ich erwähne noch, dafs
F. zum Schlufs S. 85—90 eine Collation des Apokalypfen-
textes des Apringius mit dem der Vulgata giebt.

Göttingen. Bouffet.

Hahn, Paft-Adjunkt Traugott, Tyconius-Studien. Ein Beitrag
zur Kirchen- und Dogmengefchichte des vierten
Jahrhunderts. (Studien zur Gefchichte der Theologie
und der Kirche, herausgegeben von N. Bonwetfch
und R. Seeberg. Sechfter Band. Heft 2.) Leipzig,
Dieterich, 1900. (VIII, 116 S. gr. 8.) M. 2.50

Das Verdienft diefer werthvollen Arbeit ift kein un-
wefentliches. Zum erften Male ift hier die Geftalt eines
faft verfchollenen lateinifchen Kirchenlehrers lebendig gemacht
, der zu den allerbedeutendften unter ihnen gehört.
Bedeutende Schwierigkeiten ftanden diefem Verfuch entgegen
. Von den Schriften des Tyconius hat fich nur
der zwar bedeutende aber recht wenig umfangreiche
Lider regularum erhalten. Seine gröfseren Schriften
find iammtlich verloren. Doch läfst fich der umfangreiche
Commentar des Tyconius zur Apokalypfe noch
zum guten Theil aus den Werken fpäterer Kirchenväter
wieder reconftruiren. Die hier von Haufsleiter begonnene
, vom Referenten fortgefetzte Arbeit lührt
Hahn im erften Theil feines Werkes zu einem vorläufigen
Abfchlufs. Zu meiner Freude haben fich Hahn
bei näherer Unterfuchung die in meinem Apokalypfen-
Commentar vorgezeichneten Grundlinien zur Reconftruction
des Tyconius durchweg als brauchbar erwiefen.
Darnach ift der Commentar fo ziemlich in Baufch und
Bogen von dem fpanifchen Presbyter Beatus in deffen
Compilation über die Apokalypfe aufgenommen. Da
Beatus felbft die Quellen feiner Arbeit angiebt, und
diefe fämmtlich bekannt find, da er ferner aus eigenen
Mitteln wenig hinzugefügt hat und mechanifch ab-
fchreibt, fo ift die Reconftruction des verloren gegangenen
Commentars wenigftens im Umriffe keine allzu
fchwere Aufgabe, zumal da uns durch die ebenfalls von
Tyconius abhängigen Commentare des Primafius Beda
und die pfeudoauguftinifchen Homilien zur Apokalypfe
an vielen Puncten eine Controlle der Beatusüberlieferung
ermöglicht ift.

Seit meinem Commentar ift wichtiges neues Material
für die Tyconiusforfchung durch die Veröffentlichung im
Spicelegium Cafinenfe: Tyconü Afri fragmenti Commai-
tarii in Apocalypsin, zugänglich gemacht. H. hat auch
diefe Fragmente unterfucht und ift dabei gleichzeitig
und unabhängig zu demfelben Refultat gekommen, das
fich mir durch eine Reihe von vorgenommenen Stichproben
zu ergeben fchien: Auch die vorliegenden Fragmente
des Tyconius bieten nicht den echten Text des
Commentars; die Beatusüberlieferung ift auch ihnen
gegenüber an faft allen Puncten die beffere und zuver-
läulgere. Jene Fragmente haben nur den Vorzug, dafs
fie, wie es fcheint, nur den Tyconiustext bieten und
keine anderen Quellen daneben. So nehmen die neuentdeckten
Fragmente, was ihren Werth hinfichtlich der
Reconftruction des Tyconius betrifft, den zweiten Rang
nach Beatus ein.

Hahn ift der Anficht, dafs bei der Befchaffenheit
der vorliegenden Quellen eine wörtliche Reconftruction

des Commentars freilich beinahe eine Unmöglichkeit
bleibe, dafs man auf der anderen Seite mit grofser
Sicherheit den Commentar in feinen Umriffen und den
in ihm vorgetragenen Grundanfchauungen eruiren könne.
Auf S. II f. giebt er in gedrängter Ueberficht an, auf
welchen Seiten des Beatuswerkes und zu welchen Ab-
fchnitten der Apokalypfe der Commentar des Tyconius
etwa erhalten fei.

