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Ausgabe:

1901 Nr. 15

Spalte:

435-436

Autor/Hrsg.:

Liliencron, Freiherr v.

Titel/Untertitel:

Chorordnung für die Sonntage und Festtage des evangelischen Kirchenjahres 1901

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Seite 1

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435

Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 15.

436

Liliencron, R. Freiherr v., Chorordnung für die Sonn-
und Fefttage des evangelifchen Kirchenjahres. Entworfen
und erläutert. Gütersloh, C Bertelsmann, 1900.
(IX, 264 S. 8.) M. 3.60; geb. M. 4.50

In diefem Sr. Majeftät dem deutfchen Kaifer und
König von Preufsen Wilhelm II gewidmeten Werke
bietet der hochverehrte Herr Verfaffer der evangelifchen
Kirche eine Chorordnung an, die feiner Intention nach im
fonntäglichen Gottesdienfte in Städten und Dörfern gebraucht
werden foll. Dem Werke vorgedruckt ift das
Schema des Hauptgottesdienftes und das der Vesper oder
Mette unter Einfetzung der Texte des 1. Advents. Das
Werk felbft befleht aus zwei Theilen. Im erften Theil
(S. 1 — 88), der für die Hand der Gemeinde beftimmt
ift, wird für jeden Sonn- und Fefttag ein Hauptgottes-
dienft und in der Vesper oder Mette der Gang des
Gottesdienftes, foweit die Chorgefänge dabei in Betracht
kommen, angegeben. Der zweite Theil enthält in 16 §§
Erläuterungen und Nachweifungen zur Begründung und
Rechtfertigung des Schemas.

Der Herr Verfaffer legt feinem Werke die von ihm
fehr hochgewerthete Ordnung des Hauptgottesdienftes der
Agende für die Evangelifche Landeskirche (in Preufsen)
zu Grunde; nur dem Chor weift er eine bei weitem reichere
Aufgabe zu. Nicht nur den Eingang, das Kyrie, Friede
auf Erden, das Chorlied (z. B. zum 1. Advent zwei
Strophen von ,Wie foll ich dich empfangen?') hat der
Chor zu fingen, fondern auch eine Reihe von Verba
solemnia zufammen mit der Gemeinde. Der Herr Verfaffer
wünfcht offenbar den Gefang des Kunftchores zu
einem integrirenden Theil des evangelifchen Gemeinde-
gottesdienftes zu erheben. Leider hat es aber der Herr
Verfaffer unterlaffen, uns mitzutheilen, welche liturgifche
bezw. religiöfe Idee dem Eintreten des Chores zu Grunde
liegt; denn eine folche Idee mufs doch aufgewiefen werden,
wenn der Gottesdienft, der in der evangelifchen Kirche
ja nicht der oder für die Gemeinde gehalten wird, den
vielmehr die Gemeinde und nur fie hält, nicht frem'd
und unverftändlich ihr fein foll. Umfomehr würde eine
Verltändigung über die Idee des Chores am Platze fein,
als dem Chor in der vorliegenden Ordnung eine gar
verfchiedenartige Stellung eingeräumt zu fein fcheint.
Im Eingang hat er einen prophetifchen Charakter, dann
wieder betet er namens der Gemeinde, er fingt ftatt
der Gemeinde das Kyrie oder verbindet fich mit der
Gemeinde, um im Wechfelgefang mit dem Liturgen zu
fingen oder auch mit der Gemeinde die Verba solemnia
vorzutragen; eine einheitliche Idee ift nicht erfichtlich.
Dafs fie nicht vorhanden ift, wird damit nicht behauptet
; für den Lefer jedoch find die Choreinlagen
lediglich vom mufikalifchem Gefichtspunkte aus zu
verliehen; diefer Gefichtspunkt aber rein für fich hat
keine Tragfähigkeit, den Chorgefang zu einem integrirenden
Theile des Gemeindegottesdienftes zu erheben,
da der Chorgefang wohl zur Vorbereitung und als Nachklang
der religiöfen Feier der Gemeinde bei befonderen
feftlichen Gelegenheiten dienen kann, folglich nur geplattet
, nicht nothwendig ift, für fich felbft aber nur ein
finnliches Analogon religiöfer Erhebung darbietet.

Jedem Sonntag und Fefttag — das ift das zweite
Anliegen des Herrn Verfaffers — foll durch den Ge-
meindegottesdienft fein befonderes ihn von allen anderen
Sonntagen und Fefttagen unterfcheidendes religiöfes Gepräge
verliehen werden. Das fucht der Herr Verfaffer durch
die Perikopen und die an diefe fich anfchliefsenden Gefangeinlagen
herzuftellen, und er findet in den bei weitem
meiften Fällen die römifchen Perikopen dazu viel geeigneter
, als die alten evangelifchen, zumal da, wie er
meint, die römifchen die ältere, die evangelifchen die
jüngere Ordnung bildeten. In Siona 1900 Heft 9—II
ift diefe Aufftellung von K. Giefecke in Preetz in allen
Punkten als unhaltbar bereits widerlegt worden. Die

Perikopen, die römifchen wie die evangelifchen, vermögen
ein individuelles Gepräge nur in feltenen Fällen
dem Sonntag zu geben, aus dem einfachen Grunde,
weil mit wenigen Ausnahmen ein fachlicher Zufammen-
hang zwifchen Epiftel und Evangelium nicht befteht, und
weil die Perikopenreihen im Ganzen nichts weniger als
ein Syftem oder eine ficher fortfchreitende Gedankenreihe
bilden. Und dafs die römifchen Perikopenreihen
gegenüber den evangelifchen die älteren find, ift zwar
eine römifche Behauptung, aber fie ift durch alle Unter-
fuchungen als falfch erwiefen. Endlich aber darf darauf
hingewiefen werden, dafs es gewifs nicht im Sinne
Luthers ift, auf die herkömmlichen, feien es die römifchen
oder evangelifchen, Perikopen fo grofses Gewicht
zu legen; die wegwerfenden Urtheile Luthers über die
Perikopenreihen find ja bekannt. Wir wollen es nicht
verbergen, dafs die Hinneigung zur römifchen Gottes-
dienftordnung, die fo vielfach hervortritt, uns fchmerzlich
berührt hat; die Erläuterungen und Nachweifungen lefen
fich an manchen Stellen wie eine Empfehlung römifcher
Liturgie, zu der zurückzukehren evangelifche Pflicht fei;
wie die römifche Kirche keinen Unterfchied zwifchen
kanonifchen und apokryphifchen Büchern kennt, fo läfst
der Herr Verfaffer öfter fogar im Eingang die Gemeinde
mit Sätzen aus der Weisheit Salomo's u. dgl. begrüfsen;
wie die römifche Meffe nach der Vulgata citirt, fo weicht
unter Umftänden auch die Chorordnung von der deutfchen
Bibel ab, um fich der falfchen Vulgata-Ueberfetzung an-
zufchliefsen (z. B. 3. Advent: die Erde thue fich auf und
bringe den Heiland [gerrninet salvatorem}), und wie die
römifche Meffe mit Deo gratias fchliefst, fo wird auch
der Hauptgottesdienft der Chorordnung mit dem Gefang
der Gemeinde und des Chors befchloffen: ,Gott fei ewiglich
Dank'!

Endlich dürfte auch die Vorliebe des Herrn Verfaffers
für Archaismen bemerkt werden. Es foll gewifs nicht alles
modernifirt werden; alteP"ormen in Gebeten und Gefangen
haben ihren grofsen Werth; fie erinnern die Gemeinde an
ihre Gefchichte und an ihren Zufammenhang mit den
früheren Generationen; und es gehört zur Bildung der
Gebildeten, ein Verftändnifs dafür zu haben. Allein man
darf der Gemeinde nicht zu viel und nicht anftöfsiges
zumuthen; wenn wir im Eingang zum 1. Advent lefen:
,. . . der Herr wird feine herrliche Stimme fchallen laffen
und euch von Herzen freuen', wenn der Gemeinde der
Choral Luthers geboten wird: ,Sein Lauf kam vom
Vater her und kehrt wieder zum Vater', und wenn fie im
Refponforium fingen hört: ,Herr, räche du fie! Räche, Herr,
das Blut deiner Heiligen', fo fträubt fich das Sprachgefühl
und das religiöfe Gefühl in gleicher Weife dagegen, und
die Erbauung der Gemeinde ift gefchädigt. —

In der ,Chorordnung' des Herrn Verfaffers prägt
eine liturgifche Richtung fich aus, welche das äfthetifch-
mufikalifche Intereffe dem religiöfen, das archaiftifche
dem erbauenden, das romanifirende dem evangelifchen
überordnet. Wir halten diefe Richtung nicht für heilbringend
oder heilfördernd, und unfere Verehrung des
Herrn Verfaffers darf uns nicht daran hindern, unferer
Ueberzeugung einen ungefchminkten Ausdruck zu geben.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Berichtigung.

Zu meiner Befprechung der Teile 10. 12. 7. 4 der Sacred Books
of the Old Testament in Nr. 14 diefes Blattes theilt mir der Herausgeber
jenes Bibelwerks, Herr Profeflbr Dr. Paul Haupt, mit, dafs es nicht
auf einer Anordnung von feiner Seite beruht, wenn die neue englifche
Ueberfetzung des Alten Teftaments, die mit der Ausgabe des hebräifchen
Textes Hand in Hand geht, bisher in Deutfchland nicht vertrieben und
befprochen worden ift. Man wird daraus alfo zu fchliefsen haben, dafs
die Verlagsbuchhandlung allein, die Deutfche Verlags - Anftalt in Stuttgart
, für die Befchränkungen, die ich beklagen mufste, verantwortlich ift.
Marburg. K. Budde.