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Ausgabe:

1900

Spalte:

625-630

Autor/Hrsg.:

Grüneisen, Carl

Titel/Untertitel:

Der Ahnenkultus und die Urreligion Israels 1900

Rezensent:

Bertholet, Alfred

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. zu Berlin, und D. E. Schüret*, Prof. zu Göttingen.

Erfcheint Preis
alle 14 Tage. Leipzig. J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung. jährlich 18 Mark,

NE- 23. 10. November 1900. 25. Jahrgang.

GrüDeifen, Der Ahnenkultus und die Urreligion

Israels (Bertholet).
C o r n i 11, Gefchichtc des Volkes Ifrael (Kraetzfch-

mar).

Lisco, Vincula Sanctorum, ein Beitrag zur Erklärung
der Gefangenfchaftsbriefe des Apoftels
Paulus (Clemen).

Hilgenfeld, Acta apostolorum graece at latine

secundum antiquissimos testes edidit, Acta

apostolorum extra canonem receptum etc.

addidit (Bousset).
Lewis and Gibson, Palestinian Syriac Texts

from palimpsest fragments in the Taylor-

Schechter collection (Schwally).
Schlecht, diSaxh TÜn> büjdsxa imoatb'kwv,

una cum antiqua versione latina prioris partis
de duabus viis primum edidit (Harnack).

Kukula, Tatians fogenannte Apologie, exege-
tifch-chronologifche Studie (Krüger).

Kropatschek, Occam und Luther (Koehler).

Vogel, Goethes Selbftzeugnifse über feine
Stellung zur Religion und zu religiös-kirchlichen
Fragen (Hans).

Grüneisen, Lic. Carl, Der Ahnenkultus und die Urreligion
Israels. Halle a. S., M. Niemeyer, 1900. (XV, 287 S.
gr. 8.) M. 6.—

Grüneifen's Buch ift ein höchft erfreuliches specimcn
eruditionis des Vf's. Erwachten ift es als Frucht fünfjährigen
Fleifses aus einer Preisarbeit, deren Aufgabe eine
Unterfuchung der exegetifchen Grundlage von Stade's
und Schwally's Ahnenkulthypothefe gewefen war. Der
ganze Gang der Unterfuchung verleugnet diefen Urfprung
nicht. Der Vf. liefert aber, namentlich auf Grund eines
von ihm reichlich herbeigezogenen werthvollen ethnolo-
gifchen und allgemein-religionsgefchichtlichen Materials
mehr als eine bfofs exegetifche Auseinanderfetzung. Er
verfucht die Frage felber zum Austrag zu bringen, ob
die animiftifchen Religionsformen des Totenkultes und
der Ahnenverehrung die dem Jahwismus vorangegangene
Urreligion Israels gebildet haben. Seine Antwort lautet
negativ: Mag auch die primitive Vorftellungswelt des
alten Israel in den Grundzügen derjenigen gleichen, die
wir überhaupt auf entfprechender Kulturllufe in der
Menfchheit finden, ,die animiftifchen Vorftellungen und
Gebräuche haben fich im alten Israel nie zu einer religiöfen
Verehrung verdichtet, gefchweige denn dafs man fie als
die Urreligion Ifraels bezeichnen dürfte. Insbefondere
mufs man darauf verzichten, von hier aus Auffchluffe über
die ältefte Gefchichte des Jahwismus zu erhalten' (S. 277 f.).
Es ift ein langer, theilweife vielleicht allzu langer Weg,
den der Vf. zurücklegt, um zu feinem Refultate zu gelangen.
Dafs er nicht in der Richtung fuhrt, die dem Ref. als
richtige vorfchwebt, hat er durch feinen Vortrag über die
israelitifchen Vorftellungen vom Zuftand nach dem Tode
bewiefen. Aber fuchen wir Gr. auf feinem Wege zu folgen.

