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Ausgabe:

1901 Nr. 10

Spalte:

264-266

Autor/Hrsg.:

Monnier, Jean

Titel/Untertitel:

La première épître de l’apôtre Pierre 1901

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologifche Literaturzeitung. 1901. Nr. 10.

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vom Erbarmen Gottes über den Sünder, von der göttlichen
Gnade, der gegenüber der Menfch Nichts ift, fehlt
bei Jefus fo gut wie völlig. Der Gottesbegriff Jefu ift
harmonifcher, ruhiger, menfchlicher, als der des Paulus.
Man vergleiche das Wort von dem Gott, der feine
Sonne Rheinen läfst über Böfe und Gute, und das andere
von dem, der Gefäfse der Gnade und des Zornes
fchafft. Auch die Idee der Gotteskindfchaft hat bei
Beiden ein sehr anderes Geficht. Für Jefus ift das
Recht, fich als Kind Gottes betrachten zu dürfen, ein
Glück, das uns umgiebt, wie der Sonnenfchein, und das
man nur zu ergreifen braucht, für Paulus ift es eine
harterkämpfte Errungenfchaft, ein neuangebrochenes
Licht nach tiefer Finfternifs. In diefem Zufammenhang
ift auch die Bezeichnung Gottes als Vaters Jefu Chrifti
zu verliehen, die mit Mtth. 1127 nur in einen äufserft
künftlichen Zufammenhang gebracht werden kann. Der
Gott, der durch die Erhöhung Chriftum zum Sohne
Gottes einfetzt, erweift fich damit als fein Vater, wie er
unfer Vater fein will, indem er auch uns wie ihn zum Erbe
feiner Herrlichkeit beftimmt. In der Efchatologie läfst
fich natürlich viel eher ein gemeinfamer Boden zwifchen
Paulus und Jefus erkennen. Als deutliche Kennzeichen
des Geiftes Jefu — fo drückt der Verf. fich vorfichtig aus
— werden die Ausfcheidung des politifchen Momentes
und der finnlich-eudämoniftifchen Träume, die Individuali-
fierung und Concentrierung auf die beiden für den Einzelnen
wichtigften Dinge: Auferftehung und Gericht bezeichnet.

Das theologifche Hauptintereffe unferes Verf. con-
centriert fich nun aber auf den Nachweis, dafs im Paulinismus
trotz feiner ftark efchatologifchen, fupranaturalen
Gefamthaltung eine Fülle von Tendenzen vorhanden
feien, die Heilsanfchauung ihrer efchatologifchen Form
zu entkleiden, fie umzubiegen, umzudeuten in die allgemeingültige
Vorftellung von einem gegenwärtigen
Heilsgute, das nicht nur mit der Hoffnung, fondern mit
dem Glauben ergriffen werden und in dem fittlichen
Handeln der Liebe bewährt und erhalten werden kann.
Auch hier wirkt bei dem Verf. offenbar ein praktifch-
dogmatifches Motiv mit. Damit ift nicht gefügt, dafs
diefer Theil feiner Anfchauungen hiftorifch unbegründet
fei. Niemand kann verkennen, insbefondere nach der
Fülle von Belegen, die diefes Buch bietet, dafs bei Paulus
Anfätze — und mehr als Anfätze — zu einer Ueber-
windung der jüdifch-meffianifchen Form der Heilsanfchauung
vorhanden find. Der Grund hierfür ift nicht
nur in der Verkündigung Jefu, fondern auch im Hellenismus
gegeben. Dem Nachweife, dafs die echatologifche
Grundrichtung den Paulinismus doch nicht ganz be-
herrfcht habe, fondern dafs er auch eine Menge Elemente
in fich berge, welche, abgefehen von der endzeitlichen
Stimmung, allgemeine religiöfe Bedeutung haben, dienen
das 3. und 4. Kapitel. Der feinen, reichen, vielfeitigen
Schilderung der ,religiöfen Grundftimmung' kann ich
faft in Allem dankbar zuftimmen. Wie hier die Hoffnung
nicht als weitabgewandte, träumerifche Sehnfucht,
fondern — trotz aller efchatologifchen Stimmung —
als eine fittliche Kraft, als freudige Begeifterung gewürdigt
wird, wie der gegenwärtige Heilsbefitz in Liebe und
Glauben nachgewiefen, wie die Grundftimmung des
Chriften als Freude, Friede und Rühmen gefchildert
wird, das ift im Grofsen und Ganzen vortrefflich. Das
4. Kapitel: ,Weltbeurtheilung und Lebenshaltung' ver-
fucht die Elemente einer pofitiven ethifchen Weltan-
fchauung, durch welche die mit der efchatologifchen
Stimmung verbundene Weltverneinung eingefchränkt
wird, möglichft vollftändig zu fammeln und zu betonen.
Der Verf. urtheilt felbft hierüber: ,Es läfst fich nicht
verhehlen, dafs die Sorgfalt, mit der wir die hierauf
hindeutenden Spuren zu fammeln verfuchten, in gewiffer
Weife den Schein des Gewaltfamen hervorrufen mufs, I
weil unfer leitendes Intereffe dem des Apoftels 1
gerade entgegengefetzt war. Denn ihm fchwebt |

