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Ausgabe:

1901 Nr. 12

Spalte:

339-340

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Eugen Heinrich

Titel/Untertitel:

Friedrich Nitzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter 1901

Rezensent:

Hartung, Bruno

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 12.

34°

den Auffatz ganz unterdrückt haben. Zu beidem hat (ich
die Herausgeberin nicht für befugt erachtet, und fo fteht
diefe bewundernde Schilderung des wunderlichen Treibens,
das der verwirrte Reifeprediger in Berlin angeheilt hat,
hier wie ein merkwürdiges Denkmal der Verblendung, zu
der auch bibelfefte und gut reformatorifch gefchulte
Theologen durch jenes Jrrlicht gebracht worden find.
Verhältnifsmäfsig wenig hat fich Baur auf dem Gebiet der
Innern Miffion rednerifch und fchriftftellerifch bethätigt;
aber die zwei Gaben, die fich darauf beziehen, beweifen,
wie ihr fein Herz gehörte. Es find der heute noch lefens-
werthe Vortrag über Wiehern und die innere Miffion, berechnet
auf ein nicht fehr fortgefchrittenes Verftändnifs
der Sache und daher in feiner deutlichen und aufklärenden
Entwicklung fehr lehrreich, und der volksthümlich
gehaltene Auffatz über die verlorenen Töchter unfres
Volkes und ihre Rettung. Das umfangreichfte und wiffen-
fchaftlich werthvollfte Stück der Sammlung ift die Abhandlung
über wahre und falfche Parität; vielleicht kommen
die hier aufgeftellten Grundfätze über das Verhältnifs von
Staat und römifcher Kirche in einem andern Zeitalter noch
einmal zur Geltung.

Dresden. Dr. phil. B. Kühn.

Kalthoff, Patt. Dr. A., Friedrich Nietzsche und die Kulturprobleme
unferer Zeit. Vorträge. Berlin, Schwetfchke
& Sohn, 1900. (329 S. 8.) M. 4.— ; geb. M. 5.—

Schmitt, Dr. Eugen Heinrich, Friedrich Nietzsche an der
Grenzscheide zweier Weltalter. Verfuch einer Beleuchtung
vomStandpunkte einer neuen Weltanfchauung. Leipzig,
A. Janffen, 1898. (VII, 151 S. gr. 8.) M. 2.—

Nietzfche und immer wieder Nietzfche! Aber die
gerade feit dem Tode des Philofophen fich immer mehr
anhäufende Literatur bringt uns doch feinem Verftändnifs
näher. Zu den bedeutendften Beiträgen dazu gehört die
aus Vorträgen zufammengefetzte Schrift von Kalthoff. Es
war ein guter Gedanke, nicht in Längsfchnitten der Ent-
wickelungsperioden, fondern in Querfchnitten des Ver-
hältniffes zu den einzelnen Perfönlichkeiten und Lebensgebieten
das Wefen diefer Gedankenwelt zu beftimmen.
Der Perfönlichkeiten zunächft, denn was Richard Wagner
und Schopenhauer — es hätte noch hinzugefügt werden
follen Jakob Burckhardt — in negativem Sinn auch David
Friedrich Straufs, unter den früheren Montaigne und Stirner
ihm gewefenfind, führt doch am bellen in fein Verftändnifs
ein. Und alle die Probleme derPhilofophie,Gefchichte, Religion
, der Sprache zuletzt werden zu Prüffteinen feiner Weltanfchauung
. Kalthoff hat Recht, wenn er denen beiltimmt,
die in feinen Negationen die Bedeutung Friedrich Nietz-
fche's erkennen. Aber diefe Negationen, fie find nicht nur
folche, fondern fie find der Ausdruck eines unaufhaltfamen
Ringens nach Wahrheit und Klarheit, dem eben nichts
genüge thut. So wird er zum fchärfften Kritiker feiner
Zeit, der er wie kein anderer ihren Spiegel vorgehalten
hat, zum fchärfften Kritiker feiner eigenen Perfönlichkeit
und ihrer Entwickelungsftufen. ,Licht wird alles, was ich
faffe, Kohle alles, was ich haffe Flamme bin ich ficherlich'.
So dürfe man, fagt K. mit Recht, um Nietzfche gerecht
zu werden, nicht blofs nach einzelnen beginnenden Spuren
feines Wahnfinns fuchen, fondern man muffe den inneren
Druck verftehen, der von Anfang an und immer peinvoller
auf feinem Geiftesleben gelegen habe, und einen
Theil diefes Verhängnifses fieht K. darin, dafs er fo früh,
zu früh, als dafs er es mit feinen fittlichen und geiftigen
Kräften hätte tragen können, durch feine Berufung nach
Bafel in eine fo felbftändige, fo verantwortungsvolle Stellung
hineinkam. Ueberhaupt ift mehr als in anderen Schriften
über Nietzfche hier Verftändnifs für feine Perfönlichkeit,
für diefe reiche, in vielen Zügen doch fympathifche Perfönlichkeit
, die unter der Tragik der Zeit und ihrer felbft
zu Grunde gegangen ift. Gehört zu diefer Tragik nicht

auch dies — heben wir mit K. hervor — dafs er, dem
keine Weltanfchauung recht war, vor deffen Kritik nichts
ficher war, zuletzt bei der Annahme der ,Wiederkunft des
Gleichen' anlangt, der allerunmöglichften und unhaltbarften
von allen, die an Abenteuerlichkeit alle die Metem-
pfychofen vergangener und ferner Denker weit hinter
fich läßt?