Den gröfseren Theil von H.'s Werk nimmt die
Darftellung der Theologie des Tyconius ein. In zwei
Abfchnitten behandelt H. zunächft die theologifche Ge-
fammtanfchauung des Tyconius (23—56) und dann feine
Lehre von der Kirche (57—116). Es ift H. gelungen, in
diefen Abfchnitten, namentlich in dem zweiten, die Geftalt
des felbftändigen und bedeutenden Denkers, des mit
warmem Herzen die Gefchicke der Kirche verfolgenden
Chriften, des Bufspredigers, der mit ftarkem Ernft das
Verderben der verweltlichten Staatskirche geifselt und
trotz aller Verehrung der Organifation und Inftitu-
tion auf perfönliche Stellungnahme und Entfcheidung
drängt, — zu zeichnen. Die Darftellung felbft ift gut und
glatt gefchrieben. Ein fehr reiches Beweismaterial ift in
den Anmerkungen gegeben. Das ift um fo anefkennens-
werther, als gerade der Beatuscommentar, aus dem Hahn

| vorzugsweife fchöpft, fehr fchwer zugänglich ift, und ferner
nur die, welche fich in die ganze Frage eingearbeitet haben,
im Stande fein werden, aus dem wirren Comglomerat den
echten Tyconius herauszufinden.

Befonders intereffant find die Anfchauungen des Tyconius
von der Kirche, die H. im zweiten Abfchnitt behandelt
. Tyconius erfcheint hier als durchaus felbftändiger,
feine eigenen Wege nehmender, über den Parteien flehender
Theologe. Er fteht etwa in der Mitte zwifchen der do-
natiftifchen und katholifchen Kirche. Mit jener verbindet
ihn der ftarke Ernft und die weltfremde Art, die Oppo-
fition gegen das verweltlichte Staatskirchenthum, die abfo-
lute Verwerfung der katholifchen der donatiftifchen gegen-
überftehenden Kirche in Afrika, die herbe Beurtheilung
des katholifchen Priefterthums als einer abgefallenen und
verweltlichten Maffe, das Drängen auf Innerlichkeit und
Perfönlichkeit des Glaubens; mit diefer die Anerkennung,
dafs die wahre Kirche, wenn auch verborgen,doch innerhalb
der übrigen nichtafricanifchen katholifchen Kirchen enthalten
fei, die auf die Weisfagung fich ftützende Betonung
desuniverfalen über die Welt fich erftreckenden Charakters
der wahren Kirche, die Lehre von der Wirkfamkeit und
dem Werth der Inftitutionen und Sacramente, die abfolute
Verwerfung der Wiedertaufe, bei der Tyconius fich, wie
H. in einer lehrreichen Unterfuchung nachweift, theilweife
wenigftens auf ältere donatiftifche Tradition ftützen konnte,
endlich feine fcharfeStellungnahme gegen die Schismatiker
und alles fectirerifche Wefen.

Es ift fchade, dafs H. durch äufsere Umftände gezwungen
darauf verzichtet hat, die dogmen- und kirchen-
gefchichtliche Stellung des Tyconius durch einen Vergleich
derfelben auf der einen Seite mit Optatus, auf der
anderen Seite mit Auguftin zu beftimmen. Die grofse Be-

I deutung des Mannes wäre dann noch beftimmter und klarer
hervorgetreten, namentlich wie viel ihm doch fchliefslich
ein gröfserer als er felbft war, Auguftinus, verdankte. H.
giebt hier nur kurze Andeutungen: ,Welches ift das Ver-
hältnifs Auguftins zu Tyconius?. . . Beide ftellen eine ci-
vitas Dei und civitas diaboli einander gegenüber. Beide
haben einen doppelten Kirchenbegriff, auch bei Auguftin
ift es nicht klar, was ihm wichtiger ift, die Gemeinde der

j boni oder das hierarchifche Inftitut der katholifchen Kirche.
— Beide find Gegner der Separation, fehen in dem inneren

Schmerz über die Sünden ringsumher den Wefensunter-
fchied .... von Heiligen und Sündern. Beide urtheilen
ganz gleich über Kirchenzucht; die fonft von Auguftin
her datirte Lehre von dem durch die kirchlichen Weihehandlungen
verliehenen ckaracter indelebilis ift mit
möglichfter Beftimmtheit fchon von Tyconius ausge-