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Ausgabe:

1901 Nr. 10

Spalte:

276

Autor/Hrsg.:

Wagner, H.

Titel/Untertitel:

Das Geistesleben in seiner Sichtbarkeit 1901

Rezensent:

Ritschl, Otto

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275

Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 10.

276

Kaisers ,feliger Gefchichte' befchränkt (ich darnach auf
den Satz: Wie fie in aber befragt und examiniret haben
etc. bis: ,lautet alfo' (a. a. O. S. 176), fodann in dem
Verhör auf die Worte: ,Die Artikel jetzt verlefen' etc.
bis ,Handfchrift ausweift' (a. a. O. S. 198), die aber vielleicht
auch noch von Erasmus Kaifer flammen, und auf
die Schlufsworte des Teftaments: ,Das andere betrifft
zeitlich Gut etc.' (f. auch Roth S. 47, Anm. 21) — abge-
fehen von der Umrahmung in Einleitung und Schlufs-
wort und den Ueberfchriften der Aktenftücke. Zu be
merken ift noch, dafs der Brief Kaifers bei Walch. S. 203 ff.
m. E. fichtlich unter dem Eindruck des Lutherfchen
Troftfchreibens an ihn verfafst ift. Das zeigt die Wiederaufnahme
des von Luther gebrauchten Wortes vom
,alten Menfchen' und die Bezugnahme auf Rom. 8 in
beiden Briefen (V. 31 bei Luther, V. 38 bei Kaifer),
wie auch die Beftimmung über (weitere) von Wittenberg
zu erwartende Briefe. Der Brief wäre dann etwa auf
Anfang Juni, nicht mit R. Mitte Juli anzufetzen.

2. Arnolds Werk ,Die Vertreibung der Salzburger
Proteftanten und ihre Aufnahme bei den Glaubensge-
noffen' (Leipzig, Diederichs 1900) war ausdrücklich als
,kulturgefchichtliches Zeitbild' gedacht. Die Ergänzung
nach der rein hiftorifchen und religionsgefchicht-
lichen Seite hin, in jenem Buche fchon angekündigt,
erfcheint nunmehr in ihrem erften Theile d. h. bis zum
Erlafs des Emigrationspatentes vom 31. Oktober 1731.
Ein erfter Abfchnitt fchildert die ,konfeffionellen Stimmungen
und Zuftände in Deutfchland zur Zeit der Thron-
befteigung des Erzbifchofs Firmian'. Das Ergebnis ift
diefes, dafs ,auswärtige Einflüffe damals eine evan-
gelifche Bewegung im Salzburgifchen unmöglich hätten
hervorrufen können' (S. 18), theils wegen der beginnenden
Gleichgültigkeit in religiöfen Dingen, theils wegen
der gefchickten Diplomatie des falzburgifchen Gefandten
in Regensburg Sebaftian Anton v. Zillerberg, der den
proteftantifchen Mächten Sand in die Augen zu ftreuen
verftand. Somit ift die Bewegung eine inner-falzburgi-
fche — wenn fie von Nürnberg und Augsburg Unter-
ftützung erhielt, fo ging diefelbe von vertriebenen Salzburgern
aus — und zwar eine wefentlich religiofe,
nicht foziale. Des Näheren ift die Religiofität allem
Zweifel (und felbft ein Parifet gehört hier zu den Zweiflern)
zum Trotz evangelifch; aber es ift ein ganz eigenartiges
evangelifches Chriftentum — .fchaitbergerifch' wäre
der befte Ausdruck (vgl, S. 19), da die Volksreligiofität
von den Erbauungsfchriften des Emigranten Schaitberger
lebt. Lutherifche Gedanken, wie Predigt des reinen
Gotteswortes und fchriftgemäfse Sakramentsverwaltung,
Forderung des Laienkelches u. a. find im Volke lebendig
und eine ftarke Abneigung gegen die Aufdringlichkeiten
des katholifchen Sinnen-Chriftenthums, aber daneben
ift ein ftarker myftifch-pietiftifcher Einfchlag bemerkbar
. Er paralyfiert jene Abneigung und läfst die
Bauern z. B. an .Kirchen und Kreuzgängen' ruhig theil-
nehmen. Hoffentlich geht Arnold im zweiten Theile
noch näher auf diefen Myftizismus ein und fucht die
Linien nach vorwärts und rückwärts zu ziehen; auch
das im grofsen Werke Gefagte ift zu kurz. Woher hat
Schaitberger feine Myftik? Es werden wohl mehrere
Linien fich kreuzen, Staupitzfche Myftik (leine Schriften
wurden von den Salzburgern gelefen), katholifche Vulgär-
myftik und daneben Spener-Franckefcher Pietismus.
Jedenfalls begreift fich von der Myftik aus die Anficht
von dem katholifchen Charakter des Salzburger
Chriftenthums. Es wird von da her auch verftändlich,
dafs trotz des evangelifchen Grundtons das ,Nikodemus-
Lutherthum des Erzftiftes allmählich dahingeftorben
wäre, wenn man die Erwachfenen in Ruhe gelaffen,
fremde Einflüffe fern gehalten und die Jugend in klerikalen
Schulen erzogen hätte' (S. 25). Statt deffen aber
ift von katholifcher Seite der Bruch provoziert worden
(Kap. 2), und zwar ift der eigentliche Leiter der Gegenreformation
nicht fowohl der Erzbifchof als vielmehr der
Hofkanzler Criftani von Rall, und neben ihm die Jefuiten.
Rall ift auch der Leiter der Unterfuchungscommiffion
gewefen, mit deren z. T. perfiden Machinationen (ich
das letzte Kapitel befchäftigt. Ihnen gegenüber wird
der fogen. Salzbund gefchloffen, Deputationen nach
Regensburg gefandt, fodafs in Wien Beforgnifs entftand,
wo man um der pragmatifchen Sanktion willen offene
Brüskirung fcheute aus Furcht vor den proteftantifchen
Mächten im Reich. Aber den Erzbifchof kümmerte die
kaiferliche Milde wenig, am liebften hätte man auf dieler
Seite die Salzburger auch des kraft des weftfälifchen
Friedens ihnen zuftehenden beneficium emigrandi beraubt
. —

