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Ausgabe:

1901 Nr. 13

Spalte:

356-357

Autor/Hrsg.:

Lütkemann, Heinr.

Titel/Untertitel:

D. Joachim Lütkemann 1901

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 13.

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wo man es nicht vermuthet (S. 154 Anm. 3 am Schlufs),
fieht der Verfaffer felbft fich zu der Bemerkung veran-
lafst, ,dafs der Fall vorgekommen zu fein fcheint, dafs
Landpfarrer nicht im Stande waren zu predigen', und
S. 162 Anm. 3 wird das Urtheil citirt: ,pauci curati in-
veniuntur apti ad predicandum ratione vite et sancte doc-
trine1. Die Ordensleute allerdings haben in weit höherem
Mafse, als gemeinhin angenommen wird, die Predigt
kultivirt.

Der zweite Theil (S. 72 bis 162) behandelt die ,Be-
fchaffenheit der weftfälifchen Predigten in der letzten
Zeit des Mittelalters'. Es ift eine Verbindung der for-
maliftifch-fcholaftifchen und der franziskanifchen Volkspredigt
, bis hin zu den Derbheiten und Facetien, an
denen die mittelalterliche Predigt fo reich ift. Was foll
man dazu fagen,dafs felbft ein fo hervorragender Prediger,
wie der Auguftinereremit Gottfchalk Hollen, fich dahin
verirrt, die verfchiedenen Theile eines Bockes auf die
verfchiedenen Stände und Claffen feiner Zuhörer zu vertheilen
, und dabei den Jungfrauen den Bocksgeftank zu-
zuweifen. Werthvoll war dem Referenten befonders der
Abfchnitt über ,die Stoffquellen der Predigt'; man ftaunt
über die Maffenhaftigkeit der handfchriftlichen Hilfsmittel,
die neben den allbekannten angeführt werden; aber auch
der Eindruck läfst fich nicht verwifchen, dafs die Benutzung
vieler diefer Hilfsmittel die Volkspredigt mit einem Stoff
angefüllt hat, der fchwerlich der religiöfen Erbauung
und der fittlichen Förderung hat dienen können.

Im dritten Theil, der fich über ,das geiftige
und fociale Wirken der weftfälifchen Prediger in
der letzten Zeit des M. A.' verbreitet, befchränkt fich
der Verfaffer ausfchliefslich auf die Predigtwerke des
bereits genannten Gottfchalk Hollen. Dafs die traditionelle
Kirchenlehre innegehalten ift, dürfte nicht zu
bezweifeln fein; hohes Lob verdient der Prediger auch
dafür, dafs er mit mannhaftem Wort den Kampf gegen
die allgemeinen Lafter und Unfitten, infonderheit gegen
die kirchlichen Uebelftände führte; nicht geringere Anerkennung
der Verfaffer, dafs er nichts verheimlicht und
auch hier die Ehre des Hiftorikers fich nicht antaften läfst.
Das Bild, das er von den herrfchenden Unfitten und vor
Allem von der entfetzlichen Unfittlichkeit der Kleriker,
Mönche und Nonnen entwirft, ift geradezu haarfträubend,
am fchlimmften, dafs die ftaatlichen und kirchlichen Oberen
mit böfem Beifpiel vielfach vorangingen und nichts zur
Befferung der Zuftände thaten. Dem römifch-katholifchen
Verfaffer fühlen wir es nach, wie peinlich ihm die Aufdeckung
folcher Schäden gewefen ift, und wir verargen
es ihm nicht, dafs er Auswege fucht, die Dinge in
milderem Lichte erfcheinen zu laffen. Allein wenn er
mehrere Male den Ausweg der Befchönigung in der Behauptung
einfchlägt, die genannten Uebelftände feien nur
in einzelnen Fällen hervorgetreten, und der Prediger habe
fie nur aus .Klugheit' verallgemeinert, damit die Auf-
merkfamkeit von der Sache fich nicht auf einzelne
Perfonen lenke, fo halten wir diefen Ausweg für verboten
. Mit gutem Recht citirt freilich der Verfaffer das
Wort von W. Scher er (S. 164 Anm. 1), dafs der fittliche
Charakter nicht aus den Lafterkatalogen der Satiriker
und Prediger, auch nicht aus zufällig überlieferten Schand-
thaten und Freveln, fondern aus den fittlichen Idealen
erkannt werde, die bei den Dichtern und Hiftorikern
und fonft hervortreten. Allein wir fragen ernftlich: wo
find denn die fittlichen Ideale, die einen Mafsftab für
den fittlichen Charakter des Volkes und des Klerus abgeben
könnten? In dem Capitel, das ,die Verkündigung
der chriftlichen Lehre vor dem Volke' behandelt (S. 164
bis 183), haben wir in der That nur wenig davon entdeckt
, nichts, was über die Empfehlung der Wallfahrten,
der Heiligenverehrung, des Ablaffes und der mönchifchen
Vollkommenheit hinausginge. Wohl aber fehen wir in
dem letzten Capitel (S. 206 f.), wie der Prediger in alle
politifchen und kirchlichen Verhältnifse und Mafsnahmen

