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Ausgabe:

1900

Spalte:

91-93

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, L.

Titel/Untertitel:

Die einheitliche Lebensauffassung als Grundlage für die soziale Neugeburt 1900

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 3.

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ftimmte Situation, unter der Jefu fie gefordert hat, gönnen',
und gegen die Orthodoxen, ,die in ihr ein Ziel fehen,
das man wills Gott einmal im Jenfeits erreichen werde'.
Eine F a m i 1 i e n o r d n u ng richtete Jefus auf, nicht eine
Rechtsordnung. In der Bergpredigt kennt Jefus nur zwei
Kreife von Menfchen: Mitjünger, die wir aus dem Geifte
der Bruderliebe zu behandeln haben, und Glaubensfeinde,
denen die Feindesliebe gebührt. — Ueber das Verhält-
nifs der Religion zur Moral auf dem Boden des Chriften-
thums denkt R. wie Vinet, deffen charakteriftifche Aeufse-
rungen über die Identität von Religion und Moral er fich
aneignet. — Das hier behandelte Problem hat R. auch
im 4. Stück feiner gleichzeitig erfchienenen Schrift ,Die
Religion im modernen Geiftesleben' 1898, zur Sprache
gebracht. — Wir freuen uns herzlich, dafs der von feinem
Doppelamt nun entlaftete Verf. im Stande fein wird, in
den Betrieb der von ihm fo treffend beleuchteten Dis-
ciplinen kräftig und erfolgreich einzugreifen. Er wird ge-
wifs die Worte nicht vergeffen, die er an die ,die ethi-
fchen Probleme vernachläffigende deutfch - evangelifche
Theologie unferer Tage' richtet. ,Die Gemeinde interef-
firen im Grunde nur Gegenwartsfragen, und die find heute
ethifchen Inhalts . . . Wir Theologan würden in unferer
Gemeinde und darüber hinaus ein dankbares Publicum
haben, wenn wir endlich uns frifch und freimüthig an
die ethifchen Einzelprobleme heranmachen wollten, die
den Menfchen von heute befchäftigen'. Des Verfaffers
fcharfe und berechtigte Kritik ift zugleich ein Verfprechen,
deffen Löfung wir zum Voraus mit dankbarer Freude
begrüfsen.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Reinhardt, L., V. D. M., Die einheitliche Lebensauffassung
als Grundlage für die soziale Neugeburt. Strafsburg und
Bafel, L. Beult. — C. F. Lendorff, 1899. (VIII, 424 S.
gr. 8.)

Die vorliegende Schrift foll nach des Verf. Abficht
nichts weniger als eine blofs akademifche, d. h. für's
praktifche Leben ziemlich unfruchtbare, rein wiffenfchaft-
liche Arbeit fein. Ihr Zweck ilt vielmehr durchaus aufs
praktifche Leben und auf die perfönliche und fociale Erneuerung
der Menfchheit, ja der ganzen diesfeitigen Welt
gerichtet. Der ihm allein vernünftig fcheinende Weg dazu
ift: die geiftige Neugeburt der Menfchheit. Die Grundbedingung
für diefe aber ift eine alle Menfchen völlig
befriedigende, ihrem innerften Wefen völlig entfprechende
und jeder Eigenart freien Spielraum gewährende einheitliche
Lebensauffaffung. Sie ift es auch, welche die
Löfung der focialen Frage herbeiführen mufs, indem fie die
menfchliche Gefellfchaft von einer Entwickelungsftufe zur
anderen führend, an die Stelle des äufseren Zwanges oder
des blinden Autoritätsglaubens das Recht der freien Selbft-
beftimmung fetzt. An der wirklichen Welt braucht diefe
einheitiche Lebensauffaffung vorläufig gar nichts äufser-
lich zu verändern; fie wird doch durch ihre innere Kraft
und Wahrheit das ganze innere und äufsere Leben der
Menfchheit völlig umgeftalten und erneuern, ganz fo wie
dies die Kopernikanifche Weltanfchauung in der Aftro-
nomie gethan hat.

Die wiffenfchaftliche Grundlage für diefe .Lebensauffaffung
' fucht fich der Verf. in fcharfem Gegenfatz zu
jeder inductiven oder empirifchen Methode durch ein
Speculationsverfahren zu fchaffen, welches ,feine durch
Erfahrung gewonnenen Denkobjecte aus dem eigenen
Bewufstfein organifch erzeugt1 S. 20. Er ftellt fein ,or-
ganifches Selbftdenken' der dialektifchen Methode Hegel's
entgegen und beruft fich auf Rothe, ift fich aber nicht
bewufst, dafs er methodologilch im Wefentlichen felbft
in den Bahnen Hegel's wandelt. Den Ausgangspunkt foll
das unbeftimmte, noch gar nichts unterfcheidende unmittelbare
Bewufstfein bilden, nicht, wie die moderne

