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Ausgabe:

1901 Nr. 16

Spalte:

452-454

Autor/Hrsg.:

Delacroix, H.

Titel/Untertitel:

Essai sur le mysticisme spéculatif en Allemagne au quatorzième siècle 1901

Rezensent:

Deutsch, Samuel Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 16.

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einigung der Stände im englifchen Parlament gefolgt, begründet
ift, fcheint doch auch fraglich. Wenigftens, dafs
W., wie F. felbft nachweift, zu dem Stande der Herren
auch die Ritter zählt, während im Parlamente einerfeits
Prälaten und Barone, andrerfeits die Vertreter des niederen
Adels und des Bürgerthums verbunden waren, fpricht nicht
eben dafür. Hier bleibt alfo noch Raum für weitere
Unterfuchung; ohne Frage aber zeigt diefe Eintheilung,
welche bedeutfame Stellung W. der weltlichen Gewalt in
der Kirche und für die Kirche giebt, was befonders im
zweiten Abfchnitte der Schrift eingehend dargelegt wird.
Mehr gelegentlich berührt der Verf. den Gegenfatz der
Anflehten über W.'s Anfchauung vom Priefterthum. Er
theilt weder die Meinung Lechlers, der W. die Lehre vom
allgemeinen Priefterthum der Chriften im evangelifchen
Sinne beilegt, noch die entgegengefetzte, die nach dem
Vorgang anderer in Wiegand {De ecclesiae notione quid
Wiclif docuerit, Leipzig 1891) ihren Vertreter gefunden
hat, dafs W. in diefer Hinficht durchaus auf dem Boden
der römifch-kath. Kirche ftehe, fondern formulirt S. 23 f.
feine Auffaffung dahin, dafs bei W. zwar alles auf die
Aufhebung der römifch-katholifchen Unterfcheidung

zwifchen Clerus und Laien hindrängt....., dafs er aber

thatfächlich diefen Schlufs aus feinen Vorausfetzungen
nicht gezogen hat, und infoweit auf dem Boden der röm.-
kath. Lehre flehen geblieben ift. Ref. kann ihm hierin
nur völlig zuftimmen, da auch ihn feine Befchäftigung mit
W. zu eben diefer Anficht geführt hat.

Auch den Auseinanderfetzungen des zweiten Ab-
fchnitts, der die loyalen aber keineswegs fervilen Anflehten
W.'s über Rechte und Pflichten der Obrigkeit darlegt,
wird gröfstentheils zuzuftimmen fein, doch mufs ich gegen
einen Punct Widerfpruch erheben. W. hält nach herr-
fchender mittelalterlicher Lehre den Widerftand und wie
es fcheint auch den bewaffneten Widerftand —■ da er fleh
des Ausdrucks rebellare bedient — gegen den weltlichen
Herrn dann für pflichtmäfsig, wenn diefer offen und beharrlich
dem Gefetze Chrifti zuwiderhandelt. Nun meint
der Verf. ferner, dafs W. in diefem Zufammenhange auch die
Tödtung des Herren für rechtmäfsig erkläre, was aus zwei
Stellen der Schrift De officio regis hervorgehen foll.
In der erften, p. 8, fagt W.: wenn der weltliche Herr Unrecht
verübe, fo foll der Betroffene, wenn es fleh um
fein eigenes Intereffe handle fost correptionem evangelicam
einfach dulden; handle es fleh aber pure quoad causam
Dei, dann fei es Pflicht usque ad mortem si oportet con-
fidenter et obedienter resistere. F. denkt hier an thätlichen
Widerftand und bemerkt, dafs W. mit fleh felbft in Widerfpruch
zu gerathen fcheine, wenn er fortfährt, in beiden
Fällen innitendum paciencie, committendo humiliter Deo
iudicium iniuriam vindicandi. Aber der Widerfpruch ver-
fchwindet fofort, wenn man im Vorhergehenden nicht an
Bekämpfung mit den Waffen, fondern an den Widerftand
des unerfchrockenen auch durch Todesgefahr nicht zum
Schweigen zu bringenden Zeugnifses verlieht. Schwieriger
ift die zweite Stelle p. 201, 15. 16. W. erörtert die Frage,
wie fleh Jemand zu verhalten habe, der Unterthan zweier
einander feindlicher Herren fei. Unter verfchiedenen
Sätzen die er dabei aufftellt, fpricht er auch den aus:
quod non oportet legium serviendo tyranno favere
sibi (d. h. ipsi) in moribus und fährt fort: favet autem
homo nature hominis non solum resistendo sed eciam occi-
dendo. Klar ift der Sinn des erften Satzes: der Unterthan
foll dem Tyrannen nicht in feiner Schlechtigkeit
Vorfchub leiden. In dem zweiten Satze wird nun das
nature hominis doch wohl, im Gegenfatze zu dem in
moribus des erften, die Perfon des Menfchen bezeichnen
im Gegenfatze zu feiner fchlechten Gefinnung. Diefer darf
man nicht dienen, wohl aber jener, und das kann ge-
fchehen auch indem man ihm Widerftand leidet und nicht
blofs das, sed eciam occidendo. Nun ift ja freilich das
nächftliegendeVerftändnifs der letzten Worte dies: ,fondern
auch indem man ihn tötet', und ich geftehe zu, dafs bei

