Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1901 Nr. 16

Spalte:

450-452

Autor/Hrsg.:

Fürstenau, Hermann

Titel/Untertitel:

Johann von Wiclifs Lehren von der Einteilung der Kirche und von der Stellung der weltlichen Gewalt 1901

Rezensent:

Deutsch, Samuel Martin

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

449

Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 16.

450

dafs die von dem Verf. am Texte zu Gunften einer
apoftolifchen Quelle gemachten Beobachtungen haltbarer
oder zwingender Natur find? Ref. konnte fich wenigflens
davon nicht überzeugen, dafs W.'s Argumente, auch die
ftärkften, nicht ebenfogut anderer Deutung fähig wären.
Es wird z. B. immer noch mit der Möglichkeit gerechnet
werden müffen, dafs der Evangelift felber, wenn er in Jefu
Perfönlichkeit das höhere, fymbolifche, die alten jüdifchen
Poftulate erfüllende Moment veranfchaulichen wollte, der
niederen Auffaffung von den örjfisla in der Volksmaffe
die tiefere, umfaffendere Betrachtungsweife von den egya
bei Jefus gegenüberftellte. Aber es führen doch auch die
ungläubigen Brüder Jefu den Ausdruck egya im Munde (73),
und dafs derfelbe lediglich durch die Zurückbeziehung
auf die Rede Jefu 519 f. veranlafst fein foll, wird kaum
glaublich erfcheinen, wenn man beachtet, wie viel andersartiger
Stoff auch in der W.'fchen Quelle, [nämlich 713—19
sib—24 und 627—58] zwifchen die beiden Ausfagen fich hineindrängte
. Und dazu foll ja auch 71 zur Quelle zählen,
fo dafs felbft eine Veränderung des Schauplatzes, eine Reife
von Jerufalem nach Galiläa fich vor diefer Bezugnahme
der Jünger auf die Rede in c. 5 vollzogen haben müfste!
Die Verknüpfung von 627fr. weiter mit der Rede in c. 5
bleibt fehr problematifch: denn in der durch die Stücke
aus c. 7 verlängerten Rede von c. 5 kommt noch fehr
viel anderes als die sgya Oeov zur Sprache, und es handelt

Tempelreinigung bei Johannes in die Anfänge des Wirkens
Jefu verlegt wird, fo foll es wegen des wichtigen Weis-
fagungswortes fein. Aber Proben des Wiffens Jefu haben
wir fchon in Cap. L Und follte der Evangelift in der Erzählung
ein OT]peiov (21s) gefehen haben, fo hat er ja fchon
der vorangehenden Wunderthat den Ehrenplatz (agxijv
rcöv arjfidmv 211) eingeräumt. Auch zeigt die erfte Bemerkung
des Evangeliften in Vers 17, dafs ihm an dem Vorgang
noch Anderes bedeutungsvoll erfcheint als das Weis-
fagungswort (19). Aus diefer Unficherheit erlöft nur die
Erkenntnifs, dafs der Evangelift die erften Capitel feines
Werkes unter Bezugnahme auf die Täuferpartei und ihre
Wafferreinigungen gefchrieben hat, wodurch fich fo-
wohl die Voranftellung der neuen, an dem Gegenfatz
von Wein und Wafferauf der Hochzeit zu Kana illuftrirten
Art des Evangeliums als auch der neuen geiftesmächtigen
Reinigung des Tempels erklärt. Wie hier, fo rächt fich
an vielen Orten der methodifche Fehler der Unterfuchung.
Erft nach vollendeter Arbeit wird die Frage nach den
Zwecken des Evangeliften aufgeworfen und nach Aufzählung
mehrerer anderen Puncte wird zuletzt mit den
Worten ,es ift dann auch noch ein beftimmtes polemifches
Intereffe des Evangeliften erkennbar' auf die Hauptfache
wie auf etwas Nebenfächliches hingewiefeu. Denn es ift
zum Minderten verfehlt, das was gerade in den erften
Capiteln des Evangeliums fo ftark hervortritt, hintanzu-

fich in c. 6 um ein egyaCzofrai der Juden, das da- | ftellen. Es hilft auch gar nichts, um von Allem anderen zu

felbft in keinerlei Vergleich mit dem ,Arbeiten' des Sohnes
geftellt wird. Auch ift der in c. 5 bei weitem am häufigften
gebrauchte Ausdruck jtoisTv und nicht £gyaC,£Gd-cu. Vor
allem aber bliebe das Verlangen der Juden nach einem
G7](aiov 630 nach der vorausgehenden Wunderheilung Jefu
in 51 f. auch bei der W.fchen Conftruction nicht minder
fonderbar und auffallend als in der heutigen kanonifchen
Vorlage. Denn nach dem Quellenftück 721 haben Alle
dies Wunder mit Erftaunen (i+avfia&Te) gefehen.