eingreift, das beftehende bürgerliche Recht fchonungslofer
Kritik unterwirft und es bekämpft, um kirchlich orientirte
Rechtsfätze dem entgegenzuftellen, wie das Gewiffen des
einfachen Mannes dadurch verwirrt und unfelbftändig gemacht
, und auf ziemlich allen Gebieten kommuniftifch und
revolutionär agitirt wird. Nehmen wir das Alles zufam-
men, was uns im dritten Theile quellenmäfsig vorgeführt
wird, fo fcheint uns das Urtheil, das in dem ,Schlufs'
(S. 218 f.) über die ausfchliefslich fociale Vorausfetzung
des Erfolges der Reformation in Weftfalen, über die längft
genährte fociale Spannung, die fich durch Luthers Predigt
vorzüglich nach der religiöfen Seite hin ausgelöft habe, gefällt
wird, doch einer Modifikation zu bedürfen. — Kleinere
Verfehen find mir in der Schreibung der Namen aufgefallen;
man findet Humbert und Hubert a und de Romanis,
Bernard und Bernhard (von Clairvaux), Origines, Diek-
hoff u. f. w., ferner ift S. 160 überfehen, dafs Dungersheim
in der Unterfcheidung der drei Stile fich an
Auguftin de doctr. ehr. IV 17, bez. an Cicero: Orator 21
anfchliefst. S. 212 mit Anm. 2 ift mir unverftändlich geblieben
. — Seinen römifch-katholifchen Standpunkt verleugnet
der Verfaffer nirgends. In feinen Urtheilen fehlt
es daher felbftverftändlich nicht an Polemik gegen Auf-
faffung und Urtheile proteftantifcher Hiftoriker. Allein
wir möchten es zum Schlufs mit befonderer Genugthuung
hervorheben, dafs der Verfaffer fich grofser Gerechtigkeit
befleifsigt und in der Zurückweifung feiner Gegner eine
fehr wohlthuende Vornehmheit und Sachlichkeit fich
bewahrt.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Liitkemann, Paft. Heinr., D. Joachim Lütkemann. Sein
Leben und fein Wirken. Nach älteren Quellen dar-
geftellt. Mit einem Bildnis. Braunfchweig, H. Wollermann
, 1899. (VII, 145 S. gr. 8.) M. 2.—

Es ift höchft dankenswerth, dafs der Herr Verfaffer
beftrebt ift, das Gedächtnis feines grofsen Namensvetters,
des Roftocker Predigers und nachmaligen braunfehwei-
gifchen Generalfuperintendenten D. Joachim Lütkemann,
unter dem heutigen Theologengefchlecht zu erneuern. Der
Mann, der in der trüben Zeit des dreifsigjährigen Krieges
weiten Kreifen feines Volkes ein Tröfter gewefen ift, der
in den Tagen eines öden Formalismus wahre Herzensfrömmigkeit
gepredigt hat, verdient, dafs er nicht vergehen
wird. Zugleich ift fein Leben kirchengefchichtlich
höchft interefiant, weil es für die kleinliche Orthodoxie
des 17. Jahrhunderts einen lehrreichen Belag darbietet:
als Häretiker gebrandmarkt, mufste Lütkemann aus feinem
fegensreichen Wirkungskreife in Roftock weichen, weil er
in einer rein theoretifchen Frage der Dogmatik zur dortigen
theologifchen Facultät fich in Widerfpruch gefetzt hatte.
Es macht dem Herzog Auguft von Braunfchweig- Wolfenbüttel
alle Ehre, dafs er den Vertriebenen zum Superintendenten
feines Landes berief.

Schon früher hat der Herr Verfaffer zwei feiner Zeit
bedeutfameSchriften Lütkemanns neu herausgegeben, 1893
feinen ,Vorfchmack göttlicher Güte', 1898 feine .Anleitung
zur Katechismuslehre' (beide in Hermannsburg erfchienen).
Jetzt bietet er uns eine Biographie des trefflichen Mannes
dar. Sie ift mit anerkennenswerthem Fleifs, unter forg-
fältigfter Benutzung alles gedruckten Materials gearbeitet.
Handfchriftliche Quellen hat der Herr Verfaffer leider
nicht zu Rathe gezogen, und doch wären fie am Ende
gar nicht einmal mit grofser Mühe zu befchaffen gewefen
und hätten gewils dem Lebensbilde noch erft rechtes
Kolorit verliehen.

Jetzt ift die eigentliche Biographie Lütkemanns doch
nur dürftig ausgefallen. Der Umfang des Buches ift nur
dadurch ermöglicht, dafs zahlreiche Auszüge aus Predigten
Lütkemanns in die Darfteilung verwebt find (fie nehmen
faft die Hälfte von den in Betracht kommenden 138