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Ausgabe:

1900 Nr. 2

Spalte:

44-47

Autor/Hrsg.:

Guenther, Otto (Ed.)

Titel/Untertitel:

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum. Vol. XXXV, pars I et II 1900

Rezensent:

Preuschen, Erwin

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 2.

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wenig Glauben verdiene, weil fein Bericht über das Leben
und die Thaten der Heiligen grofsentheils aus älteren
Heiligenlegenden abgefchrieben fei. H. kann freilich
diefen Thatbeftand nicht ableugnen. Aber er weifs ihn
für gläubige Gemüther zu erklären. Er meint (S. XVI f.),
dafs es doch gar nicht wunderbar fei, wenn zwei heilige
Frauen, beides Königinnen, in verfchiedenen Jahrhunderten
unter beftimmten Umftänden ein ähnliches Verhalten gezeigt
und aus derfelben Stimmung heraus diefelben Tugenden
bewährt hätten. Als ob damit der Kern der
Kritik Jaffe's getroffen wäre! Aber er weifs auch, warum
man den Biographen fo wenig Glauben fchenken will.
Sie waren Mönche — ,d'ou la grande colere des criti-
ques allemandsV (S. XXVII). Man fieht, welches Ver-
ftändnifs der Mann mit dem deutfchen Namen für die
wiffenfchaftliche Arbeit Deutfchlands hat. Für ihn ift
die deutfche Wiffenfchaft ein Gewebe von abfichtlichen
Täufchungen und unabfichtlichen Irrthümern; die Kritik
verwirft, was ihr nicht pafst und macht fich zu dem
Zweck einen fcheinbaren Beweis zurecht. Die Abficht
diefer ganzen Erörterung ift unfchwer zu erkennen. Sie
dient nicht den Zwecken der Belehrung und Erbauung,
fondern dem mit nationalen Motiven reichlich durchtränkten
franzöfifchen kirchlichen Chauvinismus. Die
Biographie felbft ift eine werthlofe Paraphrafe der in den
Monumenta Germaniae veröffentlichten Biographien der
hl. Mathilde.

3. Auch de Broglie hat für feine Biographie des
Ambrofius auf allen gelehrten Apparat verzichtet. Während
bei den andern Bänden wenigftens eine kurze Einleitung
den Lefer über die Quellen zu Orientiren fucht,
fetzt der Verf. fofort mit der Erzählung ein. Zu Grunde
liegt die Biographie des Paulinus; die chronologifchen
Angaben, die nur fparfam und meift unter dem Text gemacht
werden, find die traditionellen. Auch hier überwiegt
, wie bei Allard's Bafilius weitaus das Intereffe an
dem äufsern Lebensgange des Mannes. Seine Bedeutung
für die Theologie und Kirche des Abendlandes tritt
durchaus nicht hervor.

4. Für die Abficht, in der die Biographie des Ungarnkönigs
Stephanus I. verfafst ift, der merkwürdiger Weife
auch in den Heiligenkalender gerathen ift, find die Worte
der Vorrede charakteriftifch, die die Bedeutung des Stephanus
kurz zufammenfaffen follen: dl repoussa energi-
quement la protection de Vempereur d1 Allemagne et fonda
im royaume independant; de plus, obeissant a une Inspiration
vraiment divine, il s'ecarta de Byzance schisma-
tique et se tourna vers Rome pour demander au succes-
seur de saint Pierre la consecration de ses travaux1'.
Diefem Leitmotiv entfprechend ift die Darftellung. Ohne
Zweifel hat Stephan die Herftellung eines felbftändigen
Staatswefens erftrebt und die kirchliche Bewegung in dem
Dienfte diefer Idee verwendet; ebenfo unbeftreitbar ift
feine Anlehnung an Rom. Aber inwiefern das einen
befondern Grad der Heiligkeit bedingt, ift doch nicht fo
ohne Weiteres deutlich. Sonft könnte in Frankreich z. B.
einem General Mercier auch wohl der Heiligenfchein
winken. Dafs die Darfteilung alle Legenden getreulich
reproducirt, ift nicht zu verwundern. Die Stephanskrone
ift natürlich unbeftritten echt, ausgestattet mit allen himm-
lifchen und irdifchen Gaben. Dafs dabei auch offenkundige
Fälfchungen, wie der Brief Silvefter's II an
Stephan zur Darftellung mitbenutzt, ja im Wortlaut mit-
getheilt werden, illuftrirt recht eigenthümlich das Programm
der Sammlung, die eine populäre Verwerthung
der Forfchungen bieten foll.

