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Ausgabe:

1901 Nr. 13

Spalte:

362-364

Autor/Hrsg.:

Sulze, Emil

Titel/Untertitel:

Wie ist der Kampf um die Bedeutung der Person und des Wirkens Jesu zu beendigen? 1901

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 13.

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feine Unterfcheidung von ,Perfönlichkeit' und ,Wefen in
Gott' in gleicher Verdammnifs zu ftehen komme?

Die zwei letzten Bücher ,Die Gegenwart des Herrn'
1287—342), ,Die Zukunft des Herrn' (343—370) bieten des
Intereffanten und Beachtenswerthen viel. Befonders gelungen
fcheint mir dieBeantwortung der Frage, die von dem
Verf. als eine der fchwierigften bezeichnet wird, welche fich
dem chriftlichen Nachdenken Hellen: ,Wie verhält fich
die Kirche, an die wir um unferer Seligkeit willen glauben,
zu diefer menfchlich fogenannten Kirche' (290)? Die von
Luther nicht immer confequent feilgehaltene Unterfcheidung
einer religiöfen und einer empirifchen Betrachtung
des ,Chriftenvolkes' hat H. mit grofser Kraft und
Klarheit zum Ausdruck gebracht. H.'s Ausführungen
über die Gegenwart des Herrn im Worte, in der Taufe,
im Abendmahl find durch den echt reformatorifchen
Grundgedanken beherrfcht: ,Das Abendmahl verfetzt uns
in keine anders geartete Gemeinfchaft mit Jefu, als
die, in welche wir durch die Taufe getreten find und
welche die Verkündigung des Wortes uns eröffnet' (322).
Dafs diefer Bruch mit der magifchen Auffaffung des
Sakraments einem Bruch mit der Lehre Luthers gleichkommt
, hat H. zwar ange deutet (312—314, 328), aber
namentlich im Lehrftück vom Abendmahl nicht ausdrücklich
hervorgehoben. — Vortreffliche Dienfte wird
den Lefern, namentlich den 1. Brüdern in Württemberg
das Capitel über die ,Grenzen der lehrhaften Verwertung
der biblifchen Zukunftsanfichten' (356—360) leiften. Dem
eigenen Entwurf efchatologifcher Gefchichtsphilofophie,
den der Verf. skizzirt, legt er offenbar keine ftreng dogma-
tifche Bedeutung bei; feine Unterfcheidung von ,Gewiffem'
und .Wahrfcheinlichem' (366) wird formell zu Recht beliehen
, wenn fie auch in Vielem inhaltlich anders benimmt
werden follte.

Aus diefer fummarifchen Analyfe erhellt, ,welcher
theologifchen Richtung der Verf. zugehört und welches
feine Gewährsmänner find' (8). Ihm dürfte etwa Ecke
in einer neuen Auflage feines Buches über die theologifche
Schule Ritfchls eine hervorragende Stelle unter den .beachtenswerten
Verfuchen zu einer Umgertaltung der
Theologie Ritfchls in Annäherung an das unverkürzte
biblifch-reformatorifche Bekenntnifs' zuweifen. Freilich
bezeichnet diefes letztere Prädicat auch die Schranke,
die an manchen Punkten von folchen empfunden werden
mufs, die das von H. anerkannte Princip eines hiftorifchen
Verftändnifses der heil. Schrift in umfaffenderem Maafse
und fchärferer Confequenz zur Anwendung bringen.
Nicht rede ich hier von der anfechtbaren Deutung einzelner
Schriftftellen oder Abfchnitte (z. B. 290, 294—295,
316—317 u. A.), fondern von der allgemeinen Stellung
des Verf. zu den Fragen der hiftorifchen Kritik und der
biblifchen Theologie, welche ihm offenbar geringere
Sorgen und Bedenken bereiten, als dies bei Anderen der
Fall ift (112, 120, 268, 280—281, 309—310). Immerhin
werden auch diejenigen, die diefe und ähnliche Probleme
fchwerer nehmen, mit Freuden anerkennen, dafs H. nicht
nur theoretifch die mechanifche Verbalinfpiration preisgegeben
, fondern auch mit der äufserlichen Methode
eines atomiftifchen Schriftbeweifes gebrochen hat. Nichts
liegt ihm ferner als ,eine verftändnifslofe Unterwerfung
unter einige Bibelfprüche' (275). In gewiffenhafter Anwendung
des 357 ausgefprochenen Grundfatzes (,die
Methode, die den Buchftaben zuerft nach Gutdünken bearbeitet
, dreht und deutet, und dann fich ihm unterwirft,
hat nur den Schein der Treue gegen das heil. Gotteswort
') gelangt er zu dem freimütigen Bekenntnifs: ,Der
Herr hat feinen Jüngern für die nächfte Zukunft ein Er-
eignifs vorherverkündigt, das bis auf den heutigen Tag
noch nicht eingetroffen ift' (358). In den eingeftreuten
dogmenhiftorifchen Excurfen, die niemals Selbftzweck
lind, fondern die pofitiven Ausführungen theils anbahnen
und einleiten, theils decken und begründen, übt H. eine
cbenfo eindringende als pietätsvolle Kritik; nirgends wirft

