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Ausgabe:

1900 Nr. 2

Spalte:

60-62

Titel/Untertitel:

Kantstudien 1900

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1900 Nr. 2.

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Verflande erfcheint das Religiöfe nur als das Decorative in
der Sittenlehre'. Sehe ich jedoch von der Aeufserung ab:
,Der Aufblick zur Allnatur erfüllt afs religiöfes Gefühl unfere
Seele mit feierlicher Andacht etc.' (S. 520), fo kommt eine
eigentliche religiöfe Frage in dem ganzen Buche nur an
der einen Stelle zur Sprache, wo der Erlöfung der
Menfchen durch einen Gott die Selbfterlöfung durch den
fittlichen Willen als das Erhabenere entgegcngeftellt wird
(S. 565). In feinem 13. Capitel (Religion und Menfchheit)
dagegen hat der Verf. überhaupt nicht lebendige religiöfe
Erfcheinungen im Auge, fondern im beften Falle
nur den erftarrten Niederfchlag religiöfen Lebens, fowie
er in der philofophifchen Gotteslehre vorliegt und namentlich
in den fpeculativen Syftemen der Philofophie
als ein Erbtheil der ariftotelifch-fcholaftifchen Metaphyfik
fortgepflanzt zu werden pflegt. Es ift doch merkwürdig und
wohl kaum anders als aus perfönlicher Voreingenommenheit
zu erklären, dafs der Verf., der fonfl über alle Dinge,
die er befpricht, fleh überall fo gründlich und fo ge-
wiffenhaft aus den beften Quellen unterrichtet und an
die competenteften Gewährsmänner angelehnt hat, ein
gleiches Verfahren nur eben in Sachen der Religion für
überflüffig gehalten hat. So aber entbehrt feine Kritik
derReligion jeder Grundlage vonSachkenntnifs, gefchweige
von irgendwelchem Verftändnifs für die Fragen, die nun
einmal den Inhalt des religiöfen Lebens bilden. Es verlohnt
fleh daher auch nicht, auf die lediglich logifchen Operationen
, durch die der Verf. die oder jene Faffung des
Gottesbegriffs ins Unrecht zu fetzen fleh bemüht, näher
einzugehen. Wenn er aber wirklich im Ernfle meint, dafs
diefelbe Wiffenfchaft,die doch nach feiner eigenen Anficht
nicht einmal zu fagen weifs, was denn die Begriffe der
Kraft, der Materie u. f. w. ihrem eigentlichen Wefen nach
lind, — dafs diefe Wiffenfchaft das religiöfe Ideal der
Menfchheit ,zerftört habe' (S. 571), fo begreife es ein anderer
, wie fle bei ihrer gerade auch wieder von dem Verf.
erhärteten Unzulänglichkeit und Leiftungsunfähigkeit in
transfeendenten Angelegenheiten jenes Zerftörungswerk
überhaupt habe zu Stande bringen können. Auf diefem
Punkte alfo thäte der Verf. gut — fei es auch nur im
Intereffe der Gerechtigkeit gegenüber einer von ihm unter-
fchätzten, weil überhaupt noch nicht zur eigentlichen
Kenntnifs genommenen Erfcheinung— feine Anfchauungen
zu revidiren, oder, wenn ihm dies etwa nicht möglich
ift, fleh künftig in Sachen der Religion lieber mit Autoritäten
der Religionswiffenfchaft, z. B. mit Schleiermacher,
ftatt, wie bisher, mit mehr oder weniger unzufländigen
Philofophen auseinanderzufetzen.

Im 14. Capitel hat der Verf. unter dem Titel ,das
Glück' den Werth der Kunfl und der Sittlichkeit erörtert.
Unter Berufung auf Schopenhauer, der von den Neueren
das Wefen der Sittlichkeit in feiner ergreifenden Lehre
vom Mitleid am tiefften erfasst habe, vertritt er die Anficht
, dafs Mitleid die Quelle der Menfchenliebe fei (S.
556), ohne doch die bei Schopenhauer damit eng zufammen-
hängende Selbfttverneinungslehre und deren asketifche
Tendenz zu theilen. Vielmehr gilt ihm die Familie als
,das Heiligthum des Lebens! In ihr findet das Räthfel
des Dafeins feine Auflöfung durch die Liebe, in ihr
empfangen wir in unferen Kindern die Bürgfchaft für die
Unfterblichkeit der Seele, in ihr bewahrheitet fich durch
die Flrfchaffung neuer Wefen die Verheifsung eines ewigen
Lebens' (S. 564). Dennoch bekennt fich der Verf.
fchliefslich zu einem ,geläuterten Peffimismus' als einer
zur erhabenen Höhe gereiften Welterkenntnis, deren
Inhalt die Wahrheit ift' (S. 641). Von hier aus fällt allerdings
nachträglich ein manches aufklärendes Schlaglicht
auf die Stellung des Verf. zur Religion.

