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Ausgabe:

1901 Nr. 14

Spalte:

393-396

Autor/Hrsg.:

Platzhoff, Ed.

Titel/Untertitel:

Ernest Renan 1901

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 14.

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Diöcesaneintheilung der Graffchaft Lippe (Nr. 131 und
147) und endlich das lateinifche geheime Kirchenvifitations-
protokoll (Nr. 148). Alle diefe Acten, die fich theils im
Fürftl. Lippifchen Hausarchiv, theils im Landesarchiv befinden
, find bisher nicht gedruckt und bereichern untere
Kenntnis der reformatorifchen Vifitationen in höchft willkommener
Weife.

Mit feiner Corvinus-Biographie und feiner Publication
des Corvin'fchen Briefwechfels hat Tfchackert einmal der
Reformationsgefchichte überhaupt, namentlich aber der
kirchengefchichtlichen Erforfchung Niederfachfens, um
die er als Biograph Joh. Sütels und als Mitherausgeber der
Zeitfchrift der Gefellfchaft für niederfächfifche Kirchen-
gefchichte fchon wiederholt fich verdient gemacht hat,
eine fchöne Gabe befcheert. Wir hoffen, dafs ihr noch
mancher werthvolle Beitrag zur Kirchengefchichte Niederfachfens
aus Tfchackerts Feder folgen wird.

Efchershaufen (in Brfchw.). Ferdinand Cohrs.

Platzhoff. Ed., Ernest Renan. Ein Lebensbild. (Männer
der Zeit 9. Bd.) Dresden, C. Reifsner, 1900. (XIII,
201 S. gr. 8.) M. 3 —

Bisher war Renan in Deutfchland, wenn auch nicht
ausfchliefslich, fo doch in erfter Linie als Verfaffer des
Lebens Jefu und der Gefchichte des Urchriftenthums
und des Volkes Israel bekannt; feine philofophifche,
politifche, dramatifche und allgemein hiftorifche Be-
thätigung, durch welche er in Frankreich einen weitgreifenden
und tiefgehenden Einflufs gewonnen, hatte
unter uns noch keinen Darfteller und Beurtheiler gefunden
. Es ift deshalb mit Dank zu begrüfsen, dafs
eine mit den Mitteln hiftorifcher und philofophifcher
Bildung tüchtig ausgerüftete junge Kraft fich diefem
ebenfo lohnenden als fchwierigen Gegenftande zugewandt
hat. Da Renan zu den Denkern gehört, ,deren Werth
ohne Händige Bezugnahme auf die Entfaltung ihres
Charakters und die Wandelungen ihres äufseren Lebens
nicht gewürdigt werden kann', fo hat PI. mit Recht das
perfönliche Moment in feiner Darftellung ftark betont
und feinen, alle zugänglichen Dokumente zufammen-
faffenden und verwerthenden Verfuch zu einem zugleich
mit warmer Sympathie und mit kritifchem Blicke gezeichneten
Lebensbilde geftaltet.

Es war kein leichtes Unternehmen, die Proteusnatur
des geiftvollen in ftets wechfelnder Geftalt den Blicken
fich darbietenden, fcheinbar jeder feften und einheitlichen
Beurtheilung fich entziehenden Denkers zum Stehen zu
zwingen. Diefe Schwierigkeit hat PI. oft genug empfunden
und zu wiederholten Malen zum Ausdruck gebracht. ,Re-
nan's Gedankenwelt ift einem verfandenden Flufse gleich,
der fich in hundert Arme nach den verfchiedenften
Richtungen fpaltet, Seen bildet und unauffindbare innere
Abflüfse hat. . . . Wie zwanzig Momentaufnahmen von
dem Sprung eines Pferdes nur einen fchlechten Begriff
zu geben vermögen, fo wird auch die Darfteilung eines
weitereilenden Gedankenlebens nie adäquat fein können',
100. 152. 132. XII. u. ö. ,Nicht ganz ohne Willkür' (194),
aber gewifs auch nicht ganz ohne Berechtigung hat PI.
es verfucht, drei Perioden in der Entwickelung R.'s zu
unterfcheiden. Die erfte, welche durch feinen aus theo-
retifchen und wiffenfchaftlichen Bedenken, nicht aus religiös-
fittlichen Kämpfen hervorgegangenen Bruch mit der Kirche
eingeleitet ift, zeichnet fich durch den Ernft und die Be-
geifterung aus, mit welcher der junge Gelehrte die Wiffen-
fchaft als den vollkommenen Erfatz für die durch die
Philofophie entthronte Religion pries. Das Programm
diefer von dem freudigen Drang der neu eroberten Freiheit
beherrfchten Zeit liegt in dem 1848 verfafsten, erft
189O veröffentlichten Werke L'Avenir de la science vor.
PI., der dem merkwürdigen Buche die ihm gebührende
Beachtung zu Theil werden läfst, nennt es treffend ,ein

