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Ausgabe:

1900 Nr. 22

Spalte:

603-605

Autor/Hrsg.:

Lueken, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Michael. Eine Darstellung und Vergleichung der jüdischen und der morgenländisch-christlichen Tradition 1900

Rezensent:

Weinel, Heinrich

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603 Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 22. 604

Am oberen Rande des Briefes fleht von etwas fpäterer
Hand der Anfang des Hebräerbriefes (drei Zeilen); auf
der Rückfeite des Blattes Gen. 1, 1—5 nach den LXX
und nach Aquila von einer Hand aus der Zeit Conftantin's.
Der Text gehört alfo zu den älteflen Fragmenten der
griechifchen Bibel, die wir haben, bietet indeffen für LXX
keine wichtigen Varianten.

Es folgt ein ganz kleines Fragment aus Hiob (1,
21—22, 2, 3) sacc. VII, und gröfsere Fragmente aus den
Pfalmen nach drei verfchiedenen Handfchriften. Das
umfangreichfte Stück find Fragmente von Pf. 108, 118,
J35' —T4° nach einer Handfchrift in Buchform, welche
nach dem Urtheile der Herausgeber nicht früher als im 7.
Jahrhunderte, vielleicht noch fpäter gefchrieben ift.

Das vorletzte Stück iftApoftelgefchichte2, 11—22
nach einer Handfchrift saec. V—VI. Bemerkenswerthere
Abweichungen von Tifchendorf's Text [editio octavd) find:
2, 13 [ey^ltva^ov 2e[yo}vTEq (vgl. D), 2, 17 fXExa xavxa ftatt
ev xaiq Eö^axaiq rjftEQatg, 2, 20 nach [lEjaXrjv add. xai

ETCKpetVT).

Den Schlufs bilden drei kleine liturgifche Fragmente
sacc. VII—VIII. Die beiden erften find in den
Ueberfchriften als xatiiGLtaxa bezeichnet, das dritte bezieht
fich nach der Ueberfchrift auf das Gedächtnifs der
Jungfrau Maria und des Hauptmanns Longinus.

Wenn auch einige der hier mitgetheilten Fragmente
nicht von grofser Wichtigkeit find, fo ift doch die Sammlung
als Ganzes eine werthvolle Gabe, für welche fowohl
dem Lord Amherft als den beiden Herausgebern warmer
Dank gebührt.

Göttingen. E. Schür er.

Lueken, Lic. Wilhelm, Michael. Eine Darfteilung und
Vergleichung der jüdifchen und der morgenländifch-
chriftlichen Tradition vom Erzengel Michael. Mit
Sachregifter, Regifter der biblifchen und Regifter der
aufserbiblifchen Citate. Göttingen, Vandenhoeck &
Ruprecht, 1898. (X. 186 S. gr. 8.) M. 4.80

Es ift nicht die Schuld der Herren Herausgeber und
nur zum fehr geringen Theile die meinige, dafs fich die
Anzeige diefes Buches bis heute verzögert hat. Diefe
Verzögerung hat jedoch auch ihr Gutes. Ich kann die
Vorzüge der Arbeit etwas kräftiger zeichnen und vielleicht
etwas ftärker zur Geltung bringen, als es in früheren
Recenfionen gefchehen ift. Befonders im Theologifchen
Jahresbericht (XVIII 1899 S. 132. 188) ift das Buch von
Siegfried und Holtzmann ziemlich kühl, von den
Kirchenhiftorikern überhaupt nicht behandelt worden, obwohl
ein grofser Theil feines Stoffes in ihr Gebiet gehört.

Ein Lob verdient das Buch fchon wegen feines
Themas, das allerdings nicht dem Verfaffer allein gehört,
fondern ihm von Bouffet nahe gelegt worden ift. Das
Thema Michael ift keines der landläufigen; es ift von
Wichtigkeit für die Gefchichte des religiöfen, befonders
des ,gottesdienftlichen' Lebens der Juden wie Chriften
und für die Entwickelung der Chriftologie; auch ift es an
fich intereffant genug. Zu diefem Thema hat nun L. mit an-
erkennenswerthem Fleifse eine Fülle von Stoff aus vielen
Jahrhunderten bis zum Mittelalter hin gefammelt. Und
wenn Dalman (L. C. 1899 N. 10) auch mit Recht darauf
aufmerkfam gemacht hat, dafs für das fpäte Judenthum
nicht immer nur Quellen erften Ranges benutzt worden
find — wie das nur natürlich ift bei einer fo ausgedehnten
Unterfuchung —, fo hat er doch auch den Satz gefchrieben:
,Es ift anzuerkennen, dafs die jüdifchen und chriftlichen
Ausfagen . . mitUmficht undSorgfalt aus zum Theil
weit entlegenen Quellen zufammengetragen find: Was
für intereffante Dinge in diefer Stofffammlung flehen, möge
man in dem Buche felbft nachlefen. Ich will nur einige
Ueberfchriften herausgreifen. Aus dem Cap. I, Michael