Bonn. O. Ritfchl.

Paulsen, Friedrich, Kant, der Philosoph des Protestantismus.

Berlin, Reuther & Reichard, 1899. (40 S. gr. 8.)M.—.60
Kantstudien. Philofophifche Zeitfchrift, herausgegeben von
Dr. Hans Vaihinger. Bd. IV, 1. Heft. Berlin, Reuther
& Reichard, 1899. M. 5. — (ä Band M. 12. —)

In der vorliegenden — zuerft in den ,Kantftudien'
erfchienenen — Abhandlung, die alle Vorzüge der Dar-
ftellungskunft des vielgelefenen Berliner Philofophen aufweift
, ftellt fich derfelbe die gewifs zeitgemäfse Aufgabe
einer Unterfuchung des Verhältnifses, in dem die
Kantifche Philofophie zum Proteftantismus und anderer-
feits zur katholifchen Philofophie fleht.

In O. Willmann's Gefchichte des Idealismus erfcheint
Kant's Philofophie hiftorifch betrachtet als der tieffte
Punkt, den die Philofophie auf ihrem Niedergang feit
der lutherifchen Kirchenrevolution erreicht hat, kritifch
beleuchtet als ein völlig haltlofer, widerfpruchsvoller
Subjectivismus und Skepticismus. Und der Triumph,
womit diefes Werk von den Anhängern des Neuthomis-
mus, der Philofophie des reftauiirten Katholicismus der
Gegenwart aufgenommen worden ift, fcheint fagen zu
wollen: der Feind ift vernichtet, der Proteftantismus
auch hier gefchlagen! (S. 5).

Paulfen zeigt, dafs in der That in Kant's Syftem zu
voller Klarheit gebracht ift, was im urfprünglichen Proteftantismus
in feinen Grundtendenzen angelegt war.
Dem Dogmatismus feiner Zeit gegenüber nimmt Kant
nach drei Seiten Stellung: I. Er bekennt fich zur Lehre
von der Autonomie der Vernunft. 2. Er ift anti-dogma-
tifch oder auch anti-intellectualiftifch und er ift 3. der
entfehiedenfte Vertheidiger der Möglichkeit und Noth-
wendigkeit eines praktifchen Vernunftglaubens. Auch
1 Luther nimmt jene Autonomie allen irdifchen Autoritäten
gegenüber in Anfpruch (S. 15; was übrigens Luther's
I Verachtung des Lichtes der Vernunft gegenüber fich nur
bei einem von dem feinigen wefentlich abweichenden
[ Vernunftbegriff, beffer in der Form der Autonomie des
| Gewiffens, halten läfst), er fucht das Heil nicht in Wahr-
heitsbeweifen, fondern in dem aus dem Herzen kommen-
I den Glauben. Proteftantifch ift auch Kant's Moralprincip,
i wonach der Werth des Menfchen zunächft in der Form
; der Willensbeftimmtheit liegt, nicht in der Materie des
Willens, im Glauben, nicht im Werk.

Diefe in ihrem Kern proteftantifche Stellungnahme
Kant's, deren lebendige Kennzeichnung hier nur angedeutet
werden konnte, ift nach des Verf. Ueberzeugung
im wefentlichen für uns unaufgebbare Wahrheit. Wir
können nicht zur Unterftellung der Vernunft unter eine
äufsere, eine menfehliche Autorität, zum Semirationalis-
mus des Thomas zurückkehren, der feit der Encyclica
Aeterni Patris vom Jahre 1879 in allen katholifch-kirch-
lichen Lehranftalten den philofophifchen Unterricht be-
herrfcht. Für die Befeftigung der kirchlichen Autorität
allerdings ift dies wohl das zuträglichfte Syftem. ,Der
konziliatorifche,femirationaliftifche Thomismus befchwich-
! tigt die Anfprüche der Vernunft, indem er ihr die Ehre
j der Mitwirkung bei der Bildung des allumfafsenden
philofophifch-theologifchen Syftems läfst. Die Wider-
ftände werden, wie bei dem conftitulionellen Syftem,
i innerlich überwunden. Die Vernunft in den Dienft des
! Glaubens geftellt, und durch ein höchft complicirtes dia-
lektifches Syftem zugleich trainirt und ermüdet, lernt allmählich
die Selbftbefcheidung mit Luft üben; und die
| kirchliche Lehre erfcheint fo von allen Seiten als die
unanfechtbare, durch Offenbarung und Vernunft gleicher-
mafsen gegebene Wahrheit'(S. 9). Für einen Proteftanten,
einen Philofophen kann es auf Erden keine unfehlbare
Lehrautorität geben; Philofophie und Wiffenfchaft müfsten
fich felbft aufgeben, um fich dazu zu bekennen. Selbft
,wenn ich dem Inhalt nach alles glaubte, was die Kirche
oder der Papft lehrt, das eine könnte ich nicht glauben,