einem einigermafsen normalen lateinifchen Stil ein anderes
nicht einmal möglich wäre. Aber W.'s Stil ift bekanntlich
nichts weniger als normal; und nun mufs man doch
fragen, ob es denkbar ift, dafs W. gemeint habe, man
könne Jemandem nützen, indem man ihn tödtet. Ift das
aber nicht möglich, fo ift bei occidendo an occidere zu
denken, und der Sinn ift: indem man fleh den Tod gefallen
läfst. Der wahrhaft treue Unterthan foll alfo dem
auf böfem Wege befindlichen Herrfcher eben dadurch zu
helfen fuchen, dafs er ihm nicht blofs überhaupt wider-
fteht, fondern bei diefem Widerftand auch bis zur Darangabe
des eigenen Lebens beharrt. Dann ift aber auch hier
nur an den Widerftand des kräftigen Zeugnifses zu denken,
und dazu paffen fehr wohl die unmittelbar folgenden
Ausführungen, die mit den Worten fchliefsen unde si
nos sacerdotes secundum legem Christi servaremus
planefidelitatem legiam nostris regibus, non fuis-
set inter eos tanta dissensio ut est modo. — Man
würde, foweit es fleh um die befprochenen Stellen handelt,
überhaupt nicht zu der Annahme berechtigt fein, dafs W.
den bewaffneten Widerftand gegen einen weltlichen Oberherrn
unter irgend welchen Umftänden für berechtigt anflehe
, doch wird dies nach anderen Stellen nicht zu bezweifeln
fein; er fordert aber, worauf F. mit Recht Gewicht
legt, dafs dabei nur die Sache Gottes, nicht die
Rückficht auf das weltliche Intereffe des Widerftrebenden
mafsgebend fein dürfe.

Uebrigens zeigt die zuletzt befprochene Stelle, welche
Schwierigkeiten einem genauen Verftändnifs W.'s feine
I oft geradezu unglaubliche Schreibweife bereitet. Eine
eigne Unterfuchung über das Latein W.'s in fyntaktifcher,
ftiliftifcher und lexikalifcher Beziehung würde für die
Wiclifforfchung von grofsem Nutzen fein.

Berlin. S. M. Deutfch.

Delacroix, IL, Essai sur le mysticisme speculatif en Alle-
magne au quatorzieme siede. Paris, F. Alcan, 1900.
(XVI, 288 S. gr. 8) Fr. 5.—

Nicht eine Gefchichte der deutfehen Myftik, fondern
nur einen Verfuch über die deutfehe fpeculative Myftik
des 14. Jahrh. will die Schrift geben, von der hier der erfte
Band (auf dem Titel nicht als folcher bezeichnet) vorliegt.
Innerhalb diefer Begränzung ftellt der Verf. ein reichhaltiges
Programm auf. Ein zweiter Band foll Tauler
und Sufo behandeln, den Charakter der zahlreich vorhandenen
Anonyma erörtern und fie zu klafflficiren verfluchen
, Rulmann Merswin und die ihn betreffenden
Streitfragen erörtern, die ,deutfehe Theologie' befprechen
und endlich den Einflufs der Myftik auf das Volksleben
und auf Literatur und Kunft in Deutfchland darftellen.
Diefer erfte Band aber behandelt nur in feiner zweiten
Hälfte direct zum Gegenftande Gehöriges, nämlich Leben
und Lehre Meifter Eckarts, während die erfte Hälfte fleh
mit Erfcheinungen befafst, die in näherer oder entfernterer
Weife als vorbereitend anzufehen find, oder doch
in einer gewiffen inneren Verwandtfchaft damit flehen,
Scotus Eriugena, Amalrich und die Amalricianer, die
Ortlibianer, die Brüder vom freien Geifte und die häre-
tifchen Begharden. Es genüge über diefe Abfchnitte
die Bemerkung, dafs die Darftellung des Verfaffers auf
den neuften Forfchungen beruht, ohne diefe grade weiter
zu führen; hinfichtlich der Ortlibianer erklärt er fleh mit
H. Haupt gegen die Anficht K. Müllers, dafs fie als eine
Abzweigung der Waldenfer anzufehen feien.

Nicht ohne Intereffe ift, was der der chriftlichen
Theologie lediglich als gefchichtlicher Erfcheinung gegen-
überftehende Verf. über die Myftik im Allgemeinen fagt.
Es giebt zwei Arten von Myftikern; die einen fuchen
fich für die Bedürfnifse ihres Herzens, ihre Liebesfehn-
fucht, ihren Enthufiasmus, einen empirifchen Gegenftand
(Chriftus, Maria, die Heiligen), die andern erheben fich