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Ausgabe:

1901 Nr. 11

Spalte:

293-297

Autor/Hrsg.:

Barth, Fritz

Titel/Untertitel:

Die Hauptprobleme des Lebens Jesu. Eine geschichtliche Untersuchung 1901

Rezensent:

Weiffenbach, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. II.

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einzelnen neuteftamentlichen Schriften bei der ftaunens-
werthen Literaturkenntnifs des Verf., wie fie bei uns nur
etwa Holtzmann befitzt, manches Neue bieten.

Und noch in anderer Beziehung verdient M.'s Buch
allgemeine Beachtung: feine Ueberfetzung des Neuen
Teftaments ift m. W. die erfte, die die rhetorifche Anordnung
zahlreicher Abfchnitte fchon im Druck hervortreten
läfst. M. geht darin gewifs manchmal zu weit;
aber dafs mehr als bisher darauf geachtet werden mufs,
habe ich fchon bei Befprechung der Weifs'fchen Beiträge
zur paulinifchen Rhetorik (Jahrg. 1898, Sp. 240f.) hervorgehoben
. U. ebenfo follte die Art, wie die neuteftamentlichen
Autoren ihre Schriften difponirten und ihre Gedanken
entwickelten, noch viel gründlicher als bisher unter-
fucht werden: was M. für diefe Frage giebt, ift doch z. t.
ebenfo ungenügend, wir das von andern Gebotene.

Den Schlufs feines Buchs bildet endlich eine ausführliche
Appendix on ihe hypotheses of Interpolation, compi-
lalion, and pseudonymity, in relation to the NT literaturc.
WasM. hier über das allgemeine Recht diefer Hypothefen
fagt, ift einfach muftergiltig; im einzelnen wird man natürlich
manchmal anderer Meinung fein, fei es nun in kritifcher
oder konfervativer Richtung. Ich z. B. kann mich auch
jetzt noch nicht überzeugen, dafs I. Th. 2, 16b oder Rom.
15, 20b fpäter fein müfste, und habe auch meine früheren
Bedenken gegen die Echtheit von Gal. 2, 18, fowie die
Einheitlichkeit des fechften Capitals (über das M. meine
Meinung ungenau wiedergiebt) und des Philipperbriefs aufgegeben
. Ebenfo ftehe ich, wie fchon anderwärts ausgesprochen
, nicht mehr durchaus für meine Quellen-
fcheidung in der Apoftelgefchichte ein; doch würde eine
einigermafsen genaue Darlegung meiner jetzigen Anficht
hier viel zu weit führen. Und noch weniger kann ich M.'s
Aufftellungenüber die übrigen neuteftamentlichen Schriften
hier beurtheilen oder auch nur wiedergeben; fie verdienen
aber nicht nur in England, fondern auch bei uns die auf-
merkfamfte Berückfichtigung.

Und fo hat das Gefammturtheil über fein Buch doch
fchliefslich wefentlich anders zu lauten, als es nach den
einleitenden Bemerkungen vielleicht den Anfchein hatte.
Es fteckt in diefen 726 enggedruckten Seiten eine Riefenarbeit
, die hoffentlich auch recht vielen anderen zu gute
kommt. Das Buch verdient es, neben anderen der tägliche
Begleiter aller derer zu werden, die auf dem Gebiete
des neuen Teftaments zu arbeiten haben.

Halle a. S. Carl Clemen.

Barth, Lic. Prof. Fritz, Die Hauptprobleme des Lebens Jesu.

Eine gefchichtliche Unterfuchung. Gütersloh,C. Bertelsmann
, 1899. (VII, 280 S. gr. 8.) M. 4.—; geb. M. 4.80

Wir haben es hier, trotz mancherlei Anfätze zu dog-
matifcher und fpeculativer Betrachtung (vgl. S. 113 fT.,
S. 205fr., S. 219fr., S. 257 fr.), mit einer ,gefchichtlichen
Unterfuchung' zu thun. Aus diefem Grunde läfst B. in
einer .Einleitung' (S. 1—31) eine kurze Befprechung der
»Quellen des Lebens Jefu' vorangehen. In der fynop-
tifchen Frage ift B.— was nur unfere Billigung haben
kann — Vertreter der bekannten Zwei-Quellen-Theorie:
nur dafs er — was uns unmöglich erfcheint — die ,Ge-
fchichten-Quelle' mit dem kanonifchen Mk.-Ev. (dem
doch eine Anzahl fecundärer Züge nicht fehlen) iden-
tifch fetzt (S. 12 f.) und, wie fchon Frühere, für Lukas
,noch mehrere andere fchriftliche Sonderquellen
(z- B. aufser cp. 1. f eine ,Gleichnifsfammlung') ftatuirt
(S. 12. 17). Gehen nun alfo auch alle 3 Syn. auf .apofto-
lifche oder fonftige alte Quellen' zurück, fo ift doch
.keiner — _ felbft Apoftel und Augenzeuge ge-
wefen'(S. 18). Weniger befriedigt des Verf.'s Stellung zum
4. Evangelium. Ohne fich und den Lefern die fchwer-
wiegenden Bedenken gegen die Apoftolicität diefer
Schrift zu verhehlen, hilft fich B. doch fchliefslich