Die Einleitung (S. I —19) formulirt das Problem, zugleich
über die moderne Auffaffung von den Anfängen
der Religion, fpez. der israelitifchen, orientirend. Merken
wir gleich des Vf.'s Aeufserung an, er anerkenne mit den
Vertretern der Stade'fchen Hypothefe, dafs die animiftifche
Weltanfchauung im alten Israel geherrfcht habe (S. 17).
So weit fich alfo Stade und Schwally auf den blofsen
Nachweis animiftifcher Vorftellungen und Gebräuche be-
fchränken, rechtet er mit ihnen nicht. Er fetzt vielmehr
erft da ein ,wo ihre Argumentation beginnt, dafs der animiftifche
Charakter althebräifcher Vorftellungen, Sitten
und Kultusformen beweifend fei für dereinftigen Toten -
und Ahnenkult in Israel'. Diefen Beweis follen den Genannten
zunächft die hebräilchen Vorftellungen von der
Seele und vom Zuftande nach dem Tode liefern. Der Nachprüfung
diefer Argumentation ift der erfteTheil(S. 20—60)
gewidmet, wo Gr. in einem erften Abfchnitte (S. 20—41)
die anthropologifchen Vorftellungen des alten Ifrael be-
fpricht, in einem zweiten (S. 41—60) die israelitifchen Vorftellungen
vom Zuftande nach dem Tode. Er findet, dafs

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neplies mehr das individuelle Leben, ruali die Lebenskraft
als etwas Allgemeines fei (S. 28). Diefe allgemein
waltende ruah erzeuge in dem einzelnen Körper, dem
basar, die ihm perfönlich eignende neplies (S. 35). Das
ift Alles fehr richtig und übrigens auch fchon, z. B. von
Schwally, ungefähr ebenfo gefagt (vgl. Leben nach dem
Tode S. 6). Aber was ift damit gegen die Totenkult-
theorie gewonnen? Allerdings, wenn Gr. nep/ie} und riffa,
fo wie fie in den uns vorliegenden atl. Schriften differen-
zirt erfcheinen, dem gegenüberhält, was Edw. B. Tylor
als Seelenglauben animiftifcher Volker befchreibt, fo ift
ein Unterfchied nicht zu verkennen. Aber flammen diefe
Schriften aus der Zeit der ,Urreligion' Ifraels, oder ergäbe
vielleicht eine Darfteilung der anthropologifchen und
pfychologifchen Terminologie der von Tylor gefchilderten
Völker ein widerfpruchsloferes Bild? Gr. meint, die ifrael.
anthropologifche Vorftellung weiche von der animiftifchen
gerade in den beiden Punkten ab, die für letztere
charakteriftifch feien: es verlaffe nämlich die nephes den
Körper nur im Tode; dann aber fei es aus mit ihr (S. 41).
Wie unbequem ihm für diefe Thefe fchon 1 Kg 1721 f.
liegt, zeigt feine höchft anfechtbare Exegefe der Stelle
(S. 43). Aber was kommt überhaupt auf Namen und
Begriffe an, wenn fachlich die Analogien mit Händen zu
greifen find? Dafs z. B. in der Ekftafe das ,other seif1
aus dem Körper entlaffen wird, ift fo gut wie bei Finnen
oder Griechen die Vorftellung des Autors von Jef. 2i6,
wenn er auch das austretende Subject nicht neplies nennt
fondern nBStari, und dafs ein gewiffes Etwas nach dem
Tode feine leibftändige Exiftenz fortführt, kann Gr. natürlich
felber nicht leugnen, mag es auch nicht neplies heifsen
fondern, in auffallender Uebereinftimmung übrigens mit
der Tylor'fchen Ausführung (S. 21), rephahn. Darin fcheint
mir denn die Schwäche diefes erften Abfchnittes zu liegen,
dafs Gr. zunächft mit ftrengen Begriffen zu operiren fucht
bei Dingen, für die fich die begriffliche Formulirung noth-
wendig eift viel fpäter einftellen mufs. Widerfpruchsvoll
ift fodanu feine Behandlung der Scheolvorftellung zu
nennen. Die ihm gewiefene Aufgabe war natürlich der
Nachweis, dafs nicht erft der Jahwismus die Vorftellung
von einem fchattenhaften Dafein in der Scheol (sc. im Gegen-
fatz zu den lebensvolleren Vorftellungen vom Familien-
grabe) gefchaffen habe. Es wird denn auch S. 55 die
Behauptung aufgeftellt: ,Der Jahwismus fand die Scheolvorftellung
inlsrael vor als ein Stück uralten Volksglaubens'.
Wie ftimmt dazu aber eine halbe Seite weiter der Satz:
.Wahrfcheinlich haben die Israeliten ihre Scheol in
Palafti na kennen gelernt; aber Anfätze zu einer Unter-
weltsvorftellung mögen fie mitgebracht haben' (S. 55 f.)?
Seine erfte Hälfte würde ja zeigen, dafs die Scheolvorftellung
gerade nicht uralter Volksglaube war, für feine
zweite, auf die Alles ankommt, ift auch nicht der Schein
eines Beweifes vorhanden. Oder will Gr. als folchen