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Ausgabe:

1901 Nr. 12

Spalte:

321-323

Autor/Hrsg.:

Jülicher, Adolf

Titel/Untertitel:

Einleitung in das Neue Testament.(Grundriss der theologischen Wissenschaften. III. Teil. 1. Band.) 1901

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 12.

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apoftolifchen Character derfelben in Zeigendem Maafse
gerecht wird und in der Verwerfung des zweiten Petrusbriefes
als des einzigen Beifpiels einer Fälfchung im
N. T. gipfelt. Enger wird die Fühlung, welche der
Verf. bei aller confervativen Neigung mit dem Gang
der deutfchen Kritik bewahrt, im achten, dem fynoptifchen
Problem gewidmeten Kapitel, einer lichtvollen und überzeugenden
Begründung der Zwei-Quellen-Theorie als dem
foliden Ergebnifse der bisherigen Forfchung. Darüber
hinaus greift im neunten Kapitel die Kritik der einzelnen
Evangelien, welche als Frucht eines ziemlich zufammen-
gefetzten und phafenreichen litterarifchen Procefses er-
l'cheinen: Matthäus in erfter (= aramäifche Logia), zweiter
(griechifch mit erzählender Erweiterung), dritter (Aufnahme
des Marcusfloffes und Redaction) Geftalt; Marcus
theils abhängig, theils Quelle; Lucas das Werk eines
helleniftifchen Juden, welcher im Evangelium den Marcus,
in der Apoftelgefchichte den Reifebericht des hiftorifchen
Lucas mit älterem Quellenmaterial zufammengearbeitet
hat. Während der Verf. bei der Auffaffung der Apoftelgefchichte
durchaus den Standpunkt der kritifchen Schule
Deutfchlands einnimmt, conftruirt er für die Synoptiker
ein befonders vom dritten unter ihnen ausgebeutetes Ur-
evangelium (S. 211 f.), mit welchen ich mich weniger befreunden
kann. Andere Eigenthümlichkeiten betreffen
das apokalyptifche Element im Epheferbrief (S. 119 f.),
die gegen den Hebräerbrief gerichtete Spitze des Jacobus-
briefes (S. 164), die Abhängigkeit fowohl der, im zehnten
Kapitel als apoftolifches Werk erwiefenen, Apokalypfe
als des vierten Evangeliums vom Epheferbrief (S. 251).
Ueberhaupt gehört die im achten Kapitel behandelte
johanneifche Frage zu den intereffanteften Detailunter-
fuchungen unferes Werkes. Was von guter Kunde im
Evangelium enthalten ift, geht auf den Apoftel zurück;
von diefem ift aber zu unterfcheiden der Verfaffer der
Chriftusreden und der Briefe, und von Letzterem wieder
der Redactor, auf deffen Rechnung die mifsverftändlichen
Deutungen von Chriftusworten, die Umftellungen und der
Anhang kommen.

Strafsburg iE. H. Holtzmann.

Jülicher, Prof. D. Adolf, Einleitung in das Neue Testament.

Dritte und vierte Auflage. (Grundriss der theologischen
Wissenschaften. III. Teil. I. Band.) Tübingen, J. C. B.
Mohr, 1901. (XVI, 504 S. gr. 8.) M. 8.—; geb. M. 9 —

Gegenüber dem früheren Druck (vgl. darüber Schürer
in diefer Zeitfchrift Jahrg. 1895, Sp. 70—72) ift der jetzige
um gerade 100 Seiten angewachsen. Da Anlage und
Eintheilung durchaus diefelben geblieben find, ift der
gröfsere Umfang fast durchweg auf Vermehrung der
Literaturangaben und damit zufammenhängende Berück-
fichtigung und Befprechung neuerer Veröffentlichungen
von Harnack, Baldensperger u. A. zurückzuführen. Zuerft
gilt dies natürlich von Zahn, welchem manche ausdrückliche
(gleich S. 18) oder auch ftillfchweigende Polemik
(z. B. S. 134, 153, 173) gewidmet ilt. Beträchtliche Erweiterungen
haben auf diefem Wege namentlich die
Abfchnitte über Hebräerbrief, Apokalypfe, Matthäus,
Apoftelgefchichte und ganz befonders der über die johanneifche
Frage erfahren. Hier und auch fonfl vielfach ift auf
folche Weife die neue Auflage recht eigentlich .actuell'
geworden, und wäre zu wünlchen, dafs durch ein perio-
difches, jedenfalls recht häufiges Wiedererfcheinen diefes
Grundrifses die Lernenden ftets über die neu fich geftal-
tende Lage, über den Befund der jeweiligen Gegenwart
Urientirung finden könnten. Von felbft verfteht es fich,
dafs durch eine derartige zeitgemäfse Erneuerung nicht
blos Weiterungen und Zufätze, fondern auch mancherlei
Abftriche bedingt find, an welchen der Verf. es in der
That nicht hat fehlen laffen. Verhältnifsmäfsig feiten
und nur auf Nebenpunkten hat er frühere Behauptungen