Diefe Erwägungen im Einzelnen, welche an diefem
Orte nicht weiter verfolgt werden können, führen zu dem
Schlufs, dafs das Unternehmen W.'s, nämlich die genaue
Reconftruction einer apoftolifchen Quellenfchrift in ihrem
Zufammenhang und in derReihenfolgedereinzelnenStücke,
eine gewagte, wenn nicht ausfichtslofe Sache ift. Der
Reiz derartiger Operationen, zugleich aber auch ihre grofse

fchweigen, den Grundbeftand des Prologs dem Evangeliften
abzuerkennen, denn gerade wenn er nur die auf den
Täufer bezüglichen Stücke interpolirt, wenn fie und etwa
to aX?]&ivöv in Vers 9 feinen einzigen Beitrag zum Prolog
und alfo auch fein wirkliches ausgefprochenes Intereffe
an demfelben darfteilen, fo läfst fich die Confequenz nicht
gut abweifen, dafs der ganze Prolog von ihm in diefe
befondere Beleuchtung geftellt wurde oder zu flehen kam.
Dann ift es aber methodifch gerechtfertigt, vor allem in
diefer am Eingangsthor des Evangeliums fichtbaren Tendenz
den .Schlüffel zum Verftändnifs' zu fuchen. Den
Schlüffel wird Jeder, der in das Innere eines Haufes eindringen
will, immer noch beffer am Thor als an irgend
einer Seiten- oder Hinterwand einfetzen. Dafs ein Schrift-
fteller ein doppeltes und dreifaches Intereffe bei feiner
Arbeit verfolgen kann, ift nicht zu leugnen. Es kommt

Gefahr, liegt darin, dafs die joh. Reden, inhaltlich be- j aber darauf an, diefelben richtig abzufchätzen und das

trachtet, fich nur über wenige ftereotype Themata aus
breiten, was die Verfuchung mit fich führt, von einem
Capitel zum anderen urfprüngliche gefchichtliche und
textmäfsige Zufammenhänge zu conftruiren, während der
wahre Einheitspunct vielleicht doch nur im Denken, in
den Bedürfnifsen, in der Stimung, in der Theologie des
Evangeliften liegt. Hierüber mufs fich die Forfchung in
erfter Linie klar werden, und darum dürfte fie einen etwas
anderen Weg einfchlagen als den von W. gewählten.

Für W. bildet der literarifche Vergleich mit den
Synoptikern das Thor zum Eindringen in das joh. Problem.
Damit kommt man aber zu keinen feiten, klaren Re-
fultaten, alfo auch zu keiner wirklich beherrfchenden
für das Problem entfcheidenden Stellung, wie man aus
den Schlufsfolgerungen p. 43 h entnehmen kann. Es ift
auch diefer Vergleich gar nicht der treibende Factor in
der W.'fchen Arbeit, fondern die zumeift am joh. Text
felbft, ohne Zuhilfenahme des fynoptifchen gemachteWahr-
nehmung einer doppelten Gedankenftrömung. Die richtige
Methode der Unterfuchung kann nur darin beliehen, an
der jetzt vorliegenden Schrift die vom Evangeliften verfolgten
Zwecke in's Auge zu faffen. Auch bei der Annahme
, dafsQuellenftücke in dieDarftellung verwoben find,
geftattet nur die Einficht in den Zweck des Schreibenden
\ ahrfcheinlichkeitsfchlüfle auf feine Compofitionsarbeit.
Die atomiftifche Methode mufs bei jeder Perikope ihre
Direction erft fuchen, kommt aus dem Hypothetifchen nicht
heraus und urtheilt meift nach dem Kanon: es lag eben
dem Evangeliften daran oder daran. Wenn z. B. die

charakteriftifche, am deutlichften hervortretende Motiv
zu erkennen.

Können wir fomit den Conclufionen des Verf. nicht
zuftimmen, fo mufs ihm die theologifche Forfchung
doch Dank wiffen dafür, dafs er feine frühere Hypothefe
wieder aufgenommen und gründlich durchzufuhren ver-
fuchthat. Nur nach forgfältiger Prüfung der verfchiedenen
Möglichkeiten und nach Eliminirung aller nicht gangbaren
Pfade kann fie allmählich auf die zum Ziele führenden
Bahnen gelangen.

Giefsen. Baldenfperger.

Fürstenau, Dr. Hermann, Johann von Wiclifs Lehren von
der Einteilung der Kirche und von der Stellung der weltlichen
Gewalt. Berlin, R. Gaertner, 19CX). (IV, 117 S.
gr. 8.) M. 2.80

Die vorliegende Schrift ift ein fehr intereffanter und
fördernder Beitrag zu Wiclifs Lehre von der Kirche und
der Stellung der weltlichen Macht in der Kirche. Im
erften Abfchnitte wird nachgewiefen, wie bei W. fich zwar
auch die gewöhnliche Eintheilung in Clerus und Laien finde
wie aber überwiegend eine ihm eigenthümliche in Geift-
liche, weltliche Herren und das Volk [plebeii, laboratores)
hervortrete. Dafs W. auf diefe Eintheilung nicht durch
Aug. sermo I in ps. 36, auf den er fich zur Rechtfertigung
derfelben beruft, geführt worden ift, weift F. einleuchtend
nach, ob aber feine eigne Anficht, W. fei dabei der Ver-

**