mit den bekannten, aber nachgerade etwas verbraucht
und fchablonenhaft gewordenen Mafsftäben
[Stiliftifche Fortentwickelung des Zebedaiden, Loslö-
fung von der jüdifchen Begriffswelt und ftetige Erweiterung
des religiöfen Horizontes, auffallende (?) Ge-
danken-Uebereinftimmung zwifchen 4. Ev. und der ,jo-
hanneifchen' Apokalypfe u. f. f. (vgl. S. 24—26)] aus
den Schwierigkeiten heraus und zur Johannes-Autorfchaft
durch (S. 29). Ueberzeugend ift das aber nicht;
und nur in einem ideal-fpeculativen, aber nicht im ge-
fchichtlichen Sinne kann das 4. Ev. ,eine unfchätz-
bare Ergänzung zu den Synoptikern' (S. 29) genannt
werden.

B.'s Unterfuchung zerfällt in 6 Abfchnitte: 1. die
Predigt Jefu vom Reiche Gottes (S. 32—67), 2. Jefus
und das Alte Teftament (S. 68—102), 3. die Wunder im
Leben Jefu (S. 103—142), 4. die Weisfagung Jefu von
feiner Wiederkunft (S. 143—176), 5. der Tod und die
Auferftehung Jefu (S. 177—221), 6. das Selbftbewufstfein
Jefu (S. 222—274), woran fich noch ein kurzer .Schlufs'
(S. 275—278) anfügt.

Schon aus diefer Ueberficht ergiebt fich, dafs der
Verf. in der That die entfcheidendften .Probleme' aus
dem Leben Jefu herausgegriffen hat; und man kann
ihm, auch wo man kräftig widerfprechen mufs, das
Zeugnifs nicht vertagen, dafs er fie mit tiefdringender
Ueberlegung, wohlthuendem fittlichen Ernft und in einem
von leidenfchaftlicher Erregung und rabics theologica
freien, echt wiffenfchaftlichen und doch pofitiven Geifte
behandelt hat.

Als befonders gelungen erfcheint dem Ref. gleich
die Auseinanderfetzung B.'s über das .Reich Gottes'
im 1. Abfchnitt. Nach allen Seiten wird hier diefe
Grundidee Jefu gefchickt entfaltet; die a. t. Wurzeln, die
Wefensbefchaffenheit, die unerläfslichen Vorausfetzungen
derfelben werden nach dem Sinn Jefu gefchichtlich
dargelegt. Ob indeffen bezüglich der Vollendung des
Reichs Schlankweg getagt werden könne, Jefus felbft
werde fie herbeiführen, .indem er das Gericht über
die Menfchen hält und entfcheidet, v/er in das volle
Reich eingeht, und wer in die Gehenna' (S. 56): darüber
geblattet fich Ref. noch heute diefelben Zweifel, die er
in feinem ,Wiederkunftsgedanken Jefu' (1873), S. 325—339
und 340—358, geltend gemacht hat. Sehr intereffant ift
die abfchliefsende Betrachtung B.'s (S. 58—67), die einen
lehrreichen Ueberblick über die Frage: Was wollte
Jef. eigentlich mit feiner Reichspredigt? giebt
und ein pittoreskes Bild der mannigfachften Antworten
darbietet. Der Verf. felbft läfst — unter nachdrücklicher
Abweifung der Annahme, die origines des Reichsgedankens
lägen in der Apokalyptik — Jefum den-
felben den Propheten und Pfalmen entlehnen und mit
dem Reichthum feiner perfönlichen Gottesverehrung, mit
dem neuen Lebensinhalt in der Gemeinfchaft mit
Gott (S. 65) ausfüllen. Eine .Antinomie' in der Reichspredigt
Jefu erkennt B. nicht an. Das unvergleichliche
Gottesbewufstfein und die einzigartige Perfönlichkeit
Jefu, ,in der Gott felbft fich uns gegeben' (S. 67), verbürgen
ihre Einheit und garantiren die Synthefe einer-
feits der .intenfivften religiös-fittlichen Innerlichkeit'
der göttlichen Königsherrfchaft, andererfeits ihrer .vollen
extenfiven Verwirklichung in der Zukunft' (S. 66. 67).

Auch in dem viel Treffliches bietenden 2. Abfchnitt
(Jef. u. das A. T.) nimmt der Verf. einen ebenfo befon-
nenen wie weitherzigen Standpunkt ein. Nicht als Theologe
, mahnt er, fondern als gottinniger Lefer ift Jef.
mit dem A. T. umgegangen; und er las die Schrift als
Urkunde der ,Selbftbezeugung des lebendigen Gottes*
(S. 75), mit feinem Verftändnifs für die Stimmung und
den religiöfen Gehalt jeder Stelle (S. 77). .Kleine Gedächt-
nifs-Irrthümer' und rein .traditionell überkommene
Angaben über die biblifchen Autoren', auch der ihm wie
feiner Zeit überhaupt noch eignende Mangel einer .Unter-