Im Einzelnen enthält die Darlegung A's eine Fülle
wertvoller Details für die Gefchichte des Ketzerproceffes
nicht minder wie für die allgemeine Kirchengeichichte oder
auch die Statiftik (vgl. die Tabelle S. 73). Für die Anmerkungen
wären fett gedruckte Ziffern für die fortlaufenden
Nummern (S. 91 ff.) erwünfcht, um die im
Text angegebene Nummer fchneller finden zu können.

Giefsen. W. Köhler.

Wagner, Pfr. IL, Das Geistesleben in seiner Sichtbarkeit.

Leipzig, A. Deichert, 1900. (X, 106 S. 8.) M. 1.80

Der Verf. bemerkt mit Recht, dafs die von ihm in
vorliegender Schrift gebotenen .Abhandlungen, da fie
fich mehr in der Form der Meditation bewegen, nicht
den Charakter ftreng wiffenfchaftlicher Ausführungen be-
anfpruchen'. Befonders ift es ihm darum zu thun, eine
gewiffe Gefetzmäfsigkeit im Geiftesleben, d. h. im religiös-
littlichen Leben aufzuzeigen. Die hierher gehörigen Grundgedanken
werden hauptfächlich im dritten Auffatz über
die ,Hemmungen des Lebens' entwickelt. Dabei hat der
Verf. reale Beziehungen der im fittlich-religiöfen Leben
fich gegenfeitig theils hemmenden, theils fördernden Kräfte
im Auge, die gewifs und namentlich gerade auch von
Seiten der praktifchen Geiftlichen eine befondere Beachtung
verdienen. In der Durchführung feiner Gedanken
tritt es nur leider fehr deutlich hervor, dafs die Begriffe,
mit denen der Verf. arbeitet, viel zu wenig fcharf ausgeprägt
und beftimmt erfafst find. Dies betrifft fowohl
die theologifchen Begriffe, wie Glaube, Liebe, Rechtfertigung
u. A., als auch die fonft verwertheten allgemeinen
wiffenfchaftlichen Begriffe. Aber ohne fcharfes
und genaues Durchdenken läfst fich gerade eine Betrachtungsweife
, wie fie dem Verf. vorfchwebt, nicht
fruchtbar geftalten. Wie ungenau diefer gelegentlich
verfährt, zeige folgendes Beifpiel. S. 78 f. macht er den
Satz von dem ausgefchloffenen Dritten dahin geltend,
dafs es nur gute oder böfe Thaten giebt. Danach fcheint
er eine richtige Vorftellung von dem Sinne jener logi-
fchen Regel zu haben. S. 59 dagegen fagt er: ,Der
Grundfatz des ausgefchloffenen Dritten duldet neben der
Liebe zu Gott keine andere Liebe, nicht die zur

Welt.......und auch nicht die zu dem eigenen (fleifch-

lichen) Ich'. Hier aber ift gar kein Drittes zu Gunften
eines Erften und Zweiten ausgefchloffen, wie in dem
erften Falle, fondern ein Zweites und Drittes lediglich
zu Gunften eines Erften. Auf diefen Fall wäre alfo wohl
das erfte Gebot anwendbar gewefen, das ja auch Luther
und Melanchthon fo oft zum Erweife von dergleichen
Behauptungen heranziehen. Auf den Satz vom ausgefchloffenen
Dritten jedoch zurückzugreifen, war gedankenlos
. Auch die lediglich erbauliche Art des Verf.'s
die hl. Schrift auszubeuten, deren Berechtigung in der
Predigt- und Andachtsliteratur nicht zu beftreiten ift,
war nicht geeignet, die Arbeit an den von dem Verf.
berührten Problemen zu begünftigen, da diefe vielmehr
ein dianoetifches Verfahren von ftrengfter Methode erfordert
hätten.

Bonn. O. Ritfchl.