Philofophie will, das fchon entwickelte perfönliche Ich,
der Gipfel alles uns bekannten Seins und Denkens. ,Was
würde man dazu fagen, wenn jemand behaupten wollte,
weil man nur von der höchften Spitze eines Berges aus
diefen felbft und feine Umgebung überblicken kann, deswegen
beruhe der Berg und das ganze ihn umgebende
Land auf feiner Spitze, oder weil der Gipfel eines Baumes
deffen höchfter Punkt fei, deswegen beginne die Entwicklung
desfelben von oben ?' (S. 29) — eine Verwechfelung der
Entwickelung des Seins mit der Entwickelung der Er-
kenntnifs, die vielfach den umgekehrten Weg gehen mufs.
Das im unmittelbaren Selbftbewufstfein liegende Sein
entwickelt fich dann zum bewufsten Durchfichfelbftwerden
im Menfchen und zum abfoluten Ausfichfelbftwerden in
Gott, deffen zutreffende Bezeichnung Jahve ift.

In enger Anlehnung an den Schöpfungsbericht wird
fodann die ,in perfönlichen Wefen gipfelnde Schöpfung
Jahves' in ihren verfchiedenen Stufen gefchildert. Darauf
folgt ein von eindringenden Studien zeugender Abfchnitt
über ,die natürliche Entwickelung der Menfchheit oder die
Entftehung des Heidenthums und der heidnifchen Weltreiche
' und hieran fchliefst fich das umfangreichfte Capitel
des Buches (S. 184—352) über ,die göttliche Offenbarung
oder die wahre Geftaltgewinnung Jahves in Chrifto und
feinem Reiche', eine kurze und doch reichhaltige, manches
in eine intereffante Beleuchtung Hellende Gefchichte
Israels und des Chriftenthums. Dabei kommt es dem
Verf. hauptfächlich darauf an, das Ziel diefer ganzen Entwickelung
als ein di esfeits fich vollendendes Reich Gottes
zu erweifen. Chriftus und die Apoftel, fo gut wie die
altteftamentlichen Propheten, fuchten und erwarteten das
Reich Gottes nicht in einem abftracten Jenfeits, fondern
im realen Diesfeits. Als Meffiasgläubige hofften
fie auf die Herrfchaft über die wirkliche Welt und nicht
auf eine thatenlofe Seligkeit in einem abftracten, alfo
gar nicht exiftirenden Himmel. Dafür werden Stellen
angeführt wie Matth. 55; Rom. 413, 817—2s; Hebr. 25;
Apoc. 11 15, 510. (S. 247 ff.) Luc. 2343 ift zu interpunk-
tiren; Wahrlich ich fage Dir heute: Mit mir wirft du im
Paradiefe fein (S. 235). Erft unter alexandrinifchen und pla-
tonifchen Einflüffen ift die Apokalyptik diefem Dualismus
verfallen. Die alte katholifche und proteftantifche Orthodoxie
theilt diefen Irrthum, beweift aber damit nur, dafs fie
mehr in der heidnifch-platonifchen Philofophie und im
heidnifchen Götterhimmel, als im monotheiftifchen Jahve-
glauben und im urchriftlichen Meffiasreiche wurzelt. Die
jüdifche Meffiasauffaffung war allerdings nur die äufsere,
zeitgefchichtliche und darum vergängliche Hülle für das
kommende höhere Geiftesleben. Das Königreich Gottes,
welches Jefus auf Erden aufrichten wollte, ift die Herrfchaft
der Wahrheit (Joh. 1837). Die Wahrheit aber kann für
Jefus nichts anderes gewefen fein als: Jahve und fein in der
Natur, in der Gefchichte und im Geiftesleben der Menfchheit
fich offenbarender Wille oder das, was wir in moderner
Sprache die göttlichen Natur- und Geiftesgefetze nennen'
(S. 239). Durch diefe wird in allmählicher Entwickelung
von innen heraus das Reich Gottes auf Erden, die perfönliche
und fociale Neugeburt der Menfchheit herbeigeführt
, welche fich zuletzt in der durch die völlige Be-
herrfchung aller Naturkräfte und durch die allgemeine
Auferftehung ermöglichten Vergeiftigung der ganzen
Menfchheit vollendet.

Von dem letzteren Gefichtspunkte aus ift nicht recht
j erfichtlich, warum der Verf. die Diesfeitigkeit diefer Voll-
j endung fo ftark betont. Zwifchen der völligen Verwand-
| lung aller Bedingungen des Erdenlebens und der von
i ihm verworfenen Jenfeitigkeit fchrumpft der Unterfchied
zufammen, wenn unter Jenfeits' nicht etwa ausfchliefslich
ein beftimmterRaum verstanden werden foll. Der kenntnifs-
reiche Verf. überfchätzt aber auch die praktifche Wirk-
famkeit eines theoretifchen Princips. Selbft wenn feine
,einheitliche Lebensauffaffung' neu und durchaus wider-
fpruchlos wäre, vermöchte fie eine ,perfönliche und fociale