modificirt oder zurückgenommen, wie wenn eine Beziehung
von 1. Tim. 6,20 auf Marcion's Antithefen früher S. 125
möglich, jetzt S. 151 unmöglich erfcheint; wenn S. 182
,der Bruder des Jakobus' in der Adreffe des Judasbriefes
nicht mehr Zufatz ift, was früher S. 147 eher denkbar
war; wenn S. 180 der Leferkreis diefes Briefes abweichend
von der früheren Darftellung S. 145 vielleicht locale Begrenzung
erlaubt; wenn das 4. Evangelium früher S. 259
,bald nach 100' S. 250 ,höchftens ca. 115', jetzt S. 317
um 100—110 entftanden ift. Dagegen darf man ungeachtet
des neckifchen Anfcheins einen Widerfpruch
nicht darin finden, dafs diefes Evangelium früher S. 258
einfach ,als eine philofophifche Dichtung mit religiöfer
Tendenz' erfchien, während jetzt S. 335 ,als überlebte
Einfeitigkeit' (einftweilen erfchien freilich noch Kreyen-
bühl) verworfen wird ,die Anfchauung, dafs Joh. als eine
philofophifche Dichtung veröffentlicht worden wäre von
einem afiatifchen Theologen, der ebenfo gut feine Meffiade
auch für fich hätte behalten können'. Die ganze folgende
Ausführung der ,Nothlage', aus welcher Johannes geboren
ift, foll eben nur der Anfchauung wehren, als habe das
Werk, wie es etwa bei Ritfehl der Fall war, als eine
vorzugsweife individuelle Bildung einen unentrathfamen
und wirkfamen Factor in der Entwicklung der Kirche
niemals gebildet. Vielmehr giebt es fich als ,entfchloffenfte
Zurichtung der evangelifchen Gefchichte zum Zweck der
Abwehr jüdifcher Einwände gegen das bisherige Evan •
gelium' (S. 337), und nothwendige Vorausfetzung zu feinem
Verttändnifs ift, ,dafs die beiden monotheiftifchen Religionen
mit ihrem ftarken Miffionstrieb definitiv von einander
getrennt, fich öffentlich und gerade im Intereffe
ihrer Miffion den Rang ftreitig zu machen fuchen' (S. 338).
Die Ausführung diefes Themas gehört zu den bemerkenswertheften
Beiträgen, welche die unmittelbare Gegenwart
zur Löfung der johanneifchen Frage gebracht hat. Wie
hier fo fchwebt dem Verf. auch in anderen Fällen, z. B.
bezüglich der Paftoralbriefe, des erften Petrus- und des
Hebräerbriefes, jetzt noch mehr als zuvor das, was Baur
,pofitive Kritik' genannt hat, als eigentliches Ziel der
Unterfuchung vor. Demgemäfs haben auch die biblifch-
theologifchen Abfchnitte an mehreren Stellen noch eingehendere
Behandlung erfahren. Die Selbftändigkeit der
ganzen Arbeit giebt fich nicht zum wenigften auch im
Detail der beigebrachten Beifpiele für Gedankenbildung
und Sprachgebrauch der einzelnen Autoren zu erkennen.
Auch wo folche Belege aus den gröfseren Lehrbüchern
in Hülle und Fülle zu entnehmen gewefen wären, hat
fie der Verf. doch immer erkennbar neu aufgefucht und
ausgewählt.

Weniger Veränderungen hat die Gefchichte des Kanons
erfahren — übrigens eine Leiftung, die um fo mehr Anerkennung
verdient, als fie einem für den hauptfächlichften
Leferkreis des ,Grundriffes' nicht eben fehr anziehenden
und fympathifchen Stoffe gilt, deffen Sprödigkeit diefe
immer intereffant und oft geradezu unterhaltende Darfteilung
in meifterlicher Weife zu überwinden gewufst hat.
Trefflichen Auffchlufs giebt der Verf. namentlich über
die Motive, welche bei Bildung und Abfchlufs des
Kanons wirkfam waren. An neuer Zufuhr fehlt es auch
hier keineswegs; vgl. z. B. S. 425 die Mittheilungen über
Hippolytus und Novatianus mit S. 333 des alten Textes.
Neu hinzugekommen sind die zweckmäfsigen Verweile
auf das urkundliche Material in Preufchen's verdienft-
vollen Analecta 1893. Nicht minder angemeffen dem
nächlten Lehrzwecke ift die, natürlich nur mäfsig erweiterte
, Textgefchichte bearbeitet. Am Schluffe finden
fich die für den Geilt des Ganzen bezeichnenden Worte:
,In einer Periode, wo man im Zerfchneiden und Zufammen-
würfeln das Geheimnifs der höheren Kritik am N. T. gefunden
haben möchte, droht die Gefahr, dafs dem Einfall
und der Streicheluft auch in der niederen Kritik die
Palme gereicht wird' (S. 500 f.). So führen allenthalben in
diefem erfreulichen Buche der gefunde Menfchenverftand,