Wenn Kalthoff der entfehiedene, wenn auch wohlwollende
und verftändnifsvolle Kritiker, fo ift Schmitt
der begeifterte Verehrer des ,Propheten'; wenn er nur bei
dem Styliften mehr in die Schule gegangen wäre! Durch
ihn wurde die alte Weltanfchauung, die nicht nur die des
Chriftenthums, fondern auch die der Humanität in bisherigem
Sinne ift, endgültig abgethan. Der Schatten des
Socrates weicht nun völlig, Dionyfos ,der Paraklet' naht.
Ich bekenne allerdings, dafs ich dem bacchantifchen Fluge
der Gedanken Schmitt'snichtimmer habe folgen können, wie
er alles hinter fich läfst, auch die moniftifchen und materia-
liftifchen Syfteme der Gegenwart, auch Nietzfche felbft, der
den Zwiefpalt nicht ganz überwunden habe, dem Fluge ,in
dasReich des Geiftes, in welchem fich derMenfch zumSelbft-
bevvufstfein feiner Allheit oder, was dasfelbe heifst, feiner
Geiftigkeit erhebt'; ,im eigenen Leben das Ich aller
Wefen fchaut, ohne doch das Ich als ureigene Manife-
ftation feines Alllebens zu verlieren'. Wer aber ift der
Träger diefer Weltanfchauung? Chriftus. Daraus wird
Nietzfche der fchwerfte Vorwurf gemacht, dafs er für ihn
kein Verftändnifs gehabt habe. ,In Chrifto liegen verborgen
alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnifs,
fagt Paulus, aber es war das Verhängnifs der chriftlichen
Welt, dafs fie verborgen lagen'. Wir erfahren bei diefer
Gelegenheit, Nietzfche felbft habe in den letzten Wochen
mit dem Gedanken gefpielt, als der einzige und echte
Nachahmer Chrifti aufzutreten. Wer hat das nicht alles
gethan! Aber Verf. erkennt an, Nietzfche habe Chriftum
unmöglich begreifen können ,in der unbefchreiblichen
Hoheit feiner Allanfchauung, die das Mächtigfte ift, weil
fie das Milderte ift, die das Weltgericht ift, weil fie das
unendliche Erbarmen ift über eine Welt, die in dem Jammer
1 der engen endlichen Selbftfucht verfunken ift'. So erhebt
j fich über den Wirbel der Gedanken, die fich an den
Namen Nietzfche anknüpfen, doch wieder das Bild der
leuchtenden Perfönlichkeit Jefu. Läfst fie uns hoffen, dafs
I fich an diefem Orientirungspunkt auch die Allermodern-
ften zur Wahrheit und Klarheit hindurchfinden werden?

Leipzig. Härtung.
Mittheilung.

In der Anzeige des von Kl oftermann herausgegebenen
dritten Bandes der Werke des Origenes (Nr. 11
diefer Zeitung) wird die Fortlaffung der beiden nur

| lateinifch erhaltenen Jeremias-Homilien als Schlechterdings
nicht zu entfchuldigen', der Nicht-Abdruck des latei-
nifchen Textes der griechifch und lateinifch erhaltenen
12 Homilien als ,ein fehr bedauerlicher Mifsgriff' bezeichnet
. Hierauf bemerke ich Folgendes: 1. die beiden
nur lateinifch erhaltenen Homilien werden zufammen mit
den übrigen nur lateinifch auf uns gekommenen exe-
getifchen Werken des Origenes in die Sammlung auf-

! genommen werden. Dafs diefe Gruppe einheitlich bearbeitet
und fich daher noch lange verzögern wird, bedarf
keiner Entfchuldigung. 2. In welchen Fällen Verfionen
im Originale überlieferter Stücke neben den Originalen
abzudrucken find, darüber werden die Meinungen auch
unter Sachkennern ftets getheilt fein. Am erwünfehteften
wäre es gewifs, alle Verfionen zu drucken. Da uns

] das nur in Ausnahmefällen möglich ift, müffen wir uns
in der Regel darauf befchränken, die Verfionen nur für
den Apparat heranzuziehen.

Der Gefchäftsführer
der akademifchen Kirchenväter-Commiffion.
A. Harnack.