er lärmend die Scheiben ein, aber er öffnet fachte die
Fenfter, um Luft und Licht in das Gebäude einftrömen
zu laffen. Dafs fich Manche darüber entfetzen und ent-
rüften werden, wird ihn nicht befremden; ilt er doch mit
Kierkegaard und Schrempf davon überzeugt: .untrügliches
Merkmal der göttlichen Wahrheit ift, dafs fie im
felben Maafse beunruhigt, als fie beruhigt' (8). Dafs feine
Schrift aber zur Vertiefung und Aufklärung der Geifter
und Gewiffen dienen, dafs fie für Theologie und Praxis
fegensreiche Früchte bringen wird, kann man bereits
heute mit freudiger, dankbarer Zuverficht vorherfagen.

Strafsbug, i./E. P. Lobftein.

Sülze, Paft. em. D. Dr. Emil, Wie ist der Kampf um die
Bedeutung der Person und des Wirkens Jesu zu beendigen?

Zweite Streitfchrift für den Frieden der Kirche. Tübingen
, J. C. B. Mohr, 1901. (56 S. gr. 8.) M.—.90

Dem Verf. laftet die Frage centnerfchwer auf dem
Gewiffen: ,wie können die Kirchen werden, was fie fein
müffen, wenn fie in der Not der Zeit die erfehnte Rettung
bringen follen?' In feiner claffifchen Schrift ,Die
evangelifche Gemeinde 1892' hatte er dargethan, was
zur Belebung kirchlicher Arbeit organifatorifch gefchehen
mufs; in vorliegender ,Streitfchrift für den Frieden der
Kirche' geht er weniger auf die Geftalt als auf den Inhalt
des kirchlichen Lebens ein; er unternimmt es, die
Bedingungen anzugeben, unter welchen eine Erneuerung
der Glaubenslehre zu vollziehen fei, um dem religiöfen
Leben die Geftalt und Kraft zu verleihen, deren es
bedarf, wenn das Räthfel unferer Zeit eine Löfung
finden foll.

Ueber den Punkt, von dem aus diefe Erneuerung
zu beginnen hat, geben, nach S.s Urtheil, die gegenwärtigen
Verhältnifse felbft zweifellofe Anleitung. ,In
der evangelifchen Kirche wenigftens entfpringt gegenwärtig
faft jeder Confiict, der entlieht, nur daraus, dafs
man in der Auffaffung der Perfon und der Bedeutung
Jefu nicht eins werden kann. Wer tiefer zufieht, der
weifs: darum handelt es fich, ob Chriftus die vollkommene
Offenbarung Gottes oder der Schleier fein foll, der
den Vater im Himmel vor unfern Augen verbirgt. Der
wachfende Atheismus läfst uns vermuthen, dafs ihn die
herkömmliche Lehre zu dem letzteren gemacht hat. Er
läfst uns vermuthen, dafs wir einer neuen Erkenntnifs
der Bedeutung Jefu bedürfen, die uns frei macht für die
wahre Erkenntnis Gottes' (5—6).

Dem von S. vertretenen Grundgedanken werden diejenigen
beipflichten müffen, welche die Zeichen der Zeit
zu deuten wiffen. An Stelle der in der katholifchen
Kirche und in den Kreifen des orthodoxen und ratio-
naliftifchen Intellectualismus gepflegten Auffaffung, welche
fich bald einer jüdifchen Trennung des Göttlichen und
Menfchlichen, bald einer heidnifchen Vermifchung beider
fchuldig macht, hat eine religiös gefchichtliche Anfchauung
zu treten, welche dem Werthe der Perfönlichkeit gerecht
wird und die Religion von jeder magifch fachlichen Be-
urtheilung frei ftellt, um fie als lebendige Gemeinfchaft
zwifchen Perfon und Perfon (S. 21 u. oft.) zu verliehen.
Anfätze zu einer folchen Umbildung der hergebrachten
religiöfen Kategorien liegen bereits in der durch die
Reformatoren eroberten Glaubenspofition, nur hat der
Proteftantismus den betretenen Pfad zu Ende zu gehen.
,Er hat das über die Gefchichte Erhabene, Gott und fein
Reich, mit voller Klarheit in feiner ewigen Herrlichkeit,
das Gefchichtliche, Chriftus und die Kirche, in feiner
gefchichtlichen Eigentümlichkeit, beide aber in ihrer
lebendigen Wechfclwirkung darzuftellen' (39). Gelingt
ihm diefe Aufgabe, fo wird er auch im Stande fein, die
zwei Gedanken zu beleben und wieder zur Geltung zu
bringen, die der Verf. den Streitenden befonders an das
Herz legt. ,Wir müffen von Chriftus wieder lernen, dafs