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Ausgabe:

1900 Nr. 23

Spalte:

630-631

Autor/Hrsg.:

Cornill, Carl Heinrich

Titel/Untertitel:

Geschichte des Volkes Israel 1900

Rezensent:

Kraetzschmar, Richard

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 23.

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Familie beruht, ergiebt fich, dafs für Israel der Clan weit
älter ift als die Bildung der Familie (S. 249). Aber Gr.
hat dabei m. E. nicht in Betracht gezogen, dafs nach
femitifcher Anfchauung das Verhältnifs des Menfchen
zum kultifch verehrten Numen als ein zunächft nicht auf
Abdämmung fondern auf Blutsverwandtfchaft gegründetes
erfcheint, fo dafs der Nachweis, dafs nicht die Familie
fondern der Clan den focialen Organifationen der Griechen
und Römer entfprechen müfste, von verhältnifsmäfsig
untergeordneter Bedeutung fein dürfte. Die pofitiven Be-
weife, auf die Stade fich beruft, verkehren fich unter
Gr.'s Behandlung j„ jhr Gegentheil: Ift wie im Falle
Ga Js der Stammname gleichzeitig Name einer Gottheit,
der bei verfchiedenen Stämmen, gefchweige denn Völkern
vorkommt, fo ift der Kult des betr. Gottes nicht alter
Stammkult (S. 255). Ferner: ,Die Eponymen der israel.
Stämme und Gefchlechter find von diefen abftrahirt, nicht
tragen diefe die Namen von jenen' (S. 261). Und endlich:
Die Heroengräber flehen grofsentheils im Verdacht keine
Gräber zu fein; ,fie find urfprünglich Heiligthümer gewefen
und erft aus Heiligthümern zu Gräbern geworden' (S. 270).
Aber angenommen, es verhalte fich fo, dafs die israel.
Gräber uriprunglich keine waren wie die grofse Mehrzahl
der muhammedanifchen Heiligengräber keine find, ,weift
nicht gerade die Analogie diefer letzteren, auf die fich
Gr. (S. 26b) beruft, daraufhin, dafs die, die für dort begraben
galten, d. h. die Ahnen, eben Heilige waren, denen
man Verehrung darbrachte? Gr. hat diefen Schlufs be-
wufst umgangen. Bei den Patriarchengräbern fei Jahwe
felblt in die Stelle des alten Gottes eingetreten (S. 274).
Aber warum verbindet fich dann doch der Name des
Patriarchen mit ihnen? Hier ift uns Gr. eine beflimmte
Antwort fchuldig geblieben. Denn ,dafs die israel.
Siammeponymen erft mit den Israeliten und demjahwis-
mus an die Stätten gekommen find, wo ihre Gräber gezeigt
wurden' (S. 273), ift thatfächlich keine Antwort.
Allerdings fleckt hier auch eine der fchwierigften Fragen.
Es handelt fich um eine Scheidung von dem, was Israel
aus dem Nomadenthum mitgebracht und dem, was es
als anfäfsiges Volk im Kulturlande angenommen hat. Gr.
fagt einmal; ,Nur ein Bauer, deffen Familie Jahrhunderte
lang auf derfelben Stelle fitzt, kann eine folche Religion
(sc. Ahnenkult) haben' (S. 214). Und anderswo deutet er
auch die Möglichkeit an, dafs die Totenbefchwörung
kanaanitifche Sitte gewefen fein könnte (S. 167). Aber
dergleichen Bemerkungen follten m. E. nicht nur nebenbei
fallen, fondern hier gerade war einzufetzen und wo
möglich tiefer zu dringen. Bedeutet anerkanntermafsen
Israels Uebernahme der kanaanitifchen Kultur zugleich ein
Hmeinwachfen in kanaanitifchen Kultus, fo drängt fich
die Frage auf, ob bezw, inwieweit auf kanaanitifchen
Einflufs die Ausbildung israelit. Ahnenkultes zurückzuführen
fei. Dafs Ahnenkult bei den Kanaanitern im
Schwange gewefen wäre, würde zu Gr.'s Auffaffung
ftimmen, der in ihm das Zeichen einer decadenten Cultur
fieht (S. 277). Dazu brachte aus der Wüfte Israel zum
Minderten die animiftifchen Vorausfetzungen mit und
vermutlich noch etwas mehr. Gr. fagt felbft einmal — in
feltfam inconfequenter Weife übrigens —: .Höchftens einmal
im Laufe des Jahres kehrt er (sc. der Nomade) an die
Stätte zurück, wo die Toten feines Stammes ruhen; und
bald, nachdem er ihnen ein einfaches Opfer (!) dargebracht
hat, zieht er feine Strafse weiter' (S. 214). Ich zweifle
nicht an der Richtigkeit diefes Satzes; aber gerade darum
halte ich Gr.'s Problemftellung für nicht ganz richtig. Es
handelt fich im Grunde gar nicht darum, ob Ahnenkult
die Urreligion Ifraels gewefen fei. Mit vollem Recht fagt
er felbft (S. 170), nirgends auf der Erde beftehe diefer
Kult für (ich allein, fondern überall verehre man neben
den Ahnenfeelen noch Götter und andere Geifter. Alfo
das ift die Frage, ob für die Stufe, wo Israel noch in der
polydämoniftifchen Anfchauung befangen ift, Toten- bezw.
Ahnenverehrung als eine Aeufserungsform des religiöfen