5. Eine fchwierige Aufgabe war dem Leiter des
Unternehmens, H. Joly, zugefallen, der den Stifter des
Jefuitenordens darzuftellen hatte. Der Verf. verfichert
p. VI: ce livre a ete ecrit en parfaite liberte; denn es
fei der Zweck der Sammlung, die Legenden zu zerftören,
die der Wahrheit widerftreiten. Seine Quellen find Gonzales
, Ribadeneira und deffen Quelle, der erft kürzlich

| edirte Polanco. Aufserdem die Schriften des Ignatius
felbft und die Mittheilungen von Parifer und Brüffeler
Mitgliedern des Ordens. J. hat vor allem Gewicht darauf
gelegt, ein pfychologifches Verftändnifs für die Ent-
wickelung des Ignatius zu gewinnen. Es ift verftändlich
bei ihm, wenn er die acta spiritualia in den Mittelpunkt
der ganzen Arbeit des Ignatius rückt und von hier aus
gleichfam deffen Bedeutung bemifst. Es ift ebenfo verftändlich
, wenn er diefem Werke die höchfte Bewunderung
zollt und kein Wort der Kritik dafür hat, dafs die
Schematifirung des Geifteslebens, die in ihnen gefordert
und empfohlen wird, zu einem unerträglichen Gewiffenszwang
und zu einer Verwüftung auf dem Gebiete jedes
perfönlichen Lebens führen mufs. Darum ift Ignatius
auch für den Verf. das vollkommene Werkzeug der göttlichen
Gnade, in dem fie fich in einer neuen Weife
manifeftirt. Der evangelifche Chrift wird fich in diefem
Punkte mit feinem Gegner nie einigen und er wird nie
glauben, dafs in diefer Perfönlichkeit die katholifche
Glaubensanfchauung ihre höchfte Form gefunden hat,
wie der Verf. meint. Er wird fich auch nicht davon
überzeugen laffen, dafs die Mifsgriffe, die der Orden begangen
hat, nur darauf zurückzuführen find, dafs einzelne
Ordensglieder ,die Fineffen' zu fehr bevorzugt hätten
(S. 226). Er wird das, was von dem Orden Grofses ge-
leiftet worden ift, ruhig anerkennen und doch der Meinung
fein, dafs der Heilige von Loyola dem Chriftenthume in
der römifchen Kirche zum Fluche geworden ift.

Darmftadt. Erwin Preufchen.

Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum. Editum con-
silio et impensis Academiae Litterarum Caesareae
Vindobonensis. Vol. XXXV: Epistulae imperato-
rum pontificum aliorum inde ab a. CCCLXVII us-
que ad a. DLIII datae Avellana quae dicitur col-
lectio. Recensuit commentario critico instruxit in-
dices adiecit Otto Guenther. Pars I. Prolegomena.
Epistulae I—CIV. Vindobonae, F. Tempsky, 1895.
Pars II. Epistulae CV-CCXXXXIIII. Appendices. In-
dices. Vindobonae, F. Tempsky, 1898. (VI u. S. 495
—976.) M. 14.20

Unter dem nichtsfagenden und heute gar nicht mehr
zutreffenden Namen der collectio Avellana — fo genannt
nach einer jetzt im Vatican befindlichen Hf., die früher
dem Klofter S. Crucis in fönte Avellana in Umbrien gehörte
— exiftirt eine Sammlung von Briefen und Berichten
, die für die kirchlichen Ereignifse zweier Jahrhunderte
von höchftem Intereffe find. Maaffen hat in
feiner Gefchichte der Quellen und Litteratur des canon.
Rechtes I, 787 ff. und in einer Abhandlung Sitz. Ber. d.
Wiener Akad. 85 (1877), 227 ff. eingehend über die
Sammlung gehandelt. Sie ift, abgefehen von neun
jüngeren, aus dem 15—17. Jahrh. flammenden Hff. in
zwei Pergament-Hff. des 11. Jahrh., dem Cod. Vatic. lat.
3787 und Cod. Vatic.lat.4961 erhalten, von denen der letztere
einft dem Klofter S. Crucis in fönte Avellana gehörte, nach
dem die Ballerini die ganze Sammlung benannten. Üeber
das Verwandtfchaftsverhältnifs diefer beiden Hff. hat zuerft
W. Meyer aus Speyer (Göttinger Index scholarum S. S. 1888
und W.S. 1888/89) Licht verbreitet, indem er überzeugend
nachwies, dafs Vatic. 3787 (V) nicht aus Vat. 4961 (a)
gefloffen fein könne, da V an einigen Stellen vollftän-
diger fei, als a. Dabei blieb freilich noch die Möglichkeit
einer gemeinfamen Vorlage offen und auf fie müfste
man recurriren, wenn man, wie das früher faft allgemein
gefchah, « für älter als V hielt. Guenther, der hier die
Ausführungen von Meyer ergänzt und weiterführt, zeigt,
dafs a aus V gefloffen fein mufs, und da fich ein begründeter
paläographifcher Beweis für das höhere Alter