| in der Tradition des Judenthums, §2 Michael der
Engel des Volkes (Schützer Ifraels in der Gefchichte,
Vermittler des Gefetzes, bei der Einfetzung des Priefter-
thums, der Anv/alt Israels vor Gottes Richterthron, M.
und der Antichrift, als Befieger des Drachens u. a.) § 3 der
Hohepriefter Michael, § 4 Michael der Vornehmfte unter der
Engeln, § 5 Michael in der jüdifche Elschatologie (beim Ende
des einzelnen Menfchen, holt die Seele des Menfchen,
beftattet den Leichnam, als Wächter an den himmlifchen
Pforten, Fürfprache der Engel für die Toten, die Seelen
der Gerechten als Opfer des Hohenpriefters Michael u. f. w.)
§6 Michael als Naturengel (des Waffers, Schnees, Silbers;
Gabriel-Feuer, Gold; Glaube an Naturengel in Verbindung
mit aftronomifchen Vorftellungen). Parallele Vorftellungen
von Michael in der morgenländifchen Chriftenheit
werden im zweiten Capitel behandelt.

Eine Stofffammlung diefer Art ift fehr dankenswerth,
fie hat aber auch ihre grofsen Nachtheile, und zwar vor
allem zwei.

1. Es ift unmöglich eine wirklich gefchichtliche
Darftellung all diefer fich über Jahrhunderte und
zwei getrennte Cultuikreife erftreckenden Gedanken zu
geben. Vor allem vermag das ein Anfänger nicht, dem
die Kenntnifs der Kirchengefchichte wie des Judenthums
dazu fehlt. Die Sache liegt hier anders als bei Bouffet's
Antichrift, der aber auch fchon zu weit ausgedehnt ift;
denn Michael ift nicht nur wie der Antichrift eine Figur
der Speculation, fondern er ift eineGeftalt, die im kultifchen
Leben und fpäter vor allem in gewiffenLocalkulten eine Rolle
fpielt. So hat er denn eine wirkliche Gefchichte, der
eine folche Stofffammlung nach fyftematifchen Gefichts-
punkten unmöglich gerecht werden kann. In der That
fleht denn auch diefe Stofffammlung Lueken's nur im
Dienft gewiffer zu erweifender Thefen des Vfs., die auf

1 anderem Wege viel ficherer hätten bewiefen werden können.
Und das führt uns auf das Zweite.

2. Eine folche Stofffammlung zum Theil aus fpäten Jahrhunderten
dient nach der heutigen Anfchauung der Theologie
nicht zum Beweife für Hypothefen, die für eine viel
frühere Zeit aufgeftellt werden. Chriftliche oder jüdifche
Gedanken des 3.—8. Jahrhunderts beweifen gegenwärtig für
das NT nichts. Das wird zum Theil einmal anders werden,
wenn man die Bedeutung der Tradition höher zu fchätzen
lernen wird; viel wird fich mit Recht in diefer Hinficht nicht
ändern, weil zwar die jüdifche Tradition — allerdings nur
für unfere Kenntnifs der Dinge — fich gradlinig weiter
bewegt hat, die chriftliche aber feit der Mitte des 2. Jahrhunderts
endgültig auf einen anderen Culturboden übergetreten
ift, der fie wefentlich umgeftalten mufste. Religions-
gefchichtlicheUnterfuchungen follten befonders vorfichtig
diefer Thatfache Rechnung tragen und befonders forgfältig
in der Begründung fein. Blofse Aehnlichkeiten beweifen
noch nichts. Hätte Lueken mehr die Methode des Rück-
fchluffes aus dem vorliegenden chriftlichen und frühjüdifchen
Material angewandt, wie fie Gunkel in .Schöpfung und
Chaos' gehandhabt und auf S. 255ff. u. ö. befchrieben
hat, fo hätten feine Hauptergebnifse wohl mehr Eindruck
gemacht.

Diefe Hauptergebnifse faffen fich in drei Sätze zu-
fammen:

1. Das Judenthum bereits der erften chriftlichen
Jahrhunderte hat Engelverehrung oder mindeftens Gebet
an die Engel um ihre Fürbitte bei Gott geübt.

2. Engelverehrung oder wenigftens eine religiöfe
Stellung zu den Engeln hat auch die ältefte Chriftenheit
gehabt; und zwar haben die Engelanbetung nicht nur ,Irrlehrer
'geübt, fondern auch die fpäter ,katholifch' werdende
Chriftenheit der .gesunden Lehre'.

3. Die Chriftologie ift bereits feit der älteflen Zeit
durch angelologifche Vorftellungen beeinflufst worden.
Entweder wurde Jefu Ueberlegenheit über die Geifter-
mächte gezeichnet: Rm. 834; Phil. 2«—11 Satans Sturz, der