Lebens anzunehmen ift, resp. ob fich Spuren davon bis in
die jahwiftifche Zeit hinab erhalten haben, und diefe Frage
liefse fchliefslich doch wohl eine widerfpruchslofere Antwort
zu als fie uns jetzt im ,Rückblick und Schlufs'
(S. 276—278) gegeben wird, wo neben aller Abweifung
des Ahnenkultes als Urreligion Ifraels immer noch von
einem Kultus die Rede ift, den man den Totengeiftern
gewidmet habe, einem Kultus nämlich im Sinne der
.Seelenpflege' (S. 276).

Aber auch fo bleibt Gr.'s Buch ernftlicher Beachtung
werth. Immer wieder regt es zu erneuter gründlicher
Unterfuchung der einfehlägigen Probleme an und lohnt
ein genaueres Studium genugfam, dafs man von ihm mit
dem Wunfche fcheidet, dem Vf. wieder auf wiffenfehaft-
lichem Boden zu begegnen.

Bafel. Alfred Bertholet.

Cornill, Prof. DD. Carl Heinrich, Geschichte des Volkes

Israel von den älteften Zeiten bis zur Zerftörungjerufa-
lems durch die Römer. Chicago. Leipzig, O. Haraffo-
witz, 1898. (IV, 326 S. gr. 8.) Geb. M. 8.—

In fehr frifcher, anregender Darfteilung, die, was
Blüthe des Stiles anlangt, mitunter an die Ueppigkeit
orientalifcher Farbenpracht erinnert, giebt der Verfaffer
einen Abrifs der Gefchichte Ifraels von Anfang an bis
zum Jahre 70 n. Chr. Alles Nebenfächliche ift beifeite
gelaffen, nur die Hauptpunkte find herausgehoben und
in anfehaulicher Weife dem Lefer vor Augen geführt,
fodafs auch der Uneingeweihte fich darein vertiefen kann
und einen vollen und nachhaltigen Eindruck von der
Bedeutung des Gefchilderten empfängt. Das Werk enthält
10 Vorträge, die zunächft in „The Opcn Court" in
englifcher Sprache erfchienen find. Der I. behandelt
nach allgemein orientierenden Vorbemerkungen: Land
und Leute. — Völkerbewegungen des alten Orients
(S. 1—29); der 2. ift überfchrieben: Bis zur Entftehung
des nationalen Königthums (S. 30—57), der 3.: Das nationale
Königthum. — Saul und David (S. 58—88), der
4.: Salomo. — Die Reichsfpaltung. — Die erfte Zeit der
getrennten Reiche (S. 189—118), der 5.: Bis zur Zerftörung
jerufalems durch die Chaldäer (S. 119—149), der 6.: Von
der Rückkehr aus dem babylonifchen Exil bis zum Ausbruch
des makkab. Aufftandes (S. 150—179), der 7: Die
makkab. Erhebung bis zum erblichen Hohenpriefterthum
und Fürftenthum Simons (S. 180—212), der 8.: Von dem
Makkabäer Simon bis auf Herodes den Grofsen (S. 213—
245), der 9.: Das Haus des Herodes. — Judäa als römi-
fche Provinz (S. 246—280), und der 10.: Der jüdifche
Krieg und die Zerftörung Jerufalems (S. 281—312). Ein
Anhang (S. 313—319) geht in liebenswürdiger Weife auf
eine Anzahl Fragen ein, die ein aufmerkfamer Lefer dem
Verf. vorgelegt hatte; ein ausführliches Namen- und Sach-
regifter (S. 321—326) bildet den Schlufs des Ganzen.

Der Verf. fleht auf ausgefprochen kritifchem Standpunkte
, ohne doch in Hyperkritik zu verfallen; er ift, wie
er in der Einleitung felbft fagt, ,der feilen und wohlbegründeten
Ueberzeugung, dafs die Ueberlieferungen des
Volkes Israel felbft über feine ältefte Gefchichte in allem
Wefentlichen durchaus hiftorifch find und auch der
fchärfften und einfehneidendften Kritik Stand halten'
(S. 6). So gilt ihm z. B. Abraham (S. 22, vgl. 314b) ,im
flrengften Sinne des Wortes für eine hiftorifche Perfön-
lichkeit, wie etwa Opheltas und Peripoltas', dagegen nicht
Ifaak, Jakob—Ifracl. Ueber viele Einzelheiten, zumal in
der älteren Gefchichte, kann man wohl anderer Anficht
fein als der Verf. — das liegt in dem zum Theil recht
problematifchen Stoffe begründet —, aber das Urtheil
über das Gesammtbild wird dadurch in keiner Weife
alterirt. Nur einige Punkte feien herausgehoben, auf
die Ree. gerade ftöfst. Dafs Kena'an ,Niederland' bedeute
, ift keineswegs fo ficher, wie es S. 10 hingeftellt

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