nichts weniger vor als die Ineinsbildung des natürlichen
Lebens mit dem chriftlichen Lebensideal. Was fich von
derartigen Anweifungen bei ihm findet, ift nur ein Noth-
bau, für kurze Zeit und auf den nahen Abbruch hin
zufammengefügt. Das eigentlich leitende Intereffe ift für
ihn die möglichfte Concentration auf das religiöfe Leben
und feine Propaganda. Das alfo mufs ausdrücklich
hervorgehoben werden, dafs das beherrfchende Intereffe
des Apoftels nicht, wie unfere Darfteilung vielleicht den
Anfchein könnte erweckt haben, an jenen Ausführungen
haftet'. Diefe Formulierung ift vortrefflich, fie fagt auch
beffer, als ich es thun könnte, weshalb diefe Darftellung
am hiftorifchen Mafsftab gemeffen nicht durchweg befriedigt
. Man kann alle die einzelnen Thatfachen, die
der Verf. heranzieht, zugeben, und wird doch Gruppierung
und Vertheilung der Accente nicht immer billigen,
denn beides ift an den Stoff herangebracht, nicht aus
ihm erwachfen. Auch bei der Vorftellung vom Pneuma
werden befonders die Züge hervorgehoben, welche eine
Tendenz zeigen auf Ueberwindung der alten transfcen-
denten Infpirationsanfchauung durch eine ethifch-imma-
nente. Die dynamifche Betrachtungsweife einer blind
wirkenden Naturkraft beginnt fich in eine perfönliche
umzufetzen, der Weg zur Hypoftafierung des Geiftes ift
befchritten, das Impulfiv-Enthufiaftifche beginnt vor den
ethifchen Geifteswirkungen in den Hintergrund zu treten;
in dem Mafse als der Geift nicht nur auf einzelne
hervorragende Momente der fittlichen Entfcheidung bezogen
, fondern das gefammte fittliche Leben als feine
Wirkung betrachtet wird, mufs die dynamifche Vorftellung
fich in die einer beftimmten Norm, ja in einen
Qualitätsbegriff umfetzen (NB. ift Rom. 8,2 nicht eine
Norm, fondern ein wie ein ,Naturgefetz' wirkender
Zwang gemeint). Damit fteht im Zufammenhang, dafs
die ethifch wirkenden der Gemeinde dienenden Charismen
als die höchften gewertet werden, dafs die Liebe als
erfte Frucht des Geiftes erfcheint. Indem ferner in ,dem
Geifte' des einzelnen Chriften eine innige Vermählung
des göttlichen Geiftes mit dem geiftigen Wefen des
Menfchen angebahnt wird, beginnt die qualitative und
pfychologifche Auffaffung des Geiftes mit der vom
Apoftel feilgehaltenen rein fupranaturaliftifchen, dyna-
mifchen unverträglich zu werden. Schliefslich wird gelegentlich
in folcher Allgemeinheit und Unbeftimmtheit
vom Geifte gefprochen, dafs er entweder das Supranaturale
im Gegenfatz zum Natürlichen bezeichnet oder faft zur
Bezeichnung der religiöfen Sphäre im Unterfchied von der
weltlichen wird. So wird mehr und mehr die transfcen-
dente, enthufiaftifche Anfchauuung überwunden und
Paulus nähert fich fehr ftark dem helleniftifchen Dualismus
, in welchem ,der Geift' als ein der Materie entgegengefetztes
metaphyfifches Princip erfcheint. Ausgezeichnet
und durch viel neues Material bereichert ift hier
die Zufammenftellung der Berührungspunkte mit dem
Hellenismus. Das Mafs der Verwandtfchaft und Abhängigkeit
, fowie die eigenthümlichen Mifchungsverhältniffe
find forgfältig und im Allgemeinen überzeugend erörtert.

Marburg. Joh. Weifs.

Monnier, Jean, La premiere epttre de Papötre Pierre. Macon,
Protat Freres, 1900. (VI, 352 S. 8.)

Der erfte Petrusbrief war unter den im übrigen
ziemlich ftiefmütterlich behandelten katholifchen Briefen
fchon bisher verhältnifsmäfsig am häufigften erklärt
worden. Man konnte daher zunächft zweifeln, ob ein
Commentar darüber wirklich nöthig war. Aber bei eingehenderem
Studium des Monnier'fchen Buches fieht
man fehr bald, dafs hier eine Arbeit vorliegt, die auch
aufserhalb Frankreichs Beachtung verdient. Ich glaube,
diefe neue Erklärung übertrifft wenigftens an Reichhaltigkeit
alle früheren: die textkritifchen und fprachlichen
Probleme werden mit derfelben Gründlichkeit behandelt,