; grofses Verfprechen'. ,Wiffenfchaft ftatt Religion, Re-
1 flexion ftatt Spontaneität, Philologie ftatt Weltgefchichte,
Raffen- ftatt Individualpfychologie, Werdens- ftatt der
Seinskatfegorie — lauter Andeutungen und Hinweife auf
fpätere Ausführungen, die etwas Beraufchendes haben
mufsten' (26). Selbftverftändlich laffen fich die von dem
Verf. gefchilderten Epochen der geiftigen Entwickelung
R.'s nicht durch beftimmte Jahreszahlen gegen einander
abgrenzen; diefer Pedanterie verfällt PI. nirgends, er ver-
fteht es vielmehr, die allmählige Umbildung der R.'fchen
Weltanfchauung feinfinnig und klar zu fkizziren, und die
vielverfchiungenen Fäden, welche in diefer reichen, jeden
Schemas fpottenden Gedankenwelt durch einander gehen,
zu entwirren. Welche Erfchütterungen das urfprüngliche
Ideal R.'s, ,das Glück durch die Wiffenfchaft', erfahren,
wie die Ereignifse von 1851, feine aus den Briefen an
Berthelot neuerdings uns bekannter gewordene erfte
italienifche Reife, ferner feine gefchichtlichen Unter-
fuchungen und theoretifchen Erwägungen, den Um-
fchwung der unter dem Eindruck von 1848 gebildeten
demokratifchen Anflehten hervorriefen; wie vor Allem
der deutfeh-franzöfifche Krieg feiner Hoffnung auf eine
Befruchtung der romanifchen Bildung durch den ger-
manifchen Geift ein jähes Ende bereitete, alles dies
hat PI. an der Hand feiner mit Gefchick und Umficht
verwertheten Quellen dargethan. Bereits in der zweiten
Periode feines Schaffens, welche offenbar den Höhepunkt
feiner Lebensleiftung darfteilt, find bittere Enttäufchungen,
klaffende Lücken und Widerfprüche überall wahrnehmbar.
Nachdem der innere Gedankenfortfehritt und die äufseren
Erfahrungen den Glauben an das Volk erfchüttert und
die focialpädagogifchen Programme R.'s Lügen geftraft
hatten, trat eine gewiffe Erfchlaffung ein, welche aber
nur vorübergehend in politifchem Peffimismus Halt machte
und fich fchliefslich in einen ,ariftokratifch-optimiftifchen
Skepticismus' auflöfte. R.'s letzte, vorzüglich in feinen
philofophifchen Dialogen und Gelegenheitsreden fich
äufsernde Periode bezeichnet den .völligen Verfall und
Verzicht auf eine Welt- und Lebensanfchaung'. Immer
noch gab fich R. jenem philofophifchen Dilettantismus
hin, deffen einziges Beftreben die Anempfidung aller
Syfteme, das Erleben und Durchkoften aller Gemüths-
zuftände war. Den verfchiedenen Regungen des dadurch
,verfeinerten Genufsbedürfnifses', das in zahlreichen
Aeufserungen, vornehmlich aber in dem widerlichen Buche
LAbbesse de Jouarre 1886 hervortritt, ift PI. mit feinem
Verftändnifs nachgegangen. Auf jene Furcht vor aller
Einfeitigkeit, auf jene Scheu, fich durch zu lebhafte Parteinahme
für einen Gedanken blofszuftellen, wendet PI.
fehr richtig das R.'s Eigenthümlichkeit charakterifirende
Wort an: II fut dupe de la peur d'etre dupe (S. 154).

Der Schwerpunkt der Darfteilung Pl.'s liegt in der
Schilderung des Philofophen, in der Analyfe und Beur
theilung der Welt- und Lebensanfchauung R.'s. Die
Löfung diefer nach manchen Seiten und aus befonderen
Gründen recht fchwierigen Aufgabe darf als eine gelungene
und glückliche bezeichnet werden. Dafs die Analyfe
einer fo vielfeitigen und beweglichen Individualität
nie ohne Reff aufgehen wird, hat der Verf. felbft lebhaft
empfunden. Er hat es auch ausgefprochen, und hätte
es vielleicht noch fchärfer markiren können, dafs der
Philofoph fich von dem Hiftoriker nirgends trennen oder
ifoli ren läfst. ,Eben weil R. in feiner ganzen, vielfeitigen
Lebensarbeit den Hiftoriker nie verleugnet hat, mufsten
wir zuerft in der Gefchichte (d. h. in den hiftorifchen
Studien R.'s) den Schlüffel feines Wefens fuchen, um
mit diefem uns zu allen anderen Bereichen feiner Thätig-
keit leichteren Eingang zu verfchaffen.' (59). Diefer Satz
gilt nicht nur für die Anfänge der geiftigen Arbeit R.'s,
er findet auch in der Folgezeit feine ftete, fortgehende
Anwendung. So bildet beifpielsweife die philofophifche
Erwägung, die PI. bei Renan erft nach dem deutfeh-
franzöfifchen Kriege zu entdecken fcheint, bereits die