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Ausgabe:

1901 Nr. 16

Spalte:

454-455

Autor/Hrsg.:

Kügelgen, Constantin von

Titel/Untertitel:

Luthers Auffassung der Gottheit Christi 1901

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 16.

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in ein reiner geiftiges Gebiet, üe verfenken fich in das
.intelligible Leben', fie erftreben eine Herzensphilofophie -
und eine Gefühlstheologie; doch giebt es auch folche,
die beiden Gruppen angehören wie Bernhard von Clair- j
vaux. Um die zweite Claffe handelt es fich, wenn der j
Verf. einen wefentlichen Unterfchied (gegen Harnack ;
und K. Müller) zwifchen Myftik und Scholaftik aufrecht
zu erhalten fucht. Die Scholaftik will das Dogma rechtfertigen
, die Myftik will es völlig begreiflich machen;
fie läfst kein Geheimnifs und keine Offenbarung, keinen
Unterfchied zwifchen Autorität und Vernunft zu; das
menfchliche Denken ift im Grunde identifch mit dem
Geifte Gottes und folgt der Entwicklung (mouvcmcnts)
desfelben. Nur Formel und Symbol diefer Entwicklung
ift das Dogma, und diefes verliert fomit, indem es völlig
verftändlich wird, feinen Charakter als Dogma. Schrift
und Glaubensartikel find nicht mehr ein Princip aus dem
man beweift, der Glaube weicht dem Wiffen, die Reli-
gion der reinen Speculation. Diefe Befchreibung pafst
augenfcheinlich nicht auf die Myftik der Victoriner, ob
auf die Eckarts, den D. namentlich im Auge hat, ift
mindeftens fraglich. D. fchiefst offenbar über das Ziel
hinaus und nimmt bei den Myftikern des fpäteren Mittelalters
eine Stimmung an, wie fie vielleicht dem Eriugena
eigen war, der nicht fo fehr Theolog und Myftiker als
fpeculativer Philofoph ift. Dennoch liegt der Verwahrung
gegen die principielle Aufhebung des Unterfchiedes
zwifchen Scholaftik und Myftik etwas Richtiges zu
Grunde. Wenn auch für Beide, den Scholaftiker wie
den in kirchlichen Bahnen wandelnden Myftiker das
Dogma etwas fchlechthin Feftftehendes ift, fo ift das
Verhalten des einen und des anderen ihm gegenüber
doch ein verfchiedenes. Der Scholaftiker als folcher
will es fo weit möglich verftandesmäfsig begreifen, auseinanderfetzen
und mit den Mitteln der Wiffenfchaft
rechtfertigen; der Myftiker als folcher fucht es in innerer I
Erfahrung zu erfaffen, die Gegenltände desfelben, foweit
es hienieden möglich ift, zu erfchauen und fie auf Grund
diefes inneren Erfaffens zur Darfteilung zu bringen.
Beide Aufgaben widerfprechen fich nicht und darum
können Scholaftiker und Myftiker in einer Perfon vereinigt
fein, ja es kann auch ein fcholaftifches Werk
einen ftarken myftifchen Einfchlag haben wie die Summa
des Thomas, aber an fich bleiben die Aufgaben doch
verfchieden. Nun kann aber die Myftik auch felbftän-
digere Bahnen einfchlagen; die innere Erfahrung kann
dergeftalt zur Grundlage des Erkennens gemacht werden,
dafs fich diefes der Normirung durch das kirchliche
Dogma entzieht, und dafs Lehren entwickelt werden, die
mit ihm in Widerfpruch gerathen, wiewohl fie nur als
tiefere Erfaffung desfelben gelten wollen. Das wird in
der That bei Eckart der Fall fein. Seine Anfchauung
vom Wefen Gottes, von der Geburt des Sohnes, vom
Verhältnifs Gottes zur Welt, der menfchlichen Seele zu
Gott, enthält eine Anficht von einem Werden in Gott
und von einer Identität diefes Proceffes mit Vorgängen
in der menfchlichen Seele, die die Grenzen der Kirchenlehre
überfchreitet. So weit flehe ich nicht an, D.'s Dar-
ftellung von Eckart zuzuftimmen und halte feine Polemik
gegen Deniflc, befonders hinfichtlich der Annahme einer
Potentialität in Gott gegenüber dem .actus fturus' für
begründet. Aber gar zu leicht geht doch D. über
die Thatfache hinweg, dafs Eckart felbft fich für rechtgläubig
gehalten hat; er fertigt Sätze, die feiner Entwicklung
der Lehre desfelben widerfprechen, zu fchnell
als blofse Anbequemung an die Kirchenlehre ab, und
fcheint anzunehmen, dafs E. bewufster Weife mit dem
kirchlichen Dogma gebrochen und fich nur mit dem-
felben nicht offen habe in Widerfpruch fetzen wollen,
während, was wir über die Perfönlichkeit Eckarts wiffen,
doch einer folchen Annahme entgegenfteht. Die Lehre
Eckarts in ihrem gefammten Verhältnifs zur Kirchenlehre
ift bisher noch ein Problem, das einer genaueren Unter-

fuchung bedarf, als D. fie ihm hat zu theil werden
laffen.

Aber — diefe Frage hat fich dem Ref. von vorn
herein aufgedrängt — ift grade gegenwärtig der rechte
Zeitpunkt zu folchen Unterfuchungen und überhaupt zu
eingehenden Erörterungen über die Lehre Eckarts da,
gegenwärtig, wo wir wiffen, dafs umfaffende Schriften
E.'s von zweifellofer Authentie und in ungleich fichrerer
Textgeftalt als die deutfchen vorhanden find, während
nur von einem Theile derfelben Auszüge vorliegen?
Was jetzt für die Forfchung über E. erftes Erfordernifs
ift, ift die vollftändige Veröffentlichung der lateinifchen
Schriften. So lange es daran fehlt, ift jede neue Erörterung
über die Lehre E.'s ein Unternehmen von
zweifelhaftem Werthe. Doch will ich damit nicht leugnen,
dafs befonders in den Auseinanderfetzungen D.'s über
Eckarts Verhältnifs zum Neuplatonismus fich intereffante
und anregende Gedanken finden.

Berlin. S. M. Deutfch.

Kügelgen, Lic. Conftantin von, Luthers Auffassung der

Gottheit Christi. Leipzig, R.Wöpke, 1901. (VII 66S.4.)

M. 1.60; kart. M. 2.—

Diefe bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung in
zweiter Auflage erfchienene Schrift rührt von einem
Verfaffer her, deffen Intereffen vorwiegend auf dem Gebiete
der fyftematifchen Theologie liegen. Ihm ift es in
erfter Linie um die Neugeftaltung der herkömmlichen
Dogmatik auf Grund des evangelifchen Heilsglaubens
zu thun (10. 17. 31. 42. 46. 50). Zur Löfung diefer
dringenden Aufgabe kann und foll Luther dienen, deffen
fruchtbare und bildungsfähige Glaubensgedanken K. mit
feinem Verftändnifs und aufrichtigem Streben nach Ob-
jectivität aus den Schriften des Reformators eruirt. In
der Beurtheilung und Verwerthung feiner Quellen fchlägt
er den durch Ritfehl gebahnten Weg ein (1. 20. 32. 56);
die von H. Schultz in dem betreffenden Capitel feines
Buchs ,Die Lehre von der Gottheit ChriftT 1881 gegebenen
Anregungen (5. 14. 37) fucht er in felbftftändiger
Weife zu verwerthen, indem er in zahlreichen Citaten
Luther felbft zu Worte kommen läfst. Nach einer kurzen
Einleitung über die chriftliche Gotteserkenntnifs (1—4),
zerlegt er feinen Gegenftand in drei Capitel: Die Prae-
exiftenz Chrifti (Chriftus in Gott) 5 —10, Die irdifche
Exiftenz Chrifti (Gott in Chriftus) 11—46, Die Poftexiftenz
Chrifti (Chriftus in Gott und Gott in Chriftus) 47—66.
Er ift fich bewufst, dafs er Luther ,in verändertem Licht
und in modern-kritifcher Beleuchtung' feinen Lefern nahe
bringt, ift aber dabei von der Ueberzeugung getragen,
dafs es eine lohnende Aufgabe ift, die religiöfen Probleme
der Gegenwart mit Luthers Verftändnifs des Evangeliums
zu beurtheilen und zu durchdringen. Dafs ihm diefe
Aufgabe in weitem Umfang gelungen ift, wird kein Unbefangener
in Abrede ftellen können. Andrerfeits aber
bringt es das von dem Vf. geübte Verfahren der Auswahl
und Bearbeitung der Texte mit fich, dafs unwillkürlich
und unbewufst Verfchiebungen oder Umdeu-
tungen ftattfinden, die es erkennen laffen, dafs er nicht
rein hiftorifchen Zwecken dient. Als Beifpiel hiefür
möge nur ein Punct herausgehoben werden. In Anlehnung
an Ritfehl, Herrmann (16) u. a. verfichert uns
K., dafs Luther den ,gefchichtlichen' Chriftus durchaus zu
würdigen gewufst hat; ja er tadelt Chr. H. Weifse,
welcher behauptet, Luther befitze für den hiftorifchen
Chriftus kein Verftändnifs. Wie begründet und belegt
aber K. diefes Urtheil? Indem er zahlreiche Ausfprüche
Luthers anführt, in denen die wahre Menfchheit Chrifti
auf einen in der That fehr lebendigen Ausdruck gebracht
wird. Fragt man indeffen, ob diefe Ausfagen einem im
modernen Sinn gefafsten, hiftorifchen Intereffeentfpringen,
fo genügt ein Blick auf den Zufammenhang der meiften