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Ausgabe:

1901 Nr. 14

Spalte:

400-402

Autor/Hrsg.:

Hardeland, Theodor

Titel/Untertitel:

Evangelisationsfragen, in lutherischem Sinne erwogen 1901

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 14.

400

liehen Erlebnifsen jene Einwirkung von dem gefchicht-
lichen Chriftus her ein rechtes Glaubensleben entzünden
könne (bef. S. 70 ff.).

Als befonders fchön und bedeutfam möchte ich
daneben hervorheben, wie (ich H. über das Wunder des
Freiheitserlebnifses ausfpricht und mit dem Determinismus
auseinanderfetzt; wie er überall die rechte Art
des chriftlichen Glaubens nach evangelifcher Auffaffung
betont und die innerlich fittliche Art diefes Glaubens
klarlegt; endlich wie er die Arbeit würdigt. In den Ab-
fchnitten über den Dienft Gottes in der Kulturgefell-
fchaft und im Staate ift die ganze praktifche Lebensweisheit
H.'s mit Bezug auf die Probleme, die den
Gräften innerhalb der modernen Welt bewegen, niedergelegt
. Man mag hier über viele einzelne Punkte anders
urtheilen als H. Aber man mufs anerkennen, dafs diefe
Abfchnitte zum ernfteften ethifchen Nachdenken anregen.

Am wenigften haben mich die Anfangsausführungen
H.'s überzeugt, in denen er den Grundbeftand und die 1
Anfangsentwickelung des fittlichen Lebens und Denkens
pfychologifch darzulegen fucht. Ich ftimme ihm freilich !
darin zu, dafs er das Sittliche nicht im Sinne des Eudämo-
nismus ableiten und erklären will. Aber ich kann nicht j
zugeben, dafs mit feiner Darftellung des Vorganges, wie
unter dem Einflufse des Vertrauens zu einer fittlichen
Perfönlichkeit die fittlichen Gedanken entliehen, in allgemeingültiger
Weife der Vorgang des Erwachens des
fittlichen Bewufstfeins gefchildert fei. Meines Erachtens
tritt die Erfcheinung des erwachenden Gewiffens in viel
mannigfaltigeren Formen auf und find die Wurzeln diefer
Erfcheinung auch noch andere, als welche H. aufdeckt.
Es ift mir als ein empfindlicher Mangel aufgefallen, dafs
H. fich nirgends eingehend mit dem Begriffe des Gewiffens
auseinanderfetzt. Freilich befpricht er die inneren Vorgänge
, die wir gewöhnlich als Erwachen und Entwickelung
des Gewiffens bezeichnen. Ich meinte zuerft, dafs er ab-
fichtlich nur den Ausdruck Gewiffen vermiede, weil der-
felbe abgegriffen und vieldeutig fei. Aber im weiteren
Verlaufe feines Werkes braucht er doch gar nicht feiten j
diefen Begriff als Bezeichnung einer bekannten Gröfse
von fundamentaler Wichtigkeit für das fittliche Leben
(z. B. S. 91. 93. 101. 107. 143. 144. 159. 168). Die Er-
fcheinungen der elementaren Gewiffensregung, befonders
beim Kinde, hätten wohl eine genauere Berückfichtigung
verdient. Eine folche hätte m. Er. gerade zu einer wefent- j
liehen Ergänzung deffen geführt, was H. über das Erwachen
der fittlichen Gedanken ausführt.

Die drei Schlufsparagraphen über Tugenden, Pflichten 1
und erlaubte Erholung bilden ein feltfames Anhäng- j
fei. H. theilt in der Vorrede mit, er habe fich in '
der kurzen Ausführung über diefe Themata im Ganzen
an Ritfehl angefchloffen. Aber warum diefe kurze Aus- 1
führung überhaupt? Was H. von fich felbft aus über die j
befeftigten Eigenfchaften des Charakters, den der Chrift
bei feiner fittlichen Arbeit erwirbt, und ebenfo über die
Pflichten und das Erlaubte zu fagen hat, ift in den vorangehenden
Abfchnitten fchon gefagt. Was hierüber etwa
noch zu fagen übrig war, hätte in eine organifche Verbindung
mit den früheren Abfchnitten gebracht werden
muffen. Hoffentlich gefchieht das in einer neuen Auflage, j

Ich fchliefse mit dem Wunfche, dafs das Werk H.'s !
bei unferen Theologen das gründliche Studium finde, das
es verdient.

2. H.'s Vortrag über römifche und evangelifche
Sittlichkeit liegt jetzt in zweiter Auflage vor (vgl. meine
Anzeige in Jahrg. 19OO Nr. 10). Der Hauptpunkt, auf
den es H. hier ankommt, ift zu zeigen, wie nach echter
evangelifcher Auffaffung die chriftliche Sittlichkeit ihrem
Wefen nach Wahrhaftigkeit und Selbftändigkeit ift,
während anf dem Boden der römifchen Kirche diefe
Wahrhaftigkeit und Selbftändigkeit unterdrückt und
eben damit das Wefen der Sittlichkeit zerftört wird.
Auch in feiner ,Ethik' weift H. wiederholt auf diefe

differente Art der evangelifchen und der römifchen
Auffaffung hin. Aber er hat hier doch nicht Anlafs,
fo ausführlich auf die römifche Auf löfung der Wahrheitspflicht
, fpeciell im Probabilismus, einzugehen, wie er es
in diefem Vortrage thut. Infofern bildet der Vortrag
eine treffliche Ergänzung zu der Ethik. Zugegeben ift
dem Vortrage in diefer zweiten Auflage eine Vorrede,
in der fich H. mit einem evangelifchen, und ein Anhang,
in dem er fich mit einem katholifchen Kritiker der erften
Auflage auseinanderfetzt. Die für jeden Menfchen von
fittlichem Gefühl äufserft befremdliche Argumentation,
in der diefer letztere Kritiker die Unwahrhaftigkeit und
Gewiffenlofigkeit des Probabilismus in Schutz nimmt,
wird von H. in die richtige Beleuchtung gerückt.

Jena. H. H. Wendt.

Hardeland, Paft. Theodor, Evangelisationsfragen, in lutherischem
Sinne erwogen. Leipzig, A. Deichert Nach f., 1899.
(IV, 184 S. gr. S.) M. 2.50

Durch feine katechetifchen Schriften hat derVerfaffer
fich einen geachteten Namen in der theologifchen Literatur
erworben. Seine Stimme darf auf forgfältige Beachtung
auch da rechnen, wo fie über hervorragende Zeitfragen des
kirchlichen Gemeindelebens fich erhebt. Die Brofchüre
des Verfaffers: ,Die Evangelifation mit befonderer Berückfichtigung
der Heiligungsbewegung'1898 ift dem Referenten
unbekannt geblieben; dem Titel nach behandelt fie theil-
weife dasfelbe, was uns hier in weiterem Rahmen dargeboten
wird.

In fechs Abfchnitte ift die Schrift getheilt: 1. Der
Methodismus und die ihm verwandten Erfcheinungen
(1—63); 2. Das Chriftenthum und die Maffen (63—89);

3. Erweckungszeiten und Erweckungspredigten (89—121);

4. Das chriftliche Gemeinfchaftsbedürfnis (121—140);

5. Der Wind bläfet, wo er will (140—161); 6. Was lernen
wir von der Evangelifation? (161-—181). Den Befchlufs
bildet ein Regifter.

Am werthvollften find wohl ohne Frage die Abfchnitte
4 und 6, in denen der Verfaffer feine pofitive Stellung zu
Evangelifation und Gemeinfchaftspflege entwickelt. Er
erkennt es trotz des fehr ftark betonten lutherifchen
Confeffionalismus unumwunden an, dafs in der gläubigen
Gemeinde ein lebhaftes Gemeinfchaftsbedürfnis vorhanden
ift, das Befriedigung fordert, und dem Befriedigung zu
gewähren ift. Das gefchieht im chriftlichen P'amilienkreis,
im öffentlichen Gottesdienft, in Bibelftunden und Bibel-
befprechftunden unter Leitung des Paftors, in Männer-
und Jünglingsvereinen, in freundfehaftlichen religiöfen Verbindungen
; berechtigt find auch Bibelkränzchen ohne
Leitung des Paftors, auch eine mehr oder weniger organi-
firte Gemeinfchaftsform wie in Württemberg; ja: ,von den
Secten wird das Gemeinfchaftswefen gepflegt in einem
Mafse, wie es von unferer Seite nicht möglich ift, auch
kaum möglich werden wird, fowünfchenswerth es wäre'
(S. 132). Das mutuum colloquium und die consolatio
fratrum der Art. Smalc. III 4 (Müller p. 319) wird jedoch
nicht erwähnt. Inbetreff der Evangelifation wird ebenfo
unumwunden anerkannt, dafs namentlich in grofsen Stadtgemeinden
händige Laienhilfe (nicht nur durch Stadt-
miffionare) zur Seelforge an Armen und Kranken, zur Wortverkündigung
in Bibelftunden bis hin zu mitternächtlichen
Verfammlungen für Kellner und Drofchkenkutfcher u. f. w.
für den Paftor unentbehrlich fei. Leider wird uns nicht
mitgetheilt, inwieweit die Anfchauungen des Verfaffers in
den Kreifen der Confeffionsgenoffen getheilt und inwieweit
die Forderungen verwirklicht werden. Diefer Mangel
nimmt jedoch der dankbaren Anerkennung nichts, dafs der
Verfaffer in fchöner Weitherzigkeit und hohem feelforger-
lichem Ernft für richtige Gemeinfchaftspflege und richtige
Evangelifation eingetreten ift.

Allerdings wird Dank und Freude wefentlich gedämpft
durch die beiden erften Abfchnitte des Buchs. Nur im