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Ausgabe:

1901

Spalte:

25-27

Autor/Hrsg.:

Schellwien, Robert

Titel/Untertitel:

Wille und Erkenntnis 1901

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. I.

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gekräftigt, gebildet wird, hat der Verf. höchftens gelegentlich
geftreift, aber nicht hinreichend gewürdigt oder gar
fich felber angelegen fein laffen. Und fo ift denn auch
feine pfychologifche Analyfe an entfcheidenden Funkten
unvollftändig geblieben.

Insbefondere tritt diefer Mangel gegenüber dem dem
Verf. fo wichtigen Begriff der Willensfreiheit hervor. Im
Gegenfatz zu der zuerft von ihm felbft zur Geltung gebrachten
Inifanz des wiffenfchaftlichen Determinismus meint
er, die nun von ihm, wenn auch auf die Leiftungsfähigkeit
der Lebenskraft eingefchränkte, aber begrifflich doch ganz
indeterminiftifch aufgefafste Freiheit des Willens ,der
Wahrnehmung des inneren Sinnes' entnehmen zu können.
So verfteht er die Freiheit ebenfo wie die Vernunft, auf die
er fich dann weiter auch oft beruft, als etwas fertig gegebenes
, ohne noch eine weitere pfychologifche Analyfe
zu verfuchen. Damit aber betritt er fofort zugleich den
Boden der metaphyfifchen Speculation. Dies verräth fchon
der temperamentvolle Ton der an ihren Gegenftänden
perfönlich aufs höchfte intereffirten fubjectiven Ueber-
zeugung, in dem die Ausführungen von S. 147 an im
Unterfchiede von den früheren überwiegend gehalten
find. Inhaltlich kommt es dem Verf. insbefondere darauf
an, den Dafeinszweck des Menfchen in der Vervollkommnung
feines Ich zu erweifen und den Menfchen
felbft ,feiner ganzen Anlage nach' als ,ein von der Ur-
kraft und dem Urwillen, d. h. von Gott herkommendes
und auf Gott hinweifendes Wefen' zu beftimmen. Diefe
Vorftellung von einem Urwillen und einer Urkraft ift dabei
.nicht allein und nicht einmal zunächft' als eine Gemüths-
vorftellung, fondern ,an fich und zunächft' als ein ,reine
und eigentliche Wirklichkeitsvorftellung' gemeint. In
diefem Zufammenhange fetzt fich der Verf. wieder mehrfach
mit Kant auseinander. Soviel berechtigtes im Einzelnen
diefe Polemik auch vorbringt, fo hat fie mich doch
nicht davon überzeugt, dafs Kant die Grenzen der wiffenfchaftlichen
Erkenntnifs nicht zutreffend gezogen habe,
und dafs der Verf. richtig verfährt, wenn er feine über
jene Grenzen hinausliegenden Erkenntnifsverfuche noch
in die Wiffenfchaft ftatt in die Metaphyfik hineinrechnet.

Im Einzelnen erwähne ich, dafs die auf den contrat
social zurückkommende Anficht des Verf. von der Ent-
ftehung des Staates (S. 257f.) der fchon früher beanftan-
deten von der Entftehung der menfchlichen Sprache
gleichartig ift, und dafs er das Naturrecht als die Rechtsquelle
des pofitiven Rechtes in dem Sinne beftimmt, dafs
,die Rechtsordnung, bei der das Recht allenthalben mit
dem Sittengefetze übereinftimmt, dem Gefetzgeber als
leitendes Moment vorfchweben foll'. Wenn ferner der
Verf. S. 291 meint, die Theologie ftütze fich auf anerkannte
Glaubenslehrfätze oder Dogmen, fo betrifft dies
jedenfalls nicht die Theologie als Wiffenfchaft. Endlich
unterlaffe ich nicht, da ich in der Befprechung des erften
Halbbandes das Gegentheil rügen mufste, ausdrücklich
anzuerkennen, dafs in dem vorliegenden Halbbande das
Selbftbewufstfein des Verf. nicht mehr über Gebühr hervortritt
, und dafs er in dem wiederum fehr umfangreichen
Vorworte in Beziehung auf die Erwartungen, die fich für
ihn an feine Leiftung knüpfen, felbft bemerkt: ,Liegt in
diefer Annahme eine Ueberhebung, fo ift fie der Ausflufs
der Ueberzeugung und des Selbftbevvufstfeins, ohne die
in der Wiffenfchaft nichts Wahres geleiftet werden kann,
wie in der Politik nichts Grofses ohne Begeifterung und
Leidenfchaft'.

Bonn. O. Ritfchl.

Schellwien, Robert, Wille und Erkenntnis. Philofophifche
Efiays. Hamburg, A.Janffen, 1899. (III, 121 S. gr. 8.)

M. 2.40

Die vorliegenden Ausführungen über Wille und Erkenntnifs
find nicht etwa pfychologifcher Art, ja nicht
einmal auf eigentlich pfychologifche Unterfuchungen ge-

ftützt. Es find vielmehr conftructive Speculationen, die
in ihrer Haltung und Tendenz der idealiftifchen Philofophie
in der erften Hälfte des 19. Jahrhunderts, namentlich in
deren Fichte'fcher Faffung, nahe verwandt find. So berühren
denn auch die Probleme, die Methode und der
Gedankenapparat des Verf. unfer modernes Denken ziemlich
fremdartig. Und ihm felbft, der zwar als Gegner des
Darwinismus und des Materialismus bekannt ift, fcheint
es auch wichtiger zu fein, fich mit längft dahingegangenen,
wenn auch noch immer fehr wirkfamen Philofophen, wie
Stirner, Schopenhauer und Kant, neben denen allerdings
gelegentlich auch Nietzfche herangezogen wird, ausein-
anderzufetzen, als mit dem in der Gegenwart vorwiegenden
empiriftifchen Denken Fühlung zu fuchen. Nur in einem
allerdings formalen Punkte berührt er fich mit der vor-
herrfchenden Tendenz der modernen Philofophie. Er ift
Gegner des Dualismus, dem er in feiner Kant'fchen Ausprägung
entgegenhält, es fei nur eine Welt, in der ein
Wille lebe. Aber im Gegenfatz zu dem auf der Bafis
eines offenen oder oft auch verkappten Materialismus
beruhenden modernen Monismus tritt er durchaus für eine
idealiftifche Weltanfchauung ein.

Der Wille, der ganz indeterminiftifch gefafst wird,
ift das Weltprincip des Verfaffers. Auch die Erkenntnifs
ift nichts felbftändiges neben dem Willen. Denn fie ift
nur der Menfch felbft, fofern er erkennt. Er erkennt fich
aber ,im felbftbewufsten Willen als die fchöpferifche Ur-
fache des Unbewufsten, der Natur, aber er erkennt auch,
dafs er fortwährend erft unbewufst, im Leben der Natur
befangen, und nur durch Verneinung feines Unbewufsten
wiffend, d. h. die Natur aus fich hervorbringender Wille
ift'. So find im menfchlichen Geifte auch ftets beide
Momente: ,die unbewufste Natur, dargeftellt von der Erfahrung
, und die Urfache der Natur, repräfentirt durch
den fchöpferifchen Erkenntnifswillen'. Die Erfahrung aber
ift eine niedere Function desfelben Subjects, delfen höhere
Function, der Wille, das aus jener flammende blinde
Wiffen zum fehenden Wiffen erhebt. Und infofern ift die
menfchliche Erkenntnifs ,die Bewegung des beftändig aus
feiner Negativität hervorgehenden und fein pofitives Leben
in idealer nachfchöpferifcher Hervorbringung der Natur
bewährenden Willens'.

Ertrag diefer Erkenntnifs ift vor allem die Unter-
fcheidung der beiden Formen des Willens als Allwille und
Individualwille. Diefe beiden aber find doch ein und
derfelbe Wille. Denn ,kein Individualwille kann fein,
ohne dafs der Allwille fich zu ihm beftimmt, und der
Allwille ift nicht denkbar, ohne dafs er fich als der ewige
Lebensgrund alles Individuellen bewährt'. ,Der Individualwille
ift real unbewufst, und gewufst wird er erft von
dem Allwillen, der ihn zu feiner Vorausfetzung hat'. Er-
kenntnifswille und Thatwille nun find auf ihrer erften
Stufe nur Individualwille. Sie fchreiten aber, indem der
Thatwille dem Erkenntnifswillen folgt, zum Allwillen
fort. ,Es ift im Menfchen ein unendlicher, im Gewiffen
ihm felbftbewufster Trieb, den Individualwillen nach der
mafsgebenden Beftimmung des Allwillens zu regeln, d. h.
beide in Fans zu fetzen, denn nicht Verneinung des
Individualwillens ift das Wefen des Allwillens, fondern
vielmehr feine Erhebung zu einer höheren Potenz, zum
Einklang des Einzellebens und des Alllebens'. ,Der Sieg
des Allwillens ift für den Menfchen das Gute, das Ueber-
wiegen des Individualwillens das Nicht-Gute oder, wo
es in feindlichem Gegenfatze gegen den Allwillen hervortritt
, das Böfe. Das Nicht-Gute, das auf dem ftets
begrenzten Vermögen des menfchlichen Allwillens beruht,
ift die nothwendige Vorausfetzung des Guten, geradefo
wie im Erkenntnifsleben das Unwahre die Vorausfetzung
das Wahren ift'.

Wer nun fchliefslich ,zum vollen Bewufstfein der Einheit
von Subject [Ich] und Object [Nicht-Ich] hindurchgedrungen
ift, der erkennt in der Gottesidee fich felbft,
den menfchlichen Allwillen, der